»
Türkei »
»

Kommunalwahlen in der Türkei – AKP macht Wahlkampf: Schauprozesse wegen Gezi Park, Massenverhaftungen von OppositionspolitikerInnen, Tomaten verkaufen, Auslandspresse nicht zulassen. Dafür gibt es von der EU: 275 Millionen

occupygeziStellen Sie sich vor, dass als Verantwortliche der Ereignisse von 1968 genau 16 Menschen festgenommen worden wären. Oder dass fünf bis zehn Leute für den Arabischen Frühling büßen müssten. Dass drei bis fünf Personen in Untersuchungshaft genommen würden, mit dem Vorwurf, sie hätten den „Occupy Wall Street“-Protest organisiert. So sieht es nämlich bei uns jetzt aus… Beim Gezi-Aufstand im Jahr 2013 gingen Millionen von Menschen aus Protest gegen die Erdoğan-Regierung auf die Straßen. Die Schuld daran wird nun 16 Personen in die Schuhe geschoben. Einer von diesen Menschen bin ich. Für uns alle wird eine erschwerte lebenslange Haftstrafe gefordert. Der Staatsanwalt hatte die Anschuldigungen gegen uns bereits Wochen zuvor den Zeitungen Erdoğans zugesteckt. Wir konnten die Anklageschrift von 657 Seiten erst gestern in die Hand bekommen. 16 Monaten hat die Staatsgewalt dran gearbeitet. Und nun erfahren wir, was unsere „Schuld“ ist: „Der Versuch, die Regierung zu stürzen… Der Versuch, das Gezi ,Wagnis‘ beginnen zu lassen und zu lenken…“ In der Anklageschrift heißt es, dass während der Proteste eine Vielzahl an Arbeitsplätzen, Polizeiautos und Gebäuden beschädigt wurde. Das stimmt. Aber dort wurden auch 12 Menschen getötet, die meisten davon durch Polizeikugeln. War ihr Leben nicht so viel wert wie ein Polizeiauto? Außerdem, wieso wird das Verfahren erst heute eröffnet – sechs Jahre nach den Protesten?...“ – aus dem Beitrag „Die Gezi-Anklageschrift und das Elend der Justiz“ von Can Dündar am 05. März 2019 bei Ozguruz externer Link, worin die eigentlich lächerlichen Beschuldigungen – wenn sie nicht von einer machthabenden Clique kämen – konkret auseinander gepflückt werden. Zur Art der Wahlkampfführung der AKP eine Materialsammlung mit einigen aktuellen und Hintergrundbeiträgen:

„Gezi Parkı soruşturmasında savcı, 16 kişi hakkında ağırlaştırılmış müebbet hapis cezası istedi“ am 20. Februar 2019 bei sendika.org externer Link war die erste Meldung über die Anklageerhebung zum Schauprozess wegen der Gezi Park-Proteste – worin unter anderem darauf verwiesen wird, dass die „Vorgabe“ bereits mit der Langzeit-Untersuchungshaft des Häftlings Osman Kavala gemacht worden sei – und die Namen der 16 genannt werden, die dafür verantwortlich sein („Terroristen“ – mindestens!) sollen, dass Erdogans Geschäfte nicht so liefen, wie geplant…

„Anklage gegen Kavala: „Gezi-Verfahren“ am 24. Juni“ am 05. März 2019 bei der ANF externer Link meldet: „Nachdem am Montag die Anklage gegen den renommierten Kulturmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala und 15 Mitangeklagte von einem türkischen Gericht zugelassen wurde, steht nun auch das Datum für die erste Verhandlung fest. Medienberichten zufolge wird der Prozess am 24. Juni vor der 30. Strafgerichtskammer in Istanbul eröffnet. Die Staatsanwaltschaft wirft Kavala und den Mitangeklagten unter anderem „einen Versuch zum Sturz der Regierung“ und die Finanzierung der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 vor. Ihnen droht eine lebenslange Haftstrafe. Der Kulturstifter Kavala sitzt seit Oktober 2017 im Hochsicherheitsgefängnis Silivri in Untersuchungshaft…“

