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Die Niederlage der AKP bei den Kommunalwahlen in der Türkei und die Perspektiven der Opposition

hdp_logoWir haben oft darauf hingewiesen, dass die Hauptparteien der Opposition – CHP und Gute Partei – die Kräfte der Restauration organisieren. Das heißt, dass sie darauf abzielen, die derzeitige soziale und politische Ordnung zu stabilisieren, indem sie Erdoğan stürzen oder bändigen, ohne doch dabei die Fundamente jener Ordnung zu ändern – insbesondere was die wirtschaftlichen Fundamente angeht. In der momentanen Situation sieht es so aus, als ob die Kräfte der Restauration einen Machzugewinn verzeichnet haben. Das hat sicherlich mit der Tiefe der wirtschaftlichen Krise und weiters auch damit zu tun, dass der Unmut der Menschen ein selbstsichereres Auftreten der Opposition möglich macht, ja sie geradeheraus dazu zwingt. Dies dürften auch die Hauptgründe dafür sein, dass sich die Opposition in der Wahlnacht, als die AKP ihren – ersten – Coup plante, so klar dagegen positionierte und im Gegensatz zu früheren ähnlichen Situationen standhaft blieb. Höchstwahrscheinlich waren dies auch die zentralen Gründe dafür, dass sich bestimmte Teile des Staates und sogar der AKP dazu genötigt fühlten, Erdoğan und seine Clique zu drängen, die Wahlresultate anzuerkennen. (…) Der Sieg der Opposition wurde in erster Linie durch eine weit verbreitete Wut in der Bevölkerung auf die AKP und Erdoğan und der standfesten Haltung der kurdischen Bewegung zustande gebracht. Der Unmut über die soziale Lage und die permanente Krise führte viele Menschen dazu, nicht in erster Linie für die Opposition, sondern gegen das Regime zu stimmen. Die popularen Kräfte dürfen die Wahl – selbst wenn sie so stehen sollte – nicht einfach als Erfolg feiern und sich darauf ausruhen. Sowohl der mögliche Gegenangriff, wie auch eine mögliche Restauration werden den Bedürfnissen der popularen Kräfte nicht entsprechen können. Es gilt die gesellschaftlichen Dynamiken zu organisieren und konkrete Forderungen zu stellen, so zum Beispiel die Aufarbeitung der Korruption in der AKP-Periode in Städten wie Ankara und Istanbul, und vor allem die Forderung nach einer neuen, demokratischen Verfassung…“ – aus dem Beitrag „Türkischer Frühling?“ von Alp Kayserilioğlu, Max Zirngast und Güney Işıkara am 04. April 2019 beim re:volt magazine externer Link, worin auch ausführlich die besondere Rolle der HDP bei dieser Wahl erörtert wird. Siehe dazu auch eine weitere Beurteilung einige Tage nach der Wahl, zwei Beiträge, die unmittelbar nach dem Wahltag verfasst worden waren und den Hinweis auf unseren Beitrag vor der Wahl:

  • „Türkei in der Sackgasse“ von Safo Can am 05. April 2019 bei Freie Sicht externer Link, der unter anderem hervor hebt: „Nun ist es vollgebracht. Die Kommunalwahlen in der Türkei sind vorbei, aber die Diskussionen werden länger anhalten. Die Euphorie gewonnen zu haben, wird nach und nach von der Realität abgelöst. Ist das Glass halbvoll oder halbleer? Die Ergebnisse waren mehr oder weniger abzusehen. Für Erdogan war es wie ein Erdbeben, für die Bevölkerung wird das Nachbeben der entscheidende Faktor sein. Erdogan versucht die Niederlage herunter zu spielen und schmiedet bereits neue dreckige Pläne. Sein “Unbesiegbar“-Status ist trotz all seiner Bemühungen verloren gegangen. Gleich nach den Wahlen legte die AKP gegen die Ergebnisse Widerspruch ein. Dies war Taktik, um Zeit zu gewinnen, Akten, die AKP-Korruption belegen könnten, zu vernichten. Außerdem wurde und wird aus Bezirken, in denen sie verloren haben, in großem Stil öffentliches Eigentum (Kleinbusse, Transporter usw.) abgezogen und an AKP Kommunen überführt. (…) Beide Bündnisse haben die HDP vor den Wahlen gemieden. Während das AKP/MHP-Bündnis das