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Nach Ankara: Solidarität mit den progressiven Kräften in der Türkei – nicht mit der Regierung, deren Rolle hinterfragt werden muss

Protest in Izmir wegen Anakara Massaker 15. Oktober 2015Überall – und erst recht in der BRD – werden bedauert: Die Opfer und die Regierung der Türkei. Der Anschlag von Ankara aber steht in der Türkei selbst im Zentrum der Debatten – beziehungsweise die Frage, ob die Regierung dabei eine Rolle gespielt hat, und wenn ja, welche. Unsere aktuelle Materialsammlung „Solidarität mit den progressiven Kräften in der Türkei“ vom 19. Oktober 2015 hat genau darin ihren Schwerpunkt: Die Reaktion eben dieser progressiven Kräfte auf den Massenmord, mit der Frage nach der Rolle der Regierung im Zentrum

Solidarität mit den progressiven Kräften in der Türkei – nicht mit der Regierung, deren Rolle hinterfragt werden muss

Überall – und erst recht in der BRD – werden bedauert: Die Opfer und die Regierung der Türkei. Der Anschlag von Ankara aber steht in der Türkei selbst im Zentrum der Debatten – beziehungsweise die Frage, ob die Regierung dabei eine Rolle gespielt hat, und wenn ja, welche. Unsere aktuelle Materialsammlung „Solidarität mit den progressiven Kräften in der Türkei“ vom 19. Oktober 2015 hat genau darin ihren Schwerpunkt: Die Reaktion eben dieser progressiven Kräfte auf den Massenmord.

Gemeinsam ist allen Positionierungen, dass sie die – zumindest – politische Verantwortung der Regierung an dem Attentat unterstreichen – naheliegend, wenn man die Politik der letzten Monaten, die permanente Steigerung der Aggressivität des Vorgehens der AKP-Regierung gegen alles Linke und Oppositionelle und insbesondere kurdische erinnert. Wessen Polizei Menschen erschiesst und sie dann per Wagen durch die Straßen zieht, also Praktiken der Jagd auf Indigene aus der Geschichte der USA anwendet, der muss sich nicht wundern, wenn alle ausser den – abnehmenden – eigenen AnhängerInnen sich fragen, ob das zusammenhängt. Oder, wie es die HDP formuliert: „Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, dass die internationale Gemeinschaft eine feste Haltung gegenüber Präsident Erdoğan und der AKP-Regierung einnimmt, die in den Augen der Öffentlichkeit ihre Gesetzmäßigkeit in der Türkei bereits verloren hat. Hiermit fordern wir die internationale Gemeinschaft auf, ihre Solidarität und ihre Anteilnahme direkt an die Völker der Türkei zu richten und nicht weiter an den Staat, dessen Vertreter_innen die politischen und administrativen Verantwortlichen für das Massaker sind“ – aus der Erklärung „AUFRUF DER HDP AN DIE INTERNATIONALE GEMEINSCHAFT“ seit dem 17. Oktober 2015 auch auf deutsch bei Nadir.org externer Link dokumentiert, als ein beispielhafter Text auch dafür, wie progressive Kräfte in der Türkei den Besuch Frau Merkels bei Präsident Erdogan beurteilen…