„Lebenslang für Gezi-Protest“ von Jürgen Gottschlich am 21. Februar 2019 in der taz externer Link hebt unter anderem dazu hervor: „Lebenslange erschwerte Haft. Das fordert der Istanbuler Generalstaatsanwalt für 16 prominente Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, die führend an den Gezi-Protesten im Sommer 2013 beteiligt gewesen sein sollen. Der im In- und Ausland bekannteste Angeklagte ist der Istanbuler Kulturmäzen Osman Kavala, der schon seit fast 500 Tagen in Untersuchungshaft sitzt. Neben Kavala werden die ehemalige Sprecherin der Bürgerinitiative für den Erhalt des Gezi-Parks Mücella Yapıcı und der Schauspieler Memet Ali Alabora sowie dessen Ehefrau angeklagt. Unter den Angeklagten ist auch der Journalist und frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar, gegen den nach Angaben seines Anwalts noch weitere fünf Strafverfahren laufen…“

„Nach der Wahl ist vor der Zwangsverwaltung“ von Rosa Burç und Kerem Schamberger am 04. Januar 2019 bei der Rosa Luxemburg-Stiftung externer Link zu den vorweg genommenen Wahlergebnissen: „Die derzeitige Repression trifft nicht nur die Frauen. Seit Wochen werden reihenweise mögliche Gegenkandidat*innen inhaftiert. Hunderte Mitglieder der HDP wurden allein seit September 2018 fest genommen. Seit 2016 sind es insgesamt mehr als 15.000 HDP- und DBP-Aktivist*innen gewesen. Die DBP ist wichtig für die Kommunalwahlen im März 2019. Sie ist die kurdische Komponente innerhalb der Bündnispartei HDP und vor allem im Südosten des Landes stark, unter anderem auch, weil sie sich für die Demokratisierung auf kommunaler Ebene einsetzt. In einem stark zentralisierten Staat wie der Türkei stellt diese Form der Politik ein Novum dar. Sie ist jedoch integraler Bestandteil des Politikverständnisses der HDP: Selbstbestimmung durch Dezentralisierung. Erdoğan lässt allerdings keine Zweifel aufkommen, dass auch dieses Mal ein demokratischer Ausgang der Wahl keine Option ist. So sagte er bereits Anfang Oktober: «Wer bei diesen Wahlen gewählt wird und sich mit dem Terror eingelassen hat, den werden wir wieder durch Statthalter ersetzen. (…) Die von der spalterischen Terrororganisation abhängige HDP können wir sowieso nicht als legitimen Akteur betrachten, so lange sie ihre Verbindungen zu dieser Organisation nicht abbricht.» Die Ankündigung ist klar: die seit 2016 anhaltende Politik der Absetzung gewählter kurdischer Kommunalpolitiker*innen und ihre Ersetzung durch Beamte von Ankaras Gnaden wird fortgeführt. Mehr als 90 von 103 im März 2014 gewählten Bürgermeister*innen wurden abgesetzt und größtenteils inhaftiert. Auf den Kandidatenlisten der AKP für die kommenden Kommunalwahlen stehen viele der in den vergangenen zwei Jahren eingesetzten Zwangsverwalter. Einer von ihnen ist Cumali Atilla in Diyarbakır, der seit November 2016 auf dem Sitz des Bürgermeisters Platz genommen hat. Seine gewählte Vorgängerin, Gülten Kisanak, sitzt seitdem im Gefängnis. Um zu verhindern, dass die meisten ihrer Kandidat*innen im Vorfeld der März-Wahlen inhaftiert werden, hat die HDP bisher noch nicht bekannt gegeben, wer für sie an den Start gehen wird. Eine Nennung auf den vordersten Listenplätzen dürfte, nach der Ankündigung Erdoğans, einem sicheren Platz im Gefängnis gleichkommen…“

„Wahlen im Schatten der Wirtschaftskrise“ von Ümit Akçay Anfang März 2019 bei der Rosa Luxemburg-Stiftung externer Link zu den Wahlaussichten in der Krise: „Es wird erwartet, dass die dritte Phase der Wirtschaftskrise 2018-2019 im Anschluss an die Kommunalwahlen vom 31. März 2019 beginnen wird. Dann wird möglicherweise eine Umsetzung der aufgrund der Wahlen hinausgezögerten Austeritätsmaßnahmen auf der Tagesordnung stehen. Mit Erholung und Wachstum der Wirtschaft ist daher bis Jahresende 2019 kaum zu rechnen. Die liberale Perspektive, die in den Reihen der republikanischen Opposition in der Türkei dominiert, führt derweil in eine ernsthafte Sackgasse. So vertritt man in der stärksten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), die Meinung, dass eine Rückkehr zum parlamentarischen System und die Bildung einer Regierung, die das Vertrauen internationaler Investor*innen genießt, zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme der Türkei ausreichen würden. Die liberale Opposition von heute präsentiert sich als Verfechterin des IWF-Programms, das die AKP bereits in ihrer ersten Legislaturperiode implementiert hat. Mit Unterstützung für dieses Programm aus der Arbeiter*innenklasse und aus ökonomisch schwächeren Gesellschaftsschichten ist sicher nicht zu rechnen. Für die linke Opposition gilt es herauszufinden, mittels welcher politischen Ausrichtung die Türkei in politischer Hinsicht von dem Autoritarismus der AKP sowie auch in wirtschaftlicher Hinsicht von dem im IWF-Programm wurzelnden Marktautoritarismus gerettet werden kann. Derzeit sieht es so aus, als könne einzig eine Strategie, die den Freiheitskampf gegen politischen Autoritarismus und den gegen den Marktautoritarismus zu führenden Kampf um Gleichheit zu vereinen weiß, einen Weg aus der Krise weisen…“

