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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die Krise der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei und Ansätze einer Perspektive

1. In der Terminologie der herrschenden Kreise der Industrieländer gilt die Türkei als ein "Schwellenland", sozusagen ein Land in der Übergangsphase zwischen einem Agrarland mit traditioneller Produktionsweise und einer Industrienation. Gemessen an dem Grad der industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung und an dem Bruttosozialprodukt der jetzigen "Industrieländer" wie der USA, Deutschland, Frankreich, Japan oder Italien ist die Türkei ein Leichtgewicht-Ringer, der im Schatten und in Abhängigkeit der Schwergewicht-Ringer einen bestimmten wirtschaftlichen Spielraum nutzen kann. Gemessen aber am Potenzial und am Grad des Tempos, mit der sich die Türkei ökonomisch, finanziell, politisch und militärisch entwickelt und gemessen an der Funktion des Landes ist die Türkei eine regionale Großmacht, deren Kraft nicht nur in der Region -dem Nahen Osten- zu spüren ist, sondern auch von Kaukasien über Mittelasien bis nach Westeuropa, von Russland bis zum Sudan

2. Die Türkei konnte in den letzten 30 Jahren ein rasantes ökonomisches Entwicklungstempo vorweisen. Das hatte zur Folge, dass die Landflucht enorm gestiegen ist. So wuchs die Bevölkerungszahl nicht nur in der traditionell entwickelten West-Türkei enorm an, sondern auch in bisher sehr zurückgebliebenen Regionen wie z.B. in Mittelanatolien oder in Kurdistan, wo völlig neue Millionenstädte und Industriezentren entstanden. Dementsprechend hat sich die Anzahl der Arbeiterklasse insgesamt und damit die Anzahl der Industriearbeiter und Erwerbslosen innerhalb von 30 Jahren mehr als verdoppelt.

3. Die in den letzten 20 Jahren umgesetzten Privatisierungen und Auslagerungen, die verstärkte Einbindung der Türkei in die internationalen Finanzgeschäfte sowie der Aufbau von Freihandelszonen oder "freien" Produktionszonen in der Türkei haben dem wirtschaftlichen Wachstum und der Gier der ausländischen und inländischen Investoren nach noch mehr Profit einen noch größeren Schub gegeben. In der Türkei sind auch einige Branchen ganz neu entstanden. Die Türkei hat sich soweit entwickelt, dass sie zu einem neuen ernst zu nehmenden Konkurrenten für viele kapitalistische Länder geworden ist. Beispiele für sich stark entwickelnde Branchen sind die Textilindustrie, die Automobilindustrie, die Elektronikindustrie oder auch die Baubranche und die Rüstungsindustrie sowie der Groß- und Einzelhandel usw. usf.. Die damit verbundenen Prozesse sind die beschleunigte Konzentration und Zentralisierung -d.h. die verstärkte Monopolisierung- des Kapitals und des wirtschaftlichen Lebens in Händen einiger weniger privatkapitalistischen Gruppen. Selbst der Einzelhandel, der bis vor 10 Jahren weitgehend von traditionellen Kleinproduzenten und Kleinhändlern beherrscht war, wird nun von den großen einheimischen und ausländischen Monopolisten dominiert.

4. Trotz des rasanten Anstiegs der Anzahl der abhängig Beschäftigten konnten die Gewerkschaften und ihre Dachverbände ihren Einfluss nicht vergrößern. Im Gegenteil, die Gewerkschaften und ihre Dachverbände (TÜRK-IS, DISK, HAK-IS, KESK) wurden organisatorisch und politisch schwächer. Die offiziellen Stellen der Gewerkschaften sprechen selber von dem starken Verlust an Mitgliedern und gehen von einem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad von 11,4 % aus. Selbst diese Zahlen sind eher optimistische Angaben. Denn es ist üblich, nicht nur die Beschäftigten anzugeben, für die die Gewerkschaft eine offizielle Tariffähigkeit hat, sondern auch diejenigen, die nur formal für die Statistik (ohne Zahlung der Beiträge) als Gewerkschaftsmitglied gelten. Denn sonst würden nicht wenige Einzelgewerkschaften unter die erforderliche sogenannte Branchenmarke von 10 % fallen, wodurch diese Gewerkschaften vom Gesetz her automatisch ihre Tariffähigkeit bei allen Unternehmen verlieren würden.

5. Zu dem enormen Mitgliederverlust und dem sehr geringem Grad der gewerkschaftlichen Organisierung haben viele Akteure beigetragen.

