»
Türkei »
» »

Der Marsch für Gerechtigkeit in Istanbul – Massendemonstration (fast) der gesamten Opposition: Zeitenwende?

abschlusskundgebung_adalet_istanbul_9.7.17Dies sei nicht etwa das Ende einer Protestaktion, sondern der Beginn einer neuen politischen Konstellation, sagte der CHP-Vorsitzende bei seiner Rede auf der Kundgebung in Istanbul, an der sich der Pressemitteilung der CHP zufolge über eine Million Menschen beteiligten – in jedem Falle eine der größten Demonstrationen in der Türkei seit langer Zeit. Der Bericht „Huge crowd rallies in İstanbul after ‚justice march’“ am 09. Juli 2017 bei SoLInternational externer Link hebt hervor, dass dies eine massive und konsequent überparteiliche Aktion gewesen sei (eine Wertung, die deswegen interessant ist, weil die Betreiber der Seite dezidiert keine Fans dieses Marsches sind). Siehe dazu eine Reihe weiterer Beiträge, inklusive Fotodokumentation und Chronologie bei unseren Kollegen von Sendika.org:

„Org’un objektifinden Adalet Mitingi“ am 09. Juli 2017 bei Sendika.org externer Link ist eine ausführliche Fotodokumentation des Gerechtigkeitsmarsches in Istanbul und auch der Abschlusskundgebung, aus der auch die massive Beteiligung von Gewerkschaften, vor allem aus dem DISK Verband, deutlich wird, wie auch etwa die Teilnahme von UnterstützerInnen der beiden Hungerstreikenden Nuriye und Semihi.

„Milyonlar Maltepe’ye aktı: “Adalet arayışının tek yeri sokaktır!”“ ebenfalls am 09. Juli 2017 bei Sendika.org externer Link ist ein ausführliche Chronologie des letzten Tages des Marsches, die Sonntag 19 Uhr endet, aus der auch ohne Sprachkenntnisse deutlich wird, dass es wirklich zu einer Kundgebung der allermeisten oppositionellen Kräfte der Türkei geworden ist, inklsuive Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Jugendgruppierungen.

„Istanbul: Millionen demonstrieren für Gerechtigkeit“ von Gerrit Wustmann am 10. Juli 2017 bei telepolis externer Link, worin unterstrichen wird: „Der Protest wurde von Rechtsradikalen bedroht, die auf der Strecke Gülle auskippten. Erdogan, Ministerpräsident Binali Yildirim und MHP-Chef Devlet Bahceli versuchten vergeblich, die Aktion zu diskreditieren und in die Nähe von Terroristen zu rücken, was auch in den eigenen Reihen nicht gut ankam. Erdogan hat sich schlicht überschätzt. Jahrelang war er es gewohnt, überragende Wahlergebnisse einzufahren, eine große Mehrheit der Türken hinter sich zu wissen. Doch diese Zeiten sind vorbei, wie das Verfassungsreferendum im April deutlich gezeigt hat. Nur mit Manipulationen konnte er es knapp für sich entscheiden. Auch frühere Weggefährten und Mitgründer der AKP haben sich längst von dem Despoten abgewandt. Seine Pläne, zum neuen Hegemon in der islamischen Welt zu werden, sind krachend gescheitert. Er klammert sich an seinen letzten Verbündeten Katar und versucht, die zunehmende Isolierung seines Landes schönzureden, während er brachial gegen die Opposition vorgeht und zehntausende Menschen unter meist absurden Vorwürfen verhaften lässt. Erdogan hat wohl darauf gehofft, dass der fast einen Monat währende Protest von selbst versandet. Stattdessen wuchs er von Tag zu Tag an und zog immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Es gab nicht einen einzigen gewalttätigen Zwischenfall. Die Polizei hielt sich zurück. Sie begleitete die Demonstranten und räumte ihnen die Straßen frei. Erdogan war klar, dass er unmöglich mit Gewalt reagieren konnte. Nicht gegen ein demonstrativ friedlichen Bündnis, das von einer Partei angeführt wird, die mindestens ein Viertel der Wähler hinter sich hat“.