„Die letzte Tomate gehört dem türkischen Volk“ von Bülent Mumay am 22. Februar 2019 bei Qantara.de externer Link zum „Umgang“ der Erdogan-Leute mit der aktuellen kapitalistischen Krise der Türkei unter anderem: „Die Regierung kennt den Einfluss der Wirtschaft auf das Wählerverhalten genau. Die Preise konnte sie nicht ändern, also bemüht sie sich nun, die Wahrnehmung zu ändern. Ihre Waffe, pardon, ihre Munition ist einmal mehr der Nationalismus. „Jetzt klammern sie sich an Tomaten und Paprika. Sie reden darüber, weil sie hoffen, damit Stimmen sammeln zu können. Haben unsere Soldaten in Idlib und Dscharabulus mit Panzern und Kanonen die Terroristen geschlagen? Ich frage die Kartoffel- und Tomatenhändler: Kennt ihr den Preis für diese Munition?“ Damit wollte Erdoğan sagen, mit unserer Wirtschaft ist es so weit gekommen, weil wir gezwungen sind, Geld für Munition abzuzweigen. Obwohl vor der Wirtschaftskrise kein neuer Krieg, kein neues Gefecht ausgebrochen war, behauptet er, alles sei teurer geworden, weil wir Ausgaben machen mussten, um unsere Ressourcen zu verteidigen. Erdoğan hat begriffen, dass auch Propaganda nur bis zu einem gewissen Punkt wirksam ist. Nach dem nationalistischen Diskurs war er zum Handeln gezwungen. Unser Präsident hatte die Preise in den Geschäften nicht drücken können, da begann er, Obst und Gemüse günstig von staatlicher Hand verkaufen zu lassen. Kilometerlange Schlangen bilden sich vor den Fahrzeugen, die auf den städtischen Plätzen vorfuhren. Nachdem dieselben, die sagen, alles sei teuer, weil wir Geld für Munition ausgeben müssen, die einzige Panzerfabrik der Türkei an die Qatarer verscherbelt hatten, bauten sie eine ambulante Gemüsehändlerkette auf. Brücken und Autobahnen werden von dem Palast nahestehenden Unternehmen verwaltet, unser Staat aber verkauft jetzt Gurken und Tomaten…

„Gemüsehändler Erdogan“ von Yücel Özdemir am 21. Februar 2019 in neues Deutschland externer Link zum Kampf gegen die Inflation – bis auf die letzte Tomate: „Vor zwei Wochen berichtete ich an dieser Stelle schon einmal über den exorbitanten Anstieg der Gemüsepreise in der Türkei. Seitdem ist viel passiert. Präsident Erdogan und seine Regierung, als Vertreter des Neoliberalismus verantwortlich für immense Privatisierungsprogramme, schlagen nun wegen der Gemüsepreise einen »etatistischen« Kurs ein. Seit dem 11. Februar kauft der Staat nämlich selbst das Gemüse bei den Produzenten, um es dann in Istanbul und Ankara direkt an die Verbraucher weiterzuverkaufen. »Regulierungsverkauf« heißt das. Laut dem Institut für die türkische Sprache TDK bedeutet »Regulierung«, etwas einzusortieren, zu justieren, auf den richtigen Weg und in Ordnung zu bringen. Seit dem »Regulierungsbeschluss« der Regierung wurde in Istanbul an 50 und in Ankara an 15 Orten damit begonnen, aus Autos der Stadtverwaltung günstiges Gemüse zu verkaufen. Paprika, die auf dem normalen Markt 15 bis 16 Lira pro Kilo kosten werden für sechs Lira verkauft, Tomaten und Gurken für ein Drittel des Marktpreises, und auch Zwiebel und Kartoffeln kosten nur zwei statt fünf bis sechs Lira. Unklar ist allerdings, ob die Bauern ihre Produkte wirklich billig verkaufen oder ob die Preissenkung durch Subventionen ermöglicht wurde. Viele sind der Überzeugung, dass die Stadtverwaltungen für den Preisunterschied zahlen. Für die Bürger ist das jedoch letztlich nicht so wichtig. Was zählt, ist günstiges Gemüse. Die Bevölkerung, die es satt hatte, wochenlang teures Gemüse zu kaufen, strömte zu den Regulierungsverkaufsstellen…“

