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Die Reaktionen auf Erdogans behaupteten Wahlerfolg gehen weiter: Zehntausende protestieren, Unternehmerverbände fordern nationale Einheit

Wahlplakat der Neinkampagne in der Türkei, April 2016Während immer mehr Details bekannt werden darüber, wie die AKP ihren sogenannten Wahlkampf geführt hat, werden auch die Reaktionen auf das proklamierte Ergebnis immer klarer. In den großen Städten der Türkei gab es auch in der zweiten Nacht nach dem Referendum massive Proteste und Widerstand gegen den selbsterklärten Wahlerfolg. Während dessen ruft – und dies könnte auch für manchen „Ja“-Wähler ein Horrortrip werden – der Unternehmerverband TÜSIAD zur nationalen Einheit für das anstehende Reformprogramm auf, das dazu führen müsse, dass Investoren ein besseres Sicherheitsgefühl bekämen. Wen – aus diesen Kreisen – interessiert es schon, dass von freier Wahl keine Rede sein kann: Bürgermeister, die kommunalen Beschäftigten Entlassung androhen, wenn sie mit „Nein!“ stimmen, Menschen, die verhaftet werden, weil sie gefilmt haben, wie Wahlumschläge manipuliert werden – der Katalog der Maßnahmen zur Einschüchterung und Verfälschung ist groß. Was nicht nur das türkische Kapital nicht interessiert, sondern auch die Regierungen in Berlin und Washington nicht… Siehe dazu eine aktuelle Sammlung von Beiträgen:

„Türkei: Opposition will gegen Wahlfälschung klagen“ von Gerrit Wustmann am 18. April 2017 bei telepolis externer Link, worin unter anderem darüber informiert wird: „Aber die Nein-Wähler fallen nicht ein in die kollektive Begeisterung. Am Montagabend zogen tausende Menschen auf Demonstrationszügen durch mehrere Städte, darunter Istanbul, Eskisehir und die Hauptstadt Ankara (Bereits am Wahlabend hatte es Proteste gegeben, in Izmir wurden vier Personen festgenommen. Sie skandierten unter anderem den Slogan „Nein! Wir haben gewonnen!“ und forderten, die Wahl müsse für ungültig erklärt werden. Dieser Forderung schloss sich CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu an. Die Partei will vor dem türkischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Wahlentscheidung klagen.  Die CHP und die oppositionelle HDP werfen der Wahlkommission YSK Manipulation vor. Die Kommission hatte auf Druck der AKP noch während der Auszählung der Stimmen entschieden, dass auch ungestempelte Wahlumschläge als gültig anerkannt würden. Das ist ein Verstoß gegen das türkische Wahlrecht. Oppositionsquellen zufolge sollen bis zu 2,5 Millionen mit Ja gestempelte Wahlzettel betroffen sein…

„Wahlbetrug & Nach dem Referendum ist vor dem Referendum!“ am 18. April 2017 bei freie sicht externer Link hebt hervor: „Wenn sich die erste Euphorie  gelegt hat, werden die Widersprüche der Herrschenden sichtbar werden und so einfach wie in der Vergangenheit wird es nicht mehr sein. Wenn die Hoffnungen der Ja-Sager wie Seifenblasen zerplatzt sind und sie in der Realität angekommen sind, dann wird sich ihr Unmut zeigen. Ich glaube nicht, dass Erdogan dann noch ruhig schlafen kann, vielleicht kann er es schon jetzt nicht mehr. Der Druck auf ihn wird täglich größer. Dass er niemandem traut und den „Einzigen“ spielt, wird ihn zu weiteren Fehlern verleiten und noch mehr isolieren. Und das wird dazu führen, dass er das tut, was er in solchen Situationen immer tut: angreifen! Wir werden weiterhin die Stellung halten müssen, die Solidarität unserer Völker organisieren und sie zum Weitermachen ermutigen. Trotz der geänderten Bedingungen, dem knapp verlorenen Referendum, gibt es Hoffnung. Wir werden dort weiter machen, wo wir vor dem Referendum waren…

