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Der neue Mindestlohn in der Türkei: Millionen arbeiten knapp über der Armutslinie

Das Plakat des Gewerkschaftsbundes DISK zum Mindestlohn in der Türkei 2019: 2.800 TL war und bleibt die ForderungDer Mindestlohn der Türkei für 2019 steht fest. Nach drei Wochen dauernden Verhandlungen zwischen den Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretern und die der Regierung, gab es eine Steigerung in Höhe der Inflationsrate (26%). Diese Steigerung in diesem Rahmen war zu erwarten, zumal diese von Türkstat (TÜIK) in dieser Höhe als Empfehlung ausgesprochenen wurde. Der Mindestlohn beträgt somit 2.020 TL/Netto. Für eine verheiratete Person mit drei Kindern beträgt diese 2.155 TL. Während früher der Mindestlohn nach Gefährlichkeit der Arbeit gestuft wurde, gibt es 2019 nur einen Einheitsmindestlohn. (…) Nochmals sei in Erinnerung gerufen, dass die Grundnahrungsmittel, seit dem letzten Jahr eine Preissteigerung von fast 100% aufweisen. Die Energie ist im Schnitt 60% teurer geworden…“ – aus dem Beitrag „Der Mindestlohn für 2019 steht fest“ von Ahmet Refii Dener am 25. Dezember 2018 auf seinem Blog externer Link, worin diese „Erhöhung“ ausgesprochen kritisch bewertet wird. Zu Lebensbedingungen, wirtschaftlicher Entwicklung und gewerkschaftlicher Aktivität rund um den Mindestlohn eine aktuelle Materialsammlung:

„Türken wollen Brot, Arbeit, Freiheit“ von Wolf Wittenfeld am 23. Dezember 2018 in der taz externer Link war ein Demonstrationsbericht von der Aktion der KESK-Föderation im öffentlichen Dienst (siehe auch den Hinweis auf unseren Bericht am Ende dieses Beitrags), worin zu den politischen Bedingungen des Kampfes um eine wirkliche Erhöhung des Mindestlohns unter anderem ausgeführt wird: „Nachdem vor einer Woche bereits ganz im Osten, im hauptsächlich von Kurden bewohnten Diyarbakir, gegen die steigenden Lebenshaltungskosten demonstriert worden war, wagten sich nach langer Zeit auch in Istanbul wieder die Leute auf die Straße. Aufgerufen hatte ein breites Bündnis von Gewerkschaften unter der Führung von KESK, der politisch sehr aktiven Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes. Unterstützt wurden die Demonstranten, die auch aus anderen Städten aus dem Nordwesten der Türkei angereist waren, von Abgeordneten der oppositionellen CHP und der kurdisch-linken HDP. Doch der Zug blieb von den meisten Istanbulern unbemerkt. Statt im Stadtzentrum, am Taksim-Platz oder in der Flaniermeile İstiklal Caddesi mussten die Demonstranten aus politischen Gründen in den Vorort Bakırköy ausweichen, weil eine Bezirksverwaltung der CHP den Zug dort möglich machte. Trotzdem wurden die Demonstranten noch von Tausenden Polizisten abgeschirmt. Im Fernsehen wurde über die Demonstrationen gar nicht berichtet, in den großen Zeitungen fanden sich allenfalls Kurzmeldungen. Denn die Regierung will verhindern, dass der wachsende Unmut in der Bevölkerung öffentlich zum Ausdruck kommt. Bei mehreren Auftritten warnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Opposition vor Protest auf der Straße. Die Demonstranten würden einen hohen Preis dafür bezahlen müssen. In der Regierung grassiert offenbar die Angst, die Gelbwesten-Demonstrationen in Frankreich könnten zum Vorbild für Oppositionelle in der Türkei werden. Die Angst geht so weit, dass die Polizei angeblich bereits gegen die Produktion gelber Westen vorgeht. Medien berichteten, in einigen Provinzen sei die Polizei dem Gerücht nachgegangen, es würden insgeheim massenhaft gelbe Westen gefertigt. Der Grund für die Hysterie im Regierungslager ist die Befürchtung, die Wirtschaftskrise könnte auf die im März bevorstehenden Kommunalwahlen durchschlagen. Vor allem die Frage, wer Istanbul und Ankara gewinnt, ist von landesweiter Bedeutung. Deshalb tut die Regierung alles, um die Wirtschaftskrise kleinzureden oder als einen Angriff aus dem Ausland darzustellen. Doch die Inflation von 23 Prozent ist an jedem Markttag an den steigenden Gemüsepreisen abzulesen. Dass insbesondere jüngere Leute keinen Job mehr finden, erlebt auch fast jede Familie…“