„Kritische Berichterstattung ist in der Türkei unerwünscht“ von Elke Dangeleit am 04. März 2019 bei telepolis externer Link zu jüngsten Attacken der AKP-Riege auf gar nicht arg kritische Journalisten – und wer dabei wieder einmal „mitmacht“: „Nachdem fast alle kritischen Journalisten aus der Türkei entweder im Gefängnis oder im Exil in Europa sind, will man nun auch keine ausländischen Journalisten mehr haben. Mehreren deutschen Journalisten wurde ohne Begründung die Akkreditierung verweigert und damit der für ihre Arbeit notwendige Presseausweis. Über 50 Auslandskorrespondenten aus ganz Europa warten noch auf ihre Akkreditierung, darunter auch Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung oder des britischen BBC. Vergangenen Donnerstag kam es nun in der Türkei zu einem weiteren denkwürdigen Vorgang: Der Vize-Präsident der EU-Kommission, Jyrki Katainen kündigte auf einer Pressekonferenz zusammen mit dem türkischen Finanzminister und Erdogan-Schwiegersohn Berat Albayrak ein neues EU-Hilfspaket in Höhe von 275 Millionen Dollar für ein türkisches Eisenbahnprojekt an. Während er Gelder der europäischen Steuerzahler verteilte, nahm Katainen hin, dass mehreren europäischen Korrespondenten wegen verweigerter Akkreditierung und Presseausweisen der Zugang zu dieser Pressekonferenz verweigert wurde…“

„Von HADEP zur HDP – 20 Jahre Kommunalverwaltung“ am 04. März 2019 bei der ANF externer Link erläutert einen der entscheidenden Gründe, weswegen die AKP keine freie Wahl zulassen kann: „Für die Kurden bedeuteten die Parlaments- und Kommunalwahlen am 18. April 1999 einen Wendepunkt. Zwar gab es vor 1980 bereits vereinzelte Erfahrungen in der Kommunalverwaltung, aber vor zwanzig Jahren gewann die inzwischen verbotene HADEP die Wahlen in 37 Orten. Die Anzahl der kurdischen Kommunalverwaltungen hat seitdem ständig zugenommen. 2004 waren es 56, 2009 bereits 99 und 2014 102. Die Wahlen im April 1999 fanden nur zwei Monate nach der Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus Kenia in die Türkei statt. Die antikurdische Repression war intensiv. HADEP-Mitglieder wurden verhaftet, kurdische Städte wurden belagert, selbst Newroz und jede legale Aktivität oder Veranstaltung wurde verboten. In dieser Zeit wurden über 3000 HADEP-Mitglieder festgenommen, ein bedeutender Teil des Parteivorstands wurde verhaftet. Unter diesen Voraussetzungen startete die HADEP am 4. April 1999 mit einer Auftaktkundgebung in Mersin in den Wahlkampf, der mit den inhaftierten Vorstandsmitgliedern im Gefängnis Güdül abgestimmt wurde. Die Wahlkampftour in zehn Tagen durch 15 Städte wurde von Festnahmen, Verhaftungen und weiteren Hindernissen begleitet. Zur Wahl traten 21 Parteien an, DSP, ANAP und MHP bildeten die Regierungskoalition. Die HADEP scheiterte bei den Parlamentswahlen trotz anderthalb Millionen Stimmen an der Wahlhürde. Die errungenen 34 Mandate wurden auf die anderen Parteien aufgeteilt. Bei den Kommunalwahlen gewann die HADEP in 34 Orten, darunter die Großstadtverwaltung von Amed (Diyarbakir) und die Provinzzentren von Agirî (Ağrı), Êlih (Batman), Çewlîg (Bingöl), Colemêrg (Hakkari) und Sêrt (Siirt). Erstmalig wurden in Kurdistan Frauen als Bürgermeisterinnen gewählt. In der Bevölkerung herrschte Enthusiasmus, als die Kommunalverwaltungen übernommen wurden. Die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister mussten jedoch feststellen, dass ihnen ein Trümmerhaufen hinterlassen worden war…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=145261
nach oben