CHP/IYI-Bündnis nonstop “beschuldigte“ mit der HDP zu kooperieren, wehrten diese sich vehement gegen die “Anschuldigungen“, als ob man mit einer zu den Wahlen zugelassenen Partei nicht kooperieren darf. Beide Bündnisse wollten die islamisch rechte Wählerschaft für sich gewinnen. Beide Bündnisse wussten, dass die Kurden die entscheidende Kraft sein würden. Die CHP hatte in vielen Großstädten allein kaum eine Chance zu gewinnen, trotzdem haben sie sich nach außen von der HDP distanziert und gleichzeitig heimlich auf die Stimmen der Kurden gehofft. Das haben sie zu Recht, dank sei dem strategischen Handeln der HDP, die in den westlichen Großstädten keine eigenen Kandidaten aufgestellt und ihre Anhänger*innen zur Wahl des CHP-Kandidaten aufgefordert hatte. Diese Wahlen haben erneut gezeigt, wie wichtig die HDP bzw. die Kurden bei entscheidenden politischen Prozessen sind. Die HDP hat nicht nur in Kurdistan der AKP/MHP die Stirn gezeigt, sondern auch in den Großstädten im Westen der Türkei, durch die kluge Entscheidung selbst keine Kandidaten zu stellen, der AKP/MHP die Niederlage zugefügt…
  • „Gewinnerin ist die HDP“ von Nelli Tügel am 01. April 2019 in neues deutschland externer Link wirft in dem Artikel, der die Erfolge der CHP würdigt, abschließend die Frage auf: „… Dass sie nun strahlende Sieger in Ankara und İstanbul stellt, hat die Partei indes auch den kurdischen und linken Stimmen zu verdanken, die nur deshalb an sie gingen, weil die Linkspartei HDP in den westtürkischen Großstädten auf eigene Kandidaten verzichtete. Diese Taktik hat funktioniert – ebenso wie die HDP im Südosten von der Regierung eingesetzte Zwangsverwalter davonjagen konnte. Sie ist damit die eigentliche Gewinnerin der Wahlen. Allerdings: Erdoğan hat schon gedroht, HDP-Bürgermeister wieder abzusetzen. Sollte er ernst machen, wo wird dann die CHP stehen?
  • Lange Gesichter bei der AKP“ von Nick Brauns am 02. April 2019 in der jungen Welt externer Link weist, neben Einordnung eines wichtigen CHP-Kandidaten und der Würdigung der Erfolge der HDP auch auf aus verschiedenen Gründen problematische Ergebnisse für die linke Sammlungspartei hin: „Doch die kemalistische CHP gewann mit 50,9 Prozent die Hauptstadt Ankara. Ihr Bürgermeisterkandidat Mansur Yavas ist ein strammer Nationalist, der früher der faschistischen MHP angehört hatte. (…) Eine herbe Niederlage erlitt die HDP in Sirnak. In der einstigen Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung triumphierte die AKP nun mit rund 60 Prozent. Vor fünf Jahren hatte die HDP dort noch diese Prozentzahl erhalten. Doch 2016 war die in den Bergen gelegene Stadt bei Kämpfen mit Milizen der PKK von der Armee fast vollständig zerstört und Hunderttausende Einwohner vertrieben worden. Zusätzlich zu Tausenden in den letzten Monaten nach Sirnak verlegten Sicherheitskräften haben am Wahltag weitere 12.000 Polizisten und Soldaten aus anderen Orten die Stimmabgabe in Sirnak überwacht. In der kurdisch-alevitischen Provinz Dersim (türkisch: Tunceli) sah sich die HDP, die dort ein Bündnis mit mehreren sozialistischen Parteien eingegangen war, von links herausgefordert. Überraschend hat der Kommunist Fatih Mehmet Maçoğlu die Wahl in der Provinzhauptstadt gewonnen. Einerseits gaben viele frühere CHP-Wähler ihre Stimmen dem populären Lokalpolitiker, der zuvor als Bürgermeister der Kreisstadt Ovacik Agrarkooperativen aufgebaut und kostenlosen Nahverkehr durchgesetzt hatte. Und andererseits hat Maçoğlu auch davon profitiert, dass die Kommunistische Partei (TKP), die sonst türkeiweit bedeutungslos blieb, anders als die HDP ohne jede Repression und Bedrohung von staatlicher Seite Wahlkampf betreiben konnte…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=147070
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