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Trotz (durchsichtiger) politischer Manöver Erdogans: In Istanbul haben sie schon wieder „falsch“ gewählt!

Turkey up in arms against Erdoğan!„… Imamoglu hat die Bürgermeisterwahl in Istanbul nach vorläufigen Ergebnissen deutlich vor seinem Gegner, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim, gewonnen. Imamoglu hatte schon die erste Bürgermeisterwahl am 31. März knapp gewonnen. Die Wahlkommission (YSK) annullierte das Ergebnis jedoch Anfang Mai wegen angeblicher Regelwidrigkeiten und gab damit einem Antrag von Erdogans AKP statt. Erdogan hatte von „Diebstahl an den Urnen“ gesprochen. Zuvor hatte bereits der Erdogan-Vertraute und AKP-Kandidat Yildirim seinem Kontrahenten zum Wahlsieg gratuliert. Das Ergebnis ist ein Rückschlag für Erdogan und seine regierende AKP. Nach der ersten Wahl im März hatte Imamoglu einen hauchdünnen Vorsprung von etwa 14.000 Stimmen. Der Abstand zwischen den beiden Kandidaten betrug nun nach Auszählung von 97,4 Prozent der Stimmen mehr als 730.000 Stimmen. Der Istanbuler Bürgermeisterposten ist der wichtigste im Land. In Istanbul leben mit rund 16 Millionen Menschen fast 20 Prozent aller Türken…“ – aus den Agenturmeldungen „Erdogan gratuliert Oppositionskandidat Imamoglu zum Sieg“ am 23. Juni 2019 hier bei Spiegel online externer Link – was einerseits sehr deutlich macht, dass es eine heftige Wahlniederlage war, mit einem Anwachsen des Vorsprungs um mehr als 700.000 Stimmen, andererseits aber „übersieht“, dass eben auch sehr viele Kurdinnen und Kurden in Istanbul leben, was Erdogan und seinen Verein ja zu diversen Versuchen motivierte, Spaltung zu produzieren. Siehe dazu auch eine Stellungnahme der HDP zu Erdogans versuchtem Spaltungsmanöver, eine Einordnung dieser Wahl in den gesellschaftlichen Prozess in der Türkei (damit auch niemand in die Versuchung kommt, das eindeutig „kleinere Übel“ für fortschrittlich zu halten) und eine linksgewerkschaftliche Stellungnahme:

  • „Demirtaş weist „Machtkampf“ zurück“ am 22. Juni 2019 bei der ANF externer Link über die Stellungnahme zu den AKP-lancierten Gerüchten eines „Machtkampfes“ zwischen Demirtas und Öcalan (beide in Haft): „… Nach der Veröffentlichung vermeintlicher Aussagen Abdullah Öcalans zur Politik der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Vorfeld der morgigen Bürgermeisterwahl in Istanbul ergingen sich der türkische Präsident Erdoğan und weitere Regierungspolitiker in Spekulationen über einen Machtkampf Öcalans mit dem ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş. Demirtaş, der seit Ende 2016 im Gefängnis ist, wies dieses gezielt gestreute Gerücht als „befremdlich“ zurück. Über Twitter rief er heute dazu auf, nicht auf derartige Manipulationen hereinzufallen. „Niemand sollte daran zweifeln, dass ich bei jeder Initiative Öcalans für Demokratisierung und Frieden an seiner Seite stehe und mich für ihren Erfolg einsetzen werde. Machtkämpfe und ähnliches sind für uns befremdliche Begriffe. Niemand sollte darauf hereinfallen. Ich halte es für angebracht mitzuteilen, dass wir bei einer solchen Polemik und derartigen Spielen nicht mitmachen.“…“
  • „Der permanente Urnengang“ von Max Zirngast am 18. Juni 2019 in analyse&kritik (Ausgabe 650) externer Link zur konkreten Ausgangslage bei dieser Wahl: „… Während also bestimmte Fraktionen, in erster Linie die Regime-Allianz, besonders in den Sicherheitsapparaten den Faschisierungsprozess vorantreiben und immer aggressiver gegen jede Form von Opposition vorgehen, formiert sich andererseits seit einiger Zeit ein Block der Restauration. Dieser Block forciert die Wiederherstellung gewisser rechtsstaatlicher Prinzipien, eine partielle gesellschaftliche Versöhnung und eine dem Kapital angepasste Wirtschaftspolitik, sowie eine vor allem mit dem westlichen Imperialismus abgestimmte Außenpolitik. Hinter dem Block steht seit dieser Wahl ganz offen der Wirtschaftsverband TÜSIAD, in dem das mit dem internationalen Kapital verzahnte Großkapital organisiert ist. Auch wenn sich die Kräfte der Restauration sehr demokratisch geben, geht es ihnen nicht um eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen der despotischen Republik Türkei, sondern um deren Wiederherstellung mit demokratischem Anstrich. So hört man auch von Imamoglu, der durch die letzten Wahlen zum politischen Sprachrohr des Restaurationsblocks aufgestiegen ist, keine Kritik am Präsidialsystem oder Forderungen nach einer neuen demokratischen Verfassung. Während Imamoglu momentan der klare politische Führer der Restauration ist, formierten sich auch andere Kräfte in den vergangenen Jahren. Etwa die von Meral Aksener angeführte MHP-Abspaltung IYI Parti (Gute Partei) sowie diverse AKP-Abtrünnige, wie der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoglu oder der mit dem internationalen Finanzkapital bestens vernetzte ehemalige Finanzminister Ali Babacan. Seit Jahren sollen sie angeblich dabei sein, neue Parteien zu gründen. Jetzt aber haben sie zum ersten Mal konkrete Schritte gemacht. Dieser breite, verschiedene politische und gesellschaftliche Lager umfassende nationale Block schließt jedoch – genauso wie das Regime – die kurdische Bewegung aus. Trotzdem hat die HDP (Demokratische Partei der Völker) resolut erklärt, gegen das Regime zu stehen und ihre Wähler*innen aufgerufen, eine »Stimme gegen den Faschismus« abzugeben. Ohne diese Unterstützung der HDP hätten Oppositionskandidat*innen niemals in Adana, Ankara, Antalya, Mersin oder Istanbul gewinnen können…“
  • „5 maddede 23 Haziran’ın İstanbul’u aşan sonuçları“ am 24. Juni 2019 bei Sendika.org externer Link ist eine erste Analyse des Wahlergebnisses in Istanbul in fünf Punkten. Dabei werden das gescheiterte Betrugsmanöver der Wiederholungswahl insgesamt ebenso herausgestellt, wie die Einheit der Opposition, die für diesen aktuellen politischen Erfolg nötig war. Es wird darin aber auch unterstrichen, dass zahlreiche soziale Versprechungen, die während des Wahlkampfes gemacht wurden, eingefordert werden müssen.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=150661
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