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Erdogan hat gewonnen. Sagt er. Schon bevor jemand gezählt hatte: Auch die unversiegelten Urnen…

Wahlplakat der Neinkampagne in der Türkei, April 2016Während der Mann, der dieses Referendum gewinnen muss, weil sonst er und sein Verein politisch am Ende sind, jenen Teil der Bevölkerung, der für ihn gestimmt hatte, pries – die Dörfer des Landes vor allem – fanden in den Städten in der Nacht große Protestdemonstrationen statt.  Selbst in seinem „Heimspiel“ Istanbul hat er trotz aller Zählkünste verloren, in Ankara und Izmir sowieso. Die ersten Proteste galten keineswegs zufällig der Wahlkommission: Nicht nur die Bedingungen der Abstimmung, also Krieg und Repression wurden kritisiert, sondern auch die Auszählung. Mit der Demokratie in der Türkei war es nicht erst nach dem Putschversuch im Juli 2016 nicht sehr weit her – was aber auch für viele andere Länder gilt. Und die knappe Mehrheit, die angeblich oder auch tatsächlich für ihn gestimmt hat, kann das nicht getan haben, wie es noch vor einiger Zeit war, wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs, der ist dahin. Für alle, die mit Ja gestimmt haben, weil sie eine starke Türkei wollen oder ein islamisiertes Land, gilt das alte Dichterwort: „Vaterland! Welch großes Wort – viele haben Reden gehalten. Noch mehr sind gestorben“. Unsere knappe aktuelle Materialsammlung „Hayir bleibt!“ vom 17. April 2017:

„Hayir bleibt!“

„Turkey’s Supreme Election Board says unsealed ballot papers accepted in vote“ am 16. April 2017 bei Hürriyet Daily News externer Link ist die Meldung über die Verkündung der obersten Wahlbehörde YSK, dass unversiegelte Wahlurnen mitgezählt werden können – eine Entscheidung, die nicht nur für die zahlreichen Beschwerdeführer ein Schlag ins Gesicht ist, deren Zahl so hoch war, dass dieses selbstentlarvende Statement überhaupt erst nötig wurde…

„Erdogan: „Historische Entscheidung““ von Florian Rötzer am 16. April 2017 bei telepolis externer Link fasst die Bewertung des Ergebnisses so zusammen: „So knapp der Wahlausgang erscheinen mag, immerhin hat das Ja-Lager über eine Million Stimmen mehr als das Nein-Lager. Der Sieg, den Erdogan ausruft und mit er das gewünschte Präsidialsystem einführen kann, ist gleichzeitig Ausdruck eines zerrissenen Landes. Erdogan reklamiert, es sei das erste Mal, dass eine Zivilregierung die Verfassung ändert, was ein geschichtlicher Erfolg sei. Dem fügte er hinzu, nun möglichst auch bald die Todesstrafe wieder einführen zu wollen, was die Nation weiter spalten dürfte.  Regierungschef Yildirim versucht die nationale Einheit zu beschwören. Alle, die abgestimmt haben, seien auf dieselbe Weise wertvoll: „Es gibt keinen Verlierer bei diesem Referendum. Die Türkei ist die Gewinnerin, die geliebte Nation ist die Gewinnerin.“ Die Beschwörung der nationalen Einheit verband er auch wieder mit dem Druck von außen: „Unsere Nation hat seine Entscheidung getroffen und die Präsidialregierung anerkannt. Dieses Land, diese Nation hat wieder einmal gezeigt, dass es sich niemals einer Vormundschaft oder einer Intervention von außen beugen wird.“ Die Nation habe mit der Zustimmung zum Präsidialsystem „die beste Antwort auf die äußeren, der Türkei feindlichen Kräfte gezeigt, der separatistischen Organisation und der Terrororganisation, die den Putschversuch am 15. Juli ausführte„.

„Der selbsterklärte Sieg“ von Jürgen Gottschlich am 16. April 2017 in der taz externer Link meint sehr einfach: „In keiner bisherigen Wahl hat Erdoğan in Istanbul und Ankara verloren. Beide Metropolen werden seit langem von der AKP regiert. Selbst bei den Kommunalwahlen ein halbes Jahr nach dem Gezi-Aufstand in Istanbul, konnte die AKP in der wichtigsten türkischen Stadt gewinnen. Dieses Mal nicht. Dieses Mal hat sich gezeigt, dass die entwickelte Türkei den Erdoğankurs nicht mehr will. Die Bewohner der Metropolen wollen weder eine Präsidialdiktatur noch den Bruch mit dem Westen, den Erdoğan angedroht hat

„Pyrrhus-Sieg für Erdogan“ von Frank Nordhausen am 16. April 2017 in der FR-Online externer Link hebt das ausländische Kapital hervor: „Deshalb bleibt die Frage, wie gestärkt der Präsident aus dem Referendum hervorgeht. Es ist zu befürchten, dass er die Schrauben der Repression jetzt noch mehr anziehen wird und noch mehr Gewalt provoziert. Das aber ist Gift für die Wirtschaft, die Stabilität braucht, um die dringend benötigten Investitionen aus dem Ausland zu erhalten. Insofern erscheint der Ausgang des Referendums als Pyrrhus-Sieg, bei dem alle verlieren: Erdogan, die Türkei und ihre Menschen

„İstanbul sokaklarında şaibeli sonuçlara öfke: #HayırDahaBitmedi“ am 17. April 2017 bei sendika.org externer Link hebt weder ausländisches Kapital noch städtische „Eliten“ hervor, sondern den Protest, der die ganze Nacht massiv in Istanbul stattfand – eine Sammlung kurzer Videos von Protesten in verschiedenen Teilen der Stadt, auch ohne Sprachkenntnis deutlich, bei unseren KollegInne

„İzmir’de halk “hayır”a sahip çıktı“ ebenfalls am 17. April 2017 bei sendika.org externer Link ist ein gleich gearteter Überblick über die lange Nacht des Protests in Izmir, der Großstadt in der Türkei, die sozusagen traditionell gegen Erdogan stimmt – auch hier sind einige Kurzvideos zusammengestellt worden, die die Breite des Protestes deutlich machen

„Police attack ppl gathered before hq of Supreme Electoral Council“ am 16. April 2017 beim Twitter-Kanal  Isyandan externer Link ist ein Kurzbericht über den Polizeiangriff auf die Menschenmenge, die vor der Obersten Wahlkommission demonstriert haben, wegen derer (keineswegs unerwarteter, der dunkle Verein ist ja bekannt) Entscheidung, alle Urnen könnten mitgezählt werden – was kümmert diese Truppe schon ein Siegel oder keines, oder zwei, oder was auch immer, Hauptsache, das Ergebnis stimmt…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=114938
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