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Das Massaker in Ankara vom 10. Oktober 2015 – eine Zusammenfassung

Sendika.org: Ankara Massacre 10-10-2015Zwei Bomben detonierten inmitten von Demonstrant*innen kurz vor dem geplanten Start der Demonstration für Arbeit, Frieden und Demokratie vorm Bahnhof von Ankara. Mindestens 97 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Vor den Explosionen war von der Polizei nichts zu sehen, direkt nach dem Angriff aber erschien sie mit einem gepanzerten Wasserwerfer und schoss mit Tränengas wahllos auf die Toten und Verwundeten. Übersetzung des Beitrags „Wrap-up of the 10 October Ankara Massacre“, der am 11. Oktober 2015 bei Sendika.Org erschienen ist externer Link. Für Infos und Hintergründe siehe unser Dossier: Bombenanschlag auf Friedenskundgebung in Ankara: “Sie meinen nicht nur die HDP, sie meinen uns alle”

In kurzer Folgen detonierten zwei Bomben zwischen den Demonstrant*innen, die sich vor dem Bahnhof in Ankara am Morgendes 10. Oktober für die geplante Demonstration für Arbeit, Frieden und Demokratie versammelten. Mindestens 97 Menschen wurden getötet, mehr als 400 verletzt.

Der Krisenstab einer türkische Ärzte-Vereinigung (TBB) meldete am späten Nachmittag des 10. Oktober, dass 97 Menschen getötet und 419 verletzt wurden. Unter den Getöteten befinden sich Mitglieder der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der Demokratischen Volkspartei (HDP), der Republikanischen Volkspartei (CHP), der Volkshäuser (Halkevleri), der Arbeitspartei (EMEP) und der Sozialistischen Partei für eine Neugründung (SYKP).

Polizei zunächst abwesend

Eine Explosion passierte im Block der HDP, die andere zwischen der HDP und der Vereinigung der Gewerkschaften des öffentlichen Sektors (KESK). Die Bomben waren mit Kugellagern gefüllt, die durch die Explosion in die umstehende Menge geschossen wurden. Zugleich bildete sich eine große Rauchwolke über der Demonstration.

Medizinier*innen der TTB, der Gewerkschaft der Gesundheits- und Sozialarbeiter und Dev Sağlık-İş konnten die Opfer bereits vor dem Eintreffen der Krankenwagen versorgen. Eine Massenpanik konnte zum Glück verhindert werden.

Nach den Detonationen beeilten sich Krankenwagen und Polizei zum Schauplatz. Die Polizei kam mit einem gepanzerten Wasserwerfer (TOMA), was einen Chor von Buh-Rufen und „Mörder Erdoğan“-Sprechchören provozierte. Polizisten schossen daraufhin zweimal mit Tränengas in die Menge.

Der Tränengasangriff der Polizei verschlimmerte die Lage für die Verletzten – und zerstörte Beweise.

Viele der Verletzten wurden, in Transparente eingehüllt, ins Krankenhaus gefahren. Die ganze Zeit waren die Sirenen zu hören, während Krankenwagen – sowie private Autos und Taxis – die Verletzten transportierten.

Das Orga-Komitee sagte die Demonstration kurz nach den Explosionen ab. Auswärtige Demonstrant*innen wurden zu ihren Bussen geleitet,  Aktivist*innen bildeten dafür einen Sicherheitskorridor.

Volkshäuser bilden Absperrung in Abwesenheit der Polizei

Nachdem sie beim Transport der Verwundeten geholfen hatten, bildeten Vertreter der Volkshäuser eine Absperrung, von der Polizei war anfangs noch nichts zu sehen. Nach der Ankunft von Rechtsanwälten verließen die Vertreter der Volkshäuser den Tatort, um in den Krankenhäusern Blut zu spenden.

Nach ihrer Ankunft übernahm die Polizei die Sicherung der Absperrung. Sie ließ aber Bahnangestellte Glassplitter beseitigen – was entschiedenen Widerspruch der Rechtsanwälte hervorrief. Die Polizei verweigerte außerdem den Rechtsanwälten den Zutritt zum Tatort, weil sie noch auf den Staatsanwalt warteten.

Nachdem die Verletzten weggeschafft worden waren, betrat die Polizei das Gebiet – obwohl noch immer kein Staatsanwalt anwesend war. Den Rechtsanwälten wurde der Zutritt weiter verweigert. Diese beschuldigen deshalb die Polizisten, eine effektive Beweissicherung behindert zu haben.

„Wenn es in einer Menge von 300 Menschen keinen einzigen verletzten Polizeibeamten gibt, die Polizei aber fünf Minuten später mit Tränengas schießt, dann ist der Staat der Übeltäter!“, schrieb Rechtsanwalt Mehmet Ümit Erdem auf seinem Twitter-Account.

Demonstranten stritten auch mit zwei Personen, die beschuldigt wurden, zivile Polizisten zu sein. Verärgert über die Anwesenheit der Provokateure traten einige Demonstranten gegen deren Auto und forderten, dass sie das Gelände verlassen. Das provozierte einen der Beamten zu rufen, „Der Kerl ist ein türkischer Soldat“, bevor er sieben Mal in die Luft schoss. Die beiden Zivilpolizisten stiegen daraufhin in ihr Fahrzeig und verließen den Tatort.

Protest gegen Minister

Außerdem protestierten die Demonstranten gegen das Eintreffen des Innen-, Justiz- und Gesundheitsministers, mit Sprechchören wie „Der mörderische Staat wird bezahlen“ und „Mörder Erdoğan“. Eine Person traf den Innenminister Selami Altınok mit einer Wasserflasche am Kopf, und Demonstranten griffen das Auto des Gesundheitsministers Minister Mehmet Müezzinoğlu an. Die Polizei schoss daraufhin mit Tränengas in die Menge und sicherte den Abzug der Minister.

Die Leichen der Verstorbenen wurden um 15.15 Uhr weggeschafft, nach einer Untersuchung durch die Kriminalpolizei.

Der Polizeichef von Ankara, der auch am Tatort war, sagte, „auch unser Schmerz ist groß“. Es war dies der Versuch, die Wut der Öffentlichkeit nach dem Massaker und dem Tränengasangriff der Polizei zu besänftigen.

Der Palast ist verantwortlich

Das Orga-Komitee der Demonstration führte ebenfalls eine Untersuchung des Tatorts durch.

„Verantwortlich sind der Präsident, der Premierminister, Ankaras Bürgermeister und der Polizeichef“, sagte Arzu Çerkezoğlu, Generalsekretär der Föderation der Fortschrittlichen Gewerkschaften (DİSK), einer der Organisatoren der Demonstration. „Es geht nicht darum, wer die Bomben gezündet hat. Wer ist der politisch Verantwortliche? Die Botschaft, die auch mit den Angriffen in Suruç and Cizre vermittelt werden sollte, lautet: ‚Wenn Du für Deine Rechte eintrittst, wenn Du dafür auf die Straße gehst, bringen wir Dich um.‘ Wenn der Präsident sagt, ‚Das Regime hat sich de facto geändert‘, dann meint er genau das.“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=87579
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