„Massenhafter Protest für Gerechtigkeit“ von Jan Keetmann am 10. Juli 2017 in neues deutschland externer Link, worin zu den Entwicklungen innerhalb der oppositionellen Kräfte (zu denen in Wirklichkeit die CHP bestenfalls seit diesem Marsch gezählt werden kann, ihre bisherige Haltung und ihre späte Mobilisierung waren immer wieder Gegenstand von Kritik, allerdings kein Grund, sich nicht an dem Marsch zu beteiligen) festgehalten wird: „Zuerst folgten ihm lediglich ein paar hundert Getreue. Doch mit der Zeit wurden es immer mehr, auf der vorletzten Etappe zählte die Polizei 230 000 Menschen. Mit einer riesigen Kundgebung in der Nähe eines Gefängnisses in Istanbul, die zu Redaktionsschluss noch andauerte, endete der Marsch am Sonntag. Auch die linke, prokurdische HDP – nach der CHP zweistärkste Oppositionskraft im Land – schloss sich dem Protest an. Doch das Misstrauen zwischen HDP und CHP sitzt auf beiden Seiten tief. Dass sich die HDP nun einfach einer von der CHP dominierten Oppositionsbewegung anschließt, ist kaum zu erwarten. In der linken Zeitung »Bir Gün« kritisierte der Soziologe Enver Aysever das Motto des Marsches. Der Begriff »Gerechtigkeit« könne ganz verschieden interpretiert werden, so Aysever. Trotzdem lief auch er ein Stück beim Gerechtigkeitsmarsch mit. Andere sehen in der Unbestimmtheit des Begriffes »Gerechtigkeit« gerade eine Chance für eine breite Bewegung gegen die AKP-Herrschaft. So zum Beispiel der Politikwissenschaftler Edgar Şar, der zu den vielen türkischen Akademikern gehört, die in den letzten Monaten entlassen wurden“.

„„Das hat mir wieder Mut gegeben“ von Jürgen Gottschlich am 06. Juli 2017 in der taz externer Link, worin von unterwegs berichtet wird: „Viele Teilnehmer tragen weiße Kappen und weiße T-Shirts, jeweils mit dem Aufdruck „Adalet“, Gerechtigkeit. Der Zug ist so lang, dass man ihn von keiner Stelle aus überblicken kann. Im hinteren Teil sind weniger Polizisten, man kann sich etwas freier bewegen. Drei junge Studenten sind erst an diesem Morgen dazu gestoßen und wollen jetzt bis Sonntag nach Istanbul mit marschieren. „Viel zu spät“ habe sich Kılıçdaroğlu aufgerafft, sagt einer, der Internationale Beziehungen studiert. „Die CHP hätte viel früher auf die Straße gehen müssen“. Diese Kritik am Chef der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, ist in der Türkei weit verbreitet. Kılıçdaroğlu, der „Gandhi“ der Türkei, galt bislang als zu schwach und zu milde, um dem aggressiven Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan etwas entgegensetzen zu können“ – aus dem, worin vor allem solche der rund 30.000 TeilnehmerInnen an dem Marsch zu Wort kommen, die nicht der CHP angehören.

„“Marsch der Gerechtigkeit“ erreicht Istanbul“ am 07. Juli 2017 in Spiegel-Online externer Link, worin unter anderem berichtet wird: „Das war vor drei Wochen. Inzwischen haben sich Tausende Menschen dem Marsch angeschlossen. Und: Die Demonstranten haben ihr Ziel Istanbul nach 23 Tagen und 420 Kilometern erreicht. Die Menschenmenge erstreckte sich über viele Kilometer am Ufer des Marmarameers. Der Protestzug soll am Sonntagnachmittag mit einer Großkundgebung im Istanbuler Stadtteil Maltepe zu Ende gehen. Der „Marsch der Gerechtigkeit“ gilt als wichtigste Geste des Widerstands in der Türkei seit den Gezi-Protesten 2013“, sowie „Rund 45.000 Menschen folgten Kilicdaroglu laut der CHP am Freitag. Als der Marsch ein Industriegebiet durchquerte, applaudierten viele Arbeiter von den Fenstern und Werkstoren den Demonstranten“.

„Der lange Marsch auf Istanbul“ von Can Dündar am 05. Juli 2017 bei Correct!TV externer Link, der daran erinnert: „Als Kılıçdaroğlu 2010 den Parteivorsitz übernahm, gab man ihm den Beinamen „Gandhi Kemal“. Sein Aussehen erinnert an Mahatma Gandhi – doch seine Führungsqualitäten waren weit entfernt von denen seines indischen Kollegen. Kılıçdaroğlu entstammt der Verwaltung, er trieb eine Mitte-Rechts-Annäherung voran, hielt sich von der Straße fern und sperrte die Opposition im Parlament ein. Seine Partei gewann nie mehr als 25 Prozent der Stimmen. Es war mit sein Verdienst, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum alternativlosen Staatschef wurde“.

„Erdogan wird bewusst, dass sein Abstieg begonnen hat“ von Gerrit Wustmann am 06. Juli 2017 bei telepolis externer Link, worin von Gesprächspartner Osman Okkan die These aufgestellt wird: „Er könnte etwas bewegen, er ist ein Startsignal für eine Opposition, die sich zuvor nicht erhoben hat. Er zeigt, dass friedlicher Protest möglich ist, das gibt auch für andere Gruppen neue Impulse. Selbst AKP-Anhänger gehen inzwischen auf Distanz zur eigenen Führung, die versucht, den Marsch als Unterstützung für Terroristen zu brandmarken. In den Reihen der AKP fängt man langsam an, Erdogans Mittel infrage zu stellen“.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=118623
nach oben