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Lira-Krise: Es ist nicht die „deutsche Wirtschaft“, die unter der explodierenden Teuerung in der Türkei leidet

Disk beim Generalstreik in der Türkei am 17.6.2013Dass die Erdogan-Sippe angesichts der Entwertung der türkischen Lira – die durch die Erpressungsmaßnahmen der USA nicht ausgelöst, sondern „nur“ beschleunigt wurde – ihrem üblichen Arsenal nichts Neues hinzuzufügen in der Lage ist, könnte für sie noch problematisch werden: Wie in der BRD auch, war die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten 15 Jahren einer der zentralen Gründe für die politische Vorherrschaft dieser faschistoiden Variante des radikalen Konservatismus. Aber, was da bisher angeboten wird, ist allzu leicht als unwirksam ersichtlich – denn die Währungsentwicklung ist auch von Hin- und Her geprägt, die Teuerung aber konstant. Während Erdogan selbst appelliert (wie üblich, an osmanisch beeinflussten Nazionalstolz – und da finden sich immer noch genügend Jubeltürken, um wenigstens kleinere Räume zu füllen) und droht (den Überbringern der Nachricht), gibt sein Finanzbeauftragter Schwiegersohn Plattitüden kund – über nicht näher definierte, anstehende Handlungen. Und es werden immer neue Investitions-Förderprogramme verabschiedet (worüber sich auch – einmal mehr – bundesdeutsche Unternehmen freuen dürfen). Dieweil die Menschen sehen können, wo sie bleiben: Für Beschäftigte und Erwerbslose sind lediglich neue Maßnahmen des Sozialabbaus vorgesehen. Zur Ursachen und Auswirkungen der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei einige aktuelle Beiträge und eine gewerkschaftliche Positionierung:

„Türkei ringt um Finanzstabilität“ von Kurt Stenger am 13. August 2018 in neues deutschland externer Link zur aktuellen Krise und Erdogans speziellem Vorgehen: „Eigentlich müsste die Zentralbank die Leitzinsen deutlich erhöhen, um gegen die grassierende Inflation vorzugehen, die zuletzt bei 15 Prozent lag. Die Teuerung ist auf steigende Importpreise zurückzuführen. Präsident Recep Tayyip Erdogan forderte jedoch erneut öffentlich, die Zinsen niedrig zu halten, was Beobachter als Eingriff in die Unabhängigkeit der Zentralbank ansehen und das Vertrauen in die türkische Wirtschaft weiter schwächt. Türkische Unternehmen und Banken haben den jahrelangen Aufschwung mit niedrig verzinsten Fremdwährungskrediten finanziert, deren Bedienung durch die teureren Devisen zunehmend schwierig wird. Erdogan appellierte jetzt an heimische Unternehmen, nicht Insolvenz anzumelden: »Wenn ihr das macht, begeht ihr einen Fehler!« Die türkische Justiz geht derweil gegen die Verbreitung von »Falschmeldungen« vor. Erdogan hatte die Türken aufgefordert, Devisenbestände in Lira zu wechseln, um die Währung zu stützen. Da dies kaum befolgt wird oder kaum Wirkung zeitigt, gibt es Spekulationen, die Regierung wolle Konten in ausländischer Währung in Lira umwandeln. Staatsanwälte ermitteln wegen Gefährdung der wirtschaftlichen Sicherheit gegen die Betreiber von 346 Konten in sozialen Medien…