„Wir unterstützen den Widerstand gegen die Ein-Mann-Diktatur weiter“ am 17. April 2017 bei der DIDF externer Link ist eine Erklärung zum fragwürdigen Ergebnis, in der unterstrichen wird: „Dabei konnten sie trotz der Verhaftungswelle gegen kurdische Politiker und die gesamte Opposition, der Mobilisierung sämtlicher staatlicher Möglichkeiten im Wahlkampf unter den ungleichen Bedingungen des Ausnahmezustands und trotz der Manipulationen beim Referendum ihr Ziel von 60 Prozent Zustimmung nicht erreichen. Insbesondere in großen Industriestädten sprachen sich die Wahlberechtigten mit großer Mehrheit gegen die Verfassungsänderung aus. Ohne die fragwürdige Entscheidung der Obersten Wahlkommission, trotz der anderslautenden Gesetzeslage nicht verifizierte Stimmzettel für gültig zu erklären, hätten Erdogan & Co. das vorliegende Ergebnis nicht erreicht. Die Gegner der Verfassungsänderung wollen das Ergebnis anfechten und sehen sich ermutigt, den Kampf für Demokratie in der Türkei verstärkt fortzusetzen. Den gestrigen Tag sehen sie nicht als einen Tag der Niederlage, sondern als Anlass für einen stärkeren Kampf gegen die Einführung einer Präsidialdiktatur. Bereits am Abend des Referendums gingen Zehntausende landesweit auf die Straßen, um gegen den Wahlbetrug zu protestieren…

„Gedanken zum Türkei-Referendum“ am 17. April 2017 bei linksunten.indymedia externer Link kommentiert vor allem eine pro Erdogan TV-Wahlshow (natürlich – es konnte nicht anders sein – bei der Megamüllmaschine FOX, weltweite Nummer 1 der Produktion von Fake News) mit folgenden Bemerkungen: „Auch tauchten im Laufe des Tages Videos auf, die belegen wie AKP-Anhänger im Stau stehenden Autofahrern den Urnengang erleichtern wollten, indem sie sie die Wahlzettel gleich vor Ort vom Auto aus ausfüllen ließen. Ein Schelm wer dabei böses denkt. Hierzu wäre auch noch zu erwähnen dass im Vorfeld der Wahl einige türkische (Groß-)Firmen ihren Arbeitern auferlegten dass sie Fotos von sich live bei der Wahl machen sollen. Zusammen mit ihrem Personalausweis und dem ausgefülltem Wahlzettel, die sie beide dann in die Kamera zeigen sollen, und das dann der Personalabteilung schicken sollen. Heißt also, wer hier mit einem Nein abstimmt, den Stimmzettel unausgefüllt lässt, oder gar kein Foto von sich bei der Personalabteilung abgibt, muss damit rechnen seinen Job zu verlieren… Die Moderatoren vom türkischen FOX-Kanal flippten im Laufe der Wahlsendung teilweise fast aus und waren sichtlich erbost über kritische Anrufer und sämtliche Kritik diverser Gäste ihrer eigenen Show zum Wahlspektakel. Einer der beiden hielt dann irgendwann mal ein leeres DIN A4-Blatt in die Kamera und erklärte den Zuschauern dass sie sich doch auf eben so einem selbst eine Evet- und Hayir-Spalte erstellen können und gern alles nochmal nachrechnen können. Das haben einige dann auch gemacht. Wonach die oppositionelle demokratische Partei der Völker HDP dann bekannt gab dass nach mehrmaligem Nachrechnen mindestens von 56% Nein-Stimmen ausgegangen werden müsse. Was gestern und heute unter anderem auf tagesschau.de für ein Bild der Lage suggeriert wird, spiegelt die Realität in der Türkei nicht wirklich wieder. Ein feiernder Erdogan vor jubelnden Massen, währenddem auf der anderen Seite nur vereinzelt  Menschen auf Töpfe schlagen um so verzweifelt ihren Protest kundzutun. Vielmehr hatte man vor Ort den Eindruck dass die Elite irgendwo abgeschottet und isoliert versucht gute Stimmung für sich selbst zu machen und Erdogan, in seinen anschließenden Reden, wirkte nicht so ganz zufrieden mit dem Wahlergebnis. Vermutlich hatte er da gerade auch die eigentlichen Wahlergebnisse im Kopf…