„Bosses get their wish: 2019 minimum wage has been set at 2,020 lira net“ am 25. Dezember 2018 bei Evrensel Daily externer Link ist ein Kommentar zur Verkündung des neuen Mindestlohns für 2019, in dem vor allem unterstrichen wird, dass mit dem Betrag von 2.020 Türkischen Lira der Wunsch der Unternehmerverbände erfüllt wurde. Darin wird auch ein Sprecher der Gewerkschaftsföderation DISK zitiert, der darauf hinwies, dass die offizielle Statistik betone, dass die „Hungerlinie“ bei rund 1.900 TL liege, der Mindestlohn – der auch Auswirkungen auf die Tarifverhandlungen insgesamt habe und direkt beinahe 10 Millionen Menschen betreffe – also nur sehr knapp darüber und weit unter der Armutslinie liege. Weswegen nicht nur die DISK weiterhin die aktuelle Forderung nach 2.800 TL Mindestlohn vertrete.

„Worker struggling on minimum wage: I borrowed to get my sick child’s medicine“ am 19. Dezember 2018 ebenfalls bei Evrensel Daily externer Link ist ein Beitrag über Lebensumstände von Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten müssen: Und deswegen etwa Geld leihen müssen, um Medikamente für kranke Kinder kaufen zu können…

„New minimum wage on starvation line in Turkey“ am 27. Dezember 2018 bei SolInternational externer Link hebt zum neuen Mindestlohn ebenfalls vor allen Dingen die absurde Nähe zur offiziellen Hungerstatistik hervor. Weswegen die Sprecher beider Unternehmerverbände TÜSIAD und MÜSIAD auch mit Aussagen zitiert werden, die ihre Zufriedenheit mit der Festlegung ausdrücken. Zitiert wird auch das Statement der KP der Türkei (zu der die Seite gehört) mit der Aussage „Höherer Minimallohn nur mit maximalem Kampf“.

„Annual Inflation in 2018: 20.30 Percent“ am 03. Januar 2019 im BiaNet externer Link ist eine Meldung über die offizielle Inflationsrate für das Jahr 2018, die eben 20,3% betragen habe. Insbesondere Nahrungsmittel und nichtalkoholische Getränke seien überdurchschnittlich angestiegen.  Wobei gegen Ende des Jahres die Inflationsspirale abgenommen habe, wie der Vergleich von Oktober zu November 2018 zeige.

„2018 labour report of Turkey: Wage erosion, unemployment more workers’ deaths“ am 27. Dezember 2018 bei Evrensel Daily externer Link ist eine Jahresbilanz zu Arbeitsunfällen, Erwerbslosigkeit und Lohnverlust. In Form einer kommentierten zusammenfassenden Dokumentation eines Berichtes der CHP. Was Löhne und Inflation betrifft, wird beispielsweise folgendes Beispiel vorgestellt: Reichte der Mindestlohn im Januar noch zum Kauf von rund 7.000 Eiern (?), so waren es am Ende des Jahres nur noch knapp über 4.000…

„One year puts paid to the ‚agreement of the century‘ signed by Turkish Metal“ am 29. Dezember 2018 bei Evrensel Daily externer Link ist ein Beitrag darüber, wie der zu Jahresbeginn erzielte Abschluss in der Metallindustrie, von einigen Gewerkschaften als „historisch“ gefeiert, durch die Inflation im Laufe des Jahres faktisch zu Altpapier wurde…

„Açlık sınırının 1.943 TL olduğu Türkiye’de #AsgariÜcret 2.020 TL oldu“ am 25. Dezember 2018 beim Twitter Kanal Cafer Konca externer Link ist eine erste Reaktion des Sekretariats des Gewerkschaftsbundes DISK, wo eben die Nähe zur Armutslinie hervor gehoben wird, in der sich der neue Mindestlohn für rund 40% aller Beschäftigten befinde…

„DİSK’ten adaletsiz düzenlemeye tepki: Vergi yükünü emekçinin sırtından alın“ am 02. Januar 2019 bei Sendika.org externer Link dokumentiert eine Erklärung der DISK-Vorsitzenden, in der sie die Senkung der Steuerlast insbesondere für die BezieherInnen des Mindestlohns fordert.