Erstens die Herrschenden , die mit dem Militärputsch von 1980 nicht nur die gesamtgesellschaftliche Situation, sondern auch die arbeitsrechtliche Lage für die abhängig Beschäftigten und für die Gewerkschaften weitgehend verschärft haben. Sie haben vom Wesen her zutiefst reaktionäre politische Strukturen geschaffen. Die Regierenden zogen eine offen arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Politik vor.

Zweitens die Politik der Führungen der Gewerkschaften bzw. der Gewerkschaftsdachverbände. Die Gewerkschaftsspitzen haben bei jeder Verschärfung, bei jeder Verschlimmerung der Gesetze mitgemacht, um angeblich noch Schlimmeres zu verhindern. Sie haben undemokratische, reaktionäre Arbeitsgesetze akzeptiert, die zur weiteren Entmachtung der Gewerkschaften und organisierten Belegschaften sowie zum verstärkten Aufbau betrieblicher Despotie seitens der Unternehmen führten. Eine Besonderheit der türkischen Wirtschaft bis vor 20 Jahren war, dass die meisten Großbetriebe Staatseigentum waren oder vom Staat sehr stark finanzierte Genossenschaften. Die Gewerkschaften waren in der Regel bei diesen staatlichen bzw. halbstaatlichen Großbetrieben organisiert. Dies führte dazu, dass die Gewerkschaftsspitzen unter gewerkschaftlicher Organisierung und Tarifverhandlungen in erster Linie die Unterstützung der jeweiligen Regierungen, die Pflege ihrer Kontakte zu Regierungsstellen und die hinter verschlossenen Türen geführten Gespräche verstanden, ohne die Basis zu mobilisieren und ohne Widerstandaktionen herbeizuführen. Für viele Gewerkschaftsspitzen hieß die Aufrechterhaltung der Gewerkschaften lediglich, ihre Tariffähigkeit bei staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen weiterhin zu erhalten. Sich jedoch beim Privatsektor zu verankern, hieße, sich gegen die offen gewerkschaftsfeindliche Politik der Unternehmen durchzusetzen, Massenaktionen durchzuführen und die Beschäftigten zu mobilisieren, d. h. einen offenen Konflikt mit den Arbeitgebern zu wagen! Dazu waren sie in der Regel nicht bereit. Nur einige Gewerkschaften konnten beim Privatsektor Fuß fassen. Ein Beispiel ist Türk-Metall in der Metallbranche. Sie konnte allerdings nur das Wohlwollen der Unternehmer gewinnen, weil sie sich als williger und unterwürfiger Partner erwies.

Als jedoch die Politik die Privatisierung in großem Umfang einsetzte und die neuen Privateigentümer der Betriebe die Gewerkschaften zum "überflüssigen Überbleibsel" erklärten, waren die Gewerkschaftsspitzen nicht in der Lage, mit der neuen Situation fertig zu werden. Sie versuchten zwar mit einer sogenannten "neuen" Politik die im Privatsektor tätigen Unternehmen von den Vorteilen ihrer gewerkschaftlichen Vertretungen und von einer Zusammenarbeit mit ihnen zu "überzeugen". Diese "neue" Politik war die des "sozialen Dialogs" und oder die der "Sozialpartnerschaft". Dem Inhalt nach war diese Politik nicht neu. Früher gebrauchte man dafür andere Begriffe wie z. B. den "Erhalt des Betriebs- und Arbeitsfriedens". Das Neue war die Haltung der privatkapitalistischen Unternehmen. Diese sind in erster Linie auf ihre eigenen Einzel-Interessen bedacht und sie führen ihre Unternehmenspolitik nicht nach staatspolitischen Erfordernissen, sondern in der Regel nach privatkapitalistischen Profitinteressen. Das Neue war also, daß sie von den Gewerkschaftsspitzen überhaupt erst einmal von einer Zusammenarbeit, von einer Partnerschaft mit den Gewerkschaften überzeugt werden mussten. Nun gab und gibt es die Verhandlungen der Türkei mit der EU um ihre Aufnahmebedingungen und daraus resultierend ein verstärktes Engagament der internationalen Gewerkschaftsdachverbände für die Türkei und für die Gewerkschaftsbewegung in der Türkei. Dies gab den türkischen Gewerkschaftsspitzen neue Hoffnungen und einen neuen Schub verstärkt auf die "neue" Politik des sozialen Dialogs und der sozialen Partnerschaft zu setzen.