„Headlines from Turkey’s referendum“ am 16. April 2017 bei sendika.org externer Link ist ein knapper erster Überblick unserer KollegInnen zu Berichten über verschiedene Unregelmäßigkeiten beim Urnengang in größeren Städten der Türkei, inklusive im kurdischen Südosten, die von seltsamen Wahlhelfern auf der Straße bis zum eigentlich verbotenen Fahnenmeer der AKP am Wahltag reichen

„Human Rights Association’s early report on referendum violations“ ebenfalls am 16. April 2017 bei sendika.org externer Link ist die Dokumentation eines dann schon ausführlicheren Berichts der Menschenrechtsvereinigung der Türkei über zahlreiche Verstöße gegen die Wahlfreiheit quer durchs Land – ganz konkrete Vorfälle und Vorgehensweisen aus verschiedenen Städten werden dabei ausführlich und genau berichtet

„Unregelmäßigkeiten bei Verfassungswahl – eine Dokumentation“ am 16. April 2017 bei Civaka Azad externer Link ist eine ausführliche Dokumentation über eben diese Unregelmäßigkeiten überall in der Türkei, aber auch mit einem Schwerpunkt auf den kurdischen Gebieten

„Days before critical referendum in Turkey oppression targeting naysayers soars“ am 13. April 2017 beim Stockholm Center for Freedom externer Link war eine Zusammenfassung verschiedener Berichte aus den letzten Tagen vor dem Referendum: Über Behörden und politische Verantwortliche, die auf verschiedene Weise – aber allesamt mit direkten Drohungen – Menschen zwingen wollten, mit Ja zu stimmen, unter anderem eben Bürgermeister, die allen kommunalen Beschäftigten im Falle des wählerischen Ungehorsams die Entlassung androhten

„Turkey’s top bosses call for national solidarity, economic reforms in post-referendum era“ am 17. April 2017 bei Hurriyet Daily News externer Link ist ein Beitrag zum Statement des Unternehmerverbandes TÜSIAD zum Referendum – jetzt käme es darauf an, beschleunigt Reformen durchzuführen (ein Appell an den Geschäftsfreund an der Alleinregierung) um Investoren wieder mehr Sicherheit zu geben.

„Ten Thoughts on the Turkish Referendum“ von Guney Işıkara, Alp Kayserilioğlu, und Max Zirngast am 17. April 2017 im Jacobinmag externer Link ist ein Beitrag, der eine erste politische Einschätzung des Kräfteverhältnisses nach dem Referendum versucht. Die Autoren heben dabei hervor, dass Erdogan keineswegs besonders gestärkt aus diesem Referendum hervorgehe, schon wegen der Risse, die in seiner reaktionären Koalition mit der MHP deutlich zu sehen waren. Sie haben auch eine andere Interpretation der Stellungnahme des Unternehmerverbandes, als die oben getroffene, indem sie den Appell an Reformen als gegen die Ein-Mann-Herrschaft gerichtet sehen und verweisen auf die geringe internationale Resonanz  dieses angeblichen Erfolges

„Erdogan’s hollow victory in Turkey referendum – “Far from the ringing endorsement he expected”“ von Phil Hearse am 17. April 2017 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert, ist die Stellungnahme der britischen Left Unity (als ein Beispiel von Stellungnahmen linker Gruppierungen in verschiedenen Ländern), die insbesondere auf die Wahlergebnisse in jenen kurdischen Orten eingeht, die nicht direkt unter den Kanonenrohren des türkischen Militärs wählten

Siehe dazu zuletzt im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=114963
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