Der Gewerkschaftsbund im öffentlichen Dienst KESK (der mit zu der Friedensdemonstration aufrief und mehrere seiner AktivistInnen verloren ihr Leben) hat in seiner „Antwort auf Beileids- und Solidaritätsschreiben“ vom 18. Oktober 2015 (in Englisch, eine Antwort auf entsprechende Schreiben von Organisationen aus dem Alternativen Gewerkschaftlichen Netzwerk für Solidarität und Kampf) unterstrichen: „The target of the assailants is obvious: The target is labour. The target is peace. The target is democracy! We will not permit any attempt to cover and to be forgotten this massacre. We will continue to struggle in order to ensure exposition of all dark forces behind this attack; particularly the government, who is responsible politically and to ensure they face the justice. Whatever it may cost, we will not take a step back in our struggle for labour, peace and democracy„. („Das Ziel der Attentäter ist eindeutig: Das Ziel ist die Arbeiterbewegung. Das Ziel ist der Frieden. Das Ziel ist die Demokratie! Wir werden keinen Versuch dulden, dieses Massaker vergessen zu machen. Wir werden weiter kämpfen, um sicher zu stellen, dass alle dunklen Kräfte hinter diesem Überfall aufgedeckt werden – insbesondere die Rolle der Regierung, die die politische Verantwortung trägt und wir werden dafür kämpfen, dass diese Kräfte vor die Justiz kommen. Was es auch immer kosten mag, wir werden keinen einzigen Schritt zurückweichen in unserem Kampf für die Arbeiterbewegung, den Frieden und die Demokratie“ – das gesamte englische Schreiben der KESK liegt der Redaktion LabourNet Germany als Mitglied des Netzwerkes vor und kann auf Anfrage zugesendet werden).

In der Stellungnahme „Massacre at the ‚Labor, Democracy and Peace Meeting‘ in Ankara“ der Revolutionären Anarchistischen Föderation der Türkei vom 10. Oktober 2015 externer Link (jetzt auf englisch bei libcom) heißt es: „The ones who murdered in Amed, in Pirsus, in Cizir, are now trying to intimidate the peoples, frustrate with war politics and discourage from the struggle for freedom, by murdering tens of people in Ankara“ – die Morde sei es von Attentaten oder durch den Terror der bewaffneten Staatsorgane werden hier als eine gemeinsame Strategie interpretiert, den Kampf um die freiheit einzuschüchtern. Die Stellungnahme endet mit der Aussage, das Attentat könne weder vergessen noch vergeben werden.

„Ankara verbietet Berichte zum Massaker in Ankara“ heisst die Meldung am 17. Oktober 2015 bei der DIDF externer Link, worin es heißt: „Das 6. Amtsgerichts von Ankara erklärte, dass bis zur Beendigung der Ermittlungen, jegliche Berichterstattung über die Anschläge in sämtlichen Medien verboten werden. Die Entscheidung wurde vom „Oberstaatsanwaltschaftsbüro zur Untersuchung von Straftaten gegen das Grundgesetz“ veröffentlicht. Begründung: Gefährdung der nationalen Sicherheit und die negative Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens“, so wie sie im 7. Artikel des Radio- und Fernsehgesetzes der Türkei steht. Regierungsvertreter erklärten daraufhin, dass zur Durchführung des Verbotes „alles Notwendige“ getan würde“ – eine Regierung, die so handelt bzw. sich so äussert muß sich nun wahrlich nicht wundern, wenn die Frage nach ihrer konkreten Rolle beim Attentat aufkommt.

„Not solidarity but struggle with the AKP! The culprits can be brought to account only by the working class!“ ist der Titel der Erklärung der DIP (Revolutionäre Arbeiterpartei) vom 13. Oktober 2015 bei redmed externer Link, worin es heißt: „The working class and the laboring population do not have one single issue that they can resolve in solidarity with the AKP, Tayyip Erdoğan or Davutoğlu. The only response to attacks on the working class is class struggle! It cannot be establishing solidarity with a government that represents the ruling classes, a government, moreover, that is slowly bringing Turkey to the edge of war and barbarism while eroding all the hard-earned freedoms“ (Es gäbe kein einziges Problem, das in Solidarität mit der AKP gelöst werden könne, die nicht nur die Regierung der herrschenden Klasse sei, sondern auch das Land zunehmend in den Krieg treibe – nur der Klassenkampf könne Probleme lösen, und dies gelte auch für die Suche nach den Schuldigen – kurz zusammengefasst).