„Die Krise in der Türkei trifft die Arbeiterklasse“ von Halil Celik am 17. August 2018 bei wsws externer Link hob zur inflationären Entwicklung und ihren Auswirkungen unter anderem hervor: „Die Abwertung der türkischen Lira (TL) gegenüber dem US-Dollar und dem Euro hat unmittelbare Auswirkungen auf die Preise von Waren und Dienstleistungen. Sie erhöht die offizielle Inflationsrate im Juli auf 15,4 Prozent – den höchsten Stand seit 14 Jahren. Der reale Preisanstieg liegt jedoch weit darüber. Zu Beginn des Jahres betrug der Mindestlohn, der an fast die Hälfte der türkischen Arbeiter gezahlt wurde, 1.603 TL, was 424 Dollar entspricht, während ein Dollar 3,78 TL wert war. Jetzt sind es nur noch 221 Dollar. Anfang August stiegen die durchschnittlichen monatlichen Gas- und Stromrechnungen auf 14,7 Prozent des Mindestlohns, während die Preise für Grundnahrungsmittel um das Zwei- bis Dreifache gestiegen sind. Weit verbreitete Betriebsschließungen, Konkurse und Personalabbau bedrohen alle Sektoren der hochverschuldeten türkischen Wirtschaft, einschließlich Baugewerbe, Banken, Automobil-, Metall- und Textilindustrie und sogar die Landwirtschaft. Innerhalb eines Jahres ist der türkische Börsenindex Istanbul 30 in US-Dollar um mehr als 50 Prozent gefallen, was auf eine Stagflationsgefahr hindeutet. Der stark importabhängige Bausektor der Türkei, der in den letzten zehn Jahren primär für das Wachstum der türkischen Wirtschaft verantwortlich war, hat bereits zu stagnieren begonnen und Zehntausende von Arbeitern arbeitslos gemacht, da der Zusammenbruch der Lira zu einem drastischen Anstieg der Kosten geführt hat. In der Textil- und Metallindustrie nimmt die Zahl der Entlassungen und unbezahlten freien Tage zu. Nach einer aktuellen Stellungnahme der Gewerkschaft Dev-Tekstil in Cukurova haben bereits rund 1.500 Textilarbeiter in der Region ihren Arbeitsplatz verloren…

Was hat die türkische Arbeiterklasse in den letzten 16 Jahren verloren? von Korkut Boratav am 11. Juni 2018 bei freie sicht externer Link zur Gesamtbilanz der Arbeiterinnen und Arbeiter in Erdogans Regierungszeit anhand eines Berichts des Forschungszentrums der DISK-Föderation: „Man sollte erwarten, dass sich DISK-AR auf die Analyse der Löhne konzentriert. Die neue BIP-Statistik gibt Auskunft über den Anteil der Löhne am Volkseinkommen. Diese Statistik muss analysiert und auf ihre Konsistenz mit anderen Daten geprüft werden. Stundenlöhne aus verschiedenen Sektoren sollten mit sektoralen Produktivitätsdaten abgeglichen werden. Die Entwicklung der Lohnproduktivitätsquote verdeutlicht die Veränderung der Anteile der Bruttolöhne und -gewinne an der sektoralen Wertschöpfung. Der DISK-Bericht analysiert, wie sich die Mindestlöhne in den AKP-Jahren aus dieser Perspektive verändert haben. Verteilungsanalysen wären nur dann sinnvoll, wenn sie auf Klassenwidersprüchen aufbauen. In diesem Sinne wäre es sinnvoll, die Löhne mit anderen Einkommensarten zu vergleichen, anstatt die Reallöhne inflationsbereinigt zu betrachten. Der DISK-Bericht verwendet diesen Ansatz und vergleicht die Reallöhne mit dem realen Volkseinkommen. Er stellt fest, dass der Anstieg der Reallöhne hinter dem Anstieg des realen Volkseinkommens während des AKP-Zeitraums zurückblieb. Die Mindestlohnstatistik gibt jedoch nicht den gesamten Mindestlohn in der Wirtschaft an, sondern nur den Monatslohn pro Arbeiter. Daher sollten sie mit dem Pro-Kopf-Nationaleinkommen und nicht mit dem Gesamtnationaleinkommen verglichen werden. Die Schlussfolgerung des Berichts würde sich mit diesem Vergleich nicht ändern. Die realen Mindestlöhne blieben während der AKP-Regel von 2003 bis 2017 hinter dem realen Pro-Kopf-Nationaleinkommen zurück. Dieses Ergebnis zeigt, dass sich die wirtschaftliche Situation der Lohnarbeiter im Vergleich zu anderen Klassen in der Türkei verschlechtert hat…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=142219
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