„Türkei: Negativ-Kommentare zur Wirtschaft werden als Verrat bestraft“ von Elke Dangeleit am 14. August 2018 bei telepolis externer Link zum Terror gegen den Überbringer der Nachricht im System Erdogan: „Der türkischen Wirtschaft geht es gut, sagt der türkische Präsident. Und das haben die türkischen Medien auch so zu berichten und die Bürger haben das zu glauben, auch wenn sich die Kreditschulden bei spanischen, italienischen, französischen und deutschen Banken auf 145 Milliarden Dollar belaufen – ungefähr die gleiche Summe, die auch Griechenland ins Desaster stürzte. Weltweit sind es 225 Milliarden Dollar. Türkische Unternehmen forderte Erdogan auf, keinen Bankrott anzumelden, Industrielle sollen keine Fremdwährungen kaufen. Er drohte den inländischen Unternehmen mit Kapitalverkehrskontrollen, sollten sie seiner Aufforderung, keine Devisen aufzunehmen, nicht nachkommen. (…) Nach der Gleichschaltung der Printmedien sind seit dem Putschversuch zunehmend die sozialen Medien im Visier der Staatsanwälte. In der Türkei hat die AKP die Medienlandschaft weitgehend unter ihrer Kontrolle. Die Turkuvaz Media Gruppe des AKP-freundlichen Unternehmers Orhan Kemal Kalyoncu etwa gibt die Zeitung Sabah heraus und besitzt den Sender ATV. Der AKP-nahe Demirören-Konzern hat die Mediensparte der Dogan-Holding aufgekauft, die die Zeitung Hürriyet herausgibt und den Nachrichtensender CNN-Türk. Seitdem liest man in der ehemals liberalen Hürriyet nur noch das, was die Regierung zulässt. Der Regierungssprecher von Erdogan kündigte am Montag an, gegen negative Kommentare zur Wirtschaft in den Nachrichten und in sozialen Netzwerken vorzugehen. Seit vergangenem Dienstag ging das türkische Innenministerien gegen 346 Nutzerkonten auf sozialen Netzwerken vor, die den Verfall der Lira nicht regierungskonform kommentierten…

„Bewährungsprobe für das System Erdoğan“ von Christiane Schlötzer am 12. August 2018 in der SZ Online externer Link stimmt wenigstens nicht völlig in das allgemeine Lamento über Gefahren für die „deutsche Wirtschaft“ (oder auch die europäische) ein, sondern hebt einleitend hervor: „Die Türkei ist ein Land mit extremen sozialen Unterschieden. Wenn die Inflationsrate steigt, die Lira taumelt und die Preisschilder in den Supermärkten täglich neu geschrieben werden, dann können sich vor allem diejenigen, die schon wenig haben, immer weniger leisten. Die aktuelle Währungskrise macht die Armen noch ärmer. Aber sie wird auch die Reichen nicht lange verschonen, weil viele ihr Leben oder ihre Firma seit Langem auf Pump finanziert haben, mit günstigen Krediten in Euro und Dollar, die jetzt sündhaft teuer werden. Die Türkei ist auch ein krisenerfahrenes Land, und in der Not ist meist die Solidarität groß. Doch diese Krise wird das Land nicht einigen, sondern noch tiefer spalten. Denn nach dem Lira-Absturz am vergangenen schwarzen Freitag – dem tiefsten an einem einzigen Tag in 20 Jahren – steckt die Türkei nicht nur finanziell in der Klemme. Die Krise wird zur politischen Bewährungsprobe werden für das neue, ohnehin heftig umstrittene Präsidialsystem, das sich Recep Tayyip Erdoğan auf den Leib geschneidert hat…

„Erdogan wettert und droht den USA“ von Frank Nordhausen am 12. August 2018 in der FR Online externer Link mit zumindest Passagen zu den Auswirkungen auf die Menschen ohne Kapital in der Türkei: „Eigene Verantwortung für den dramatischen Absturz der Lira übernahm Erdogans Regierung nicht. Zumindest auf psychologische Unterstützung der Bevölkerung kann er zählen. Auch die Oppositionsparteien mit Ausnahme der prokurdischen HDP stützen seine harte Haltung. Doch die wirtschaftlichen Folgen der Konfrontation sind bereits zu spüren. Importe verteuern sich, Unternehmen mit Dollar- oder Euroschulden geraten in Schwierigkeiten. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg sind türkische Firmen mit rund 220 Milliarden Dollar verschuldet. Die linksnationalistische Zeitung „Aydinlik“ schrieb, der Liraverfall drücke zudem massiv auf den Kaufwert des Mindestlohns und zwinge Bürger bereits dazu, Brot mit Kreditkarten zu erwerben…