Das Massaker wird als die letzte Stufe von Angriffen des Spezialkrieges des türkischen Staates gegen das kurdische Volk und die demokratisch-sozialistischen Kräfte beschrieben und als eines der tödlichsten in der Geschichte des Kampfes des Volkes für Demokratie und Freiheit. Die PKK unterstrich, dass der wirkliche Schuldige des Massakers die AKP sei, auch wenn sie versucht, die Schuld auf den IS (Islamischen Staat) zu schieben, um die eigene Beteiligung zu verdecken“ – aus der Stellungnahme „Ankara hat die Unterdrückung der Kurd_innen und der demokratischen Kräfte zum Ziel“ des ZK der PKK vom 13. Oktober 2015 externer Link jetzt auf deutsch bei nadir (isku) dokumentiert.

„S. Demirtaş parle lors des funérailles de victimes“ Bericht am 15. Oktober 2015 bei Kedistan externer Link über die Rede des Co-Vorsitzenden der HDP beim Begräbnis der Opfer, worin Selahattin Demirtas daran erinnert, dass es schon sehr viele – kleinere – tödliche Überfälle auf progressive Kräfte in der Türkei gegeben habe und niemals sei irgendjemand zur verantwortung gezogen worden, aber immer wieder seien Tatsachen aufgetaucht, die darauf hindeuteten, dass Kräfte innerhalb des Staatsapparates auf die eine oder andere Weise daran beteiligt gewesen seien.

„Call by Academics for International Solidarity after the Ankara Bombing“ – ein transnationaler Solidaritätsaufruf dokumentiert am 17. Oktober 2015 bei Jaddaliya externer Link. Die zahlreichen bekannten (Links)Intellektuellen aus verschiedenen Ländern (darunter auch Einige aus der BRD) unterstreichen: „Die schwerwiegenden Vorwürfe einer Komplizenschaft von Staatsakteuren am Massenmord von Ankara müssen überprüft und eine unabhängige Untersuchungskommission, vorzugsweise unter Federführung der Vereinten Nationen, eingesetzt werden. Alle bi- und multilateralen Vereinbarungen mit der Türkei müssen davon abhängig gemacht werden, dass nachweislich jede Anstrengung unternommen wird, um die Einschüchterungen, die Schikane, und die Morde an denen, die lediglich ihre Grundrechte verteidigen, zu beenden“ (der Text ist in mehreren Sprachen, eben auch auf Deutsch, publiziert worden).

Zu unterstreichen ist ebenfalls, dass es ja keineswegs eine absolute Ausnahme wäre, wenn die Regierung der Türkei töten lässt, wie beispielsweise aus dem Beitrag „Scharfschützen gegen Ärzte“ von Alexander Isele am 15. Oktober 2015 in neues deutschland externer Link hervorgeht, worin es unter anderem heißt: „Vertreter der Türkischen Ärztekammer hatten ihr berichtet, wie Sicherheits- und Spezialeinsatzkräfte, darunter sogar Scharfschützen, in gepanzerten Wagen Notaufnahmen besetzten. Ärzte und Krankenschwestern wurden noch während medizinischer Eingriffe kontrolliert. Menschen mit Schussverletzungen kämmen gar nicht erst in Krankenhäuser. Sie hätten Angst, als ››Terroristen‹‹ verhaftet zu werden„.

„Erdoğan expands war against dissent with legal action against union head“ hieß ein Bericht bereits am 16. September 2015 in Today’s Zaman externer Link, worin über die Anklage gegen den DISK-Vorsitzenden Kani Beko berichtet wird: Die Zeitung – Sprachrohr des einstigen Bündnispartner Erdogans Gülen – unterstreicht, dass die Anklage wegen „Beleidigung des Präsidenten“ ein weiterer Schritt der Verschärfung des Kampfes der AKP gegen die Gewerkschaften sei – was natütlich die Frage aufwirft, wie weit dabei gegangen wird…

Helmut Weiss, 19. Oktober 2015

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=87926
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