Die Gewerkschaftsspitzen übersahen und übersehen weiterhin ihren wichtigsten Partner (wenn man hier überhaupt von Partner sprechen kann): Ihre eigene soziale Basis, die Masse ihrer Mitglieder und die Masse der Millionen von unorganisierten Beschäftigten. Tausende von Beschäftigten versuchen sich gewerkschaftlich zu organisieren trotz der reaktionären Arbeitsgesetze, die die gewerkschaftliche Organisierung weitgehend verhindern, trotz der offen zu Tage tretenen Gewerkschaftsfeindlichkeit der Regierenden und der Unternehmen, trotz der Passivität der Gewerkschaftsspitzen. Es vergeht kein einziger Tag, an dem sich nicht diese oder jene Belegschaft die Milderung ihrer unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die Verbesserung ihrer Einkommenssituation von der gewerkschaftlichen Organisierung und von der Durchsetzung der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft erhoffen und sie zu diesem Zweck Streik- und andere Widerstandsaktionen durchführen. Viele dieser spontanen Kämpfe und Widerstandsaktionen bringen nicht das erhoffte Ergebnis. Gründe gibt es dafür viele. Viele der Belegschaften haben keine ausreichenden Erfahrungen. Viele der Kämpfe sind unorganisiert. Es besteht kein Netzwerk zwischen den verschiedenen Kämpfen. Ihre Gegner schrecken selbst vor brutaler Gewalt nicht zurück. Viele Gewerkschaftsspitzen konkurrieren gegeneinander und die Arbeitgeber können die Gewerkschaften sehr gut gegeneinander ausspielen.

6. Drittens, die Unfähigkeit und Unorganisiertheit des kämpferischen Flügels der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Bei vielen Betrieben und Gewerkschaften gibt es viele Kollegen und Kolleginnen, die sich für die gewerkschaftliche Organisierung, für die Selbstorganisierung der Beschäftigten, für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, für demokratische Gewerkschaftsstrukturen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft einsetzen. Sie sind in ihrem jeweiligen Betrieb, ihrer jeweiligen Gewerkschaft sehr aktiv, sehr engagiert und sehr anerkannt. Sie schaffen es aber nicht, viele ihrer Ziele um- bzw. durchzusetzen, weil sie das dafür notwendige Organisationspotential nicht besitzen. Sie sind tagtäglich nicht nur den Angriffen der staatlichen Organe und der Arbeitgeber ausgesetzt, sondern auch denen der Gewerkschaftsspitzen. Teilweise werden sie aus den Betrieben und als Gewerkschaftsangestellte aus den Gewerkschaften entlassen. Dann können die anderen kämpferischen Kollegen zumeist auch keine effektiven Solidaritäts- oder Unterstützungsaktionen organisieren, da sie die dafür erforderlichen Strukturen nicht haben. Sie sind zersplittert und haben dementsprechend keine gemeinsam sich selber gesetzten Zielsetzungen, nicht einmal ein gemeinsames Sprachrohr wie z. B. eine gemeinsame Betriebs- und Gewerkschaftszeitung. Viele dieser Kollegen und Kolleginnen denken und handeln internationalistisch. Sie haben Kontakte zu Kollegen und Kolleginnen und Gewerkschaften in anderen Länden, aber diese Kontakte bleiben im persönlichen Rahmen oder haben nicht die erforderliche Kontinuität. Daher bleibt auch die internationale Zusammenarbeit sehr beschränkt, sehr schwach.

7. Der erste und wichtigste Schritt zur Unterstützung und Verstärkung einer wirklich effektiven, langfristigen, zielgerichteten und wirklich internationalistischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in der Türkei heißt heute, diesen kämpferischen, engagierten, aktiven, aber zersplitterten Kollegen und Kolleginnen eine gemeinsame Plattform und/oder ein gemeinsames Forum anzubieten. Es muss ein landesweites Netzwerk aufgebaut werden, wo diese KollegInnen ihre Kräfte bündeln, ihre Erfahrungen und Informationen regelmäßig austauschen können, wo sie gemeinsam diskutieren, evtl. gemeinsame Ziele festlegen und gemeinsame Kampagnen organisieren können und gemeinsam stärkere und kontinuierliche internationale Verbindungen aufbauen können. So ein Netzwerk kann und darf sich nicht als Alternative oder Konkurrenz der Gewerkschaften verstehen. Die Gewerkschaften sind trotz ihrer Schwäche und Fehler die einzigen Massenorganisationen der Beschäftigten und die erste Adresse für Millionen von Beschäftigten, um sich gegen Angriffe der Arbeitgeber zur Wehr setzen zu können. Die Aufgabe und Funktion eines solchen Netzwerkes ist nicht die Schwächung der Gewerkschaften, sondern die unbedingte Stärkung der gewerkschaftlichen Organisierung und gleichzeitig die Selbstorganisierung der Belegschaften.

Ramazan Bayram, Oktober 2007


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