„Turkey’s capitalists receive huge amounts of incentives“ am 04. August 2018 bei SolInternational externer Link ist ein Beitrag über – jenseits des Palavers – tatsächlich getroffene Maßnahmen der türkischen Regierung. Die Auflage eines Großinvestitionsprogramms war schon länger angekündigt und wurde nach Beginn des Währungsabsturzes konkretisiert – 23 Großprojekte, die insgesamt, über verschiedene Methoden und Wege, von der Regierung mit rund 25 Milliarden Dollar gefördert werden. Zwar hatte Erdogan versprochen, Klein- und Mittelunternehmen besonders zu fördern, aber die Empfänger dieser Summen sind bei allem Bemühen nicht als „klein oder Mittel“ zu betrachten. Die kleine deutsche Firma Bosch ist beispielsweise ist darin mit 1,2 Milliarden Lira vertreten, wie der Wechselkurs auch immer aussehen wird, rund 150 Millionen Euro…

„Talfahrt in die Armut! von Irfan Aktan am 14. August 2018 in der taz externer Link ist ein Kommentar, der sowohl die Ursachen der aktuellen Krise, als auch die von den Auswirkungen Betroffenen unterstreicht: „Je weiter das Boot sinkt, umso mehr trifft es jene, die sich am untersten ökonomischen Rand der Gesellschaft befinden. Vor zwei Wochen kosteten 5 Kilo Tomatenmark, ein Grundnahrungsmittel in der Türkei, 18 Lira. Heute 48 Lira. Auch der Preis für Olivenöl hat sich verdoppelt. Nach Angaben des Arbeitsministeriums leben seit Dezember 2017 inzwischen 12 von 29 Millionen Arbeitnehmern mit einem monatlichen Einkommen zwischen 1.404 und 2.808 Lira (175 und 351 Euro). Je mehr die türkische Lira an Wert verliert, desto teurer werden importierte Waren und solche, die importierte Anteile haben. Ihr Preis steigt teilweise um das Dreifache. Diese Entwicklung treibt mindestens 12 Millionen Menschen noch weiter in die Armut – ganz zu schweigen von mehr als 3 Millionen Menschen, die keine Arbeit haben. Bisher konnte die AKP die arme Bevölkerung mit militaristischen oder religiösen Parolen gegen vermeintliche innere und äußere Feinde mobilisieren. Auch gegen den wirtschaftlichen Zusammenbruch bemühte Erdoğan seine altbewährte Rede vom Krieg und sprach davon, dass die Türkei vereint diesen „Wirtschaftskrieg“ gewinnen werde. Dabei ist der eigentliche Grund für die Krise Erdoğans eigene Wirtschaftspolitik…

„Deutschland auf Entspannungskurs“ am 15. August 2018 bei German Foreign Policy externer Link fasst – unter anderem – noch einmal die bundesdeutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen zusammen, um die sich der hiesige Journalismus so viel mehr Sorgen macht, als um die Lebensumstände in der Türkei: „Während Deutschland der wichtigste Handelspartner der Türkei ist, findet sich die kleinasiatische Volkswirtschaft in der deutschen Exportbilanz des Jahres 2017 erst auf Rang 16 – hinter Ungarn und der Russischen Föderation. Den deutschen Exporten, die rund 21,4 Milliarden Euro betrugen, stehen türkische Importe von 16,2 Milliarden Euro gegenüber; der deutsch-türkische Handel trägt somit zum hohen türkischen Leistungsbilanzdefizit von rund 6,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik hat im Jahr 2017 insgesamt Waren im Wert von 1.278 Milliarden Euro exportiert. Laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag(DIHK) sind rund 6.500 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv, die dort 120.000 Lohnabhängige für sich arbeiten lassen.[10] In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sanken die deutschen Ausfuhren an den Bosporus krisenbedingt bereits um 4,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum; doch selbst eine schwere Wirtschaftskrise, die die deutschen Exporte in die Türkei um 20 Prozent kollabieren ließe, würde nicht unmittelbar zu einem konjunkturellen Einbruch in der Bundesrepublik führen: Das Wachstum in Deutschland ginge in einem solchen Fall nur um 0,1 Prozent zurück…

„DİSK: Krizi yüzde 1 yarattı, bedelini yüzde 99 ödemeyecek!“ am 13. August 2018 bei sendika.org externer Link ist eine kommentierte Dokumentation einer Stellungnahme der Generalsekretärin des Gewerkschaftsbundes DISK, die nachdrücklich unterstreicht, dass die aktuelle Krise eine interne sei, die von dem System der 1% der Bevölkerung gemacht sei, und dass die 99%, die darunter leiden, diese Krise nicht bezahlen wollen, können, dürfen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=136071
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