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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien: Es gibt kein ruhiges Hinterland

Im armen und abgehängten Hinterland der Küste finden erneut massive soziale Unruhen statt. Dieses Mal erschüttern sie die Kreisstadt Sidi Bouzid. Zwei Selbstmord(versuch)e von Arbeitslosen in aller Öffentlichkeit fanden dort innerhalb von weniger als acht Tagen statt: am vergangenen Freitag und gestern Abend. Am vorigen Wochenende und zu Anfang dieser Woche kam es darüber hinaus zu heftigen Straßenkämpfen.

Die tunesische Jugend hat keine Angst mehr vor der Polizei. Jedenfalls nicht in der Kreisstadt Sidi Bouzid, 40.000 Einwohner/innen, circa 265 Kilometer süd-südwestlich der Hauptstadt Tunis gelegen. Das ist neu: Das nordafrikanische Land, das in Westeuropa - aufgrund des Hotelbooms für Dummtouristen (solche ohne Interesse für Gesellschaft & Leute) - fälschlich als idyllisches Quasiparadies betrachtet wird, ist ein "effizienter" Polizeistaat. Letzterer schafft es bislang sogar, effektiv das Internet zu zensieren, woran sich manch' andere Regimes die Zähne ausbeißen, denkt man nur an die Diktatur im Iran. Regiert wird er von einer Clique, die aus den Familienangehörigen von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali und vor allem der erweiterten Sippschaft seiner um mehrere Jahrzehnte jüngeren Gattin Leila Trabelzi besteht und sich hemmungslos selbst bereichert. Wie dank der Publikation der WikiLeaks-Dokumente jüngst herauskam, betrachten US-Diplomaten das dort herrschende Pack ganz offen als, wie sie sich wörtlich ausdrücklich, "Quasi-Mafia".

Tunesien ist in vielfacher Hinsicht ein zweigeteiltes Land: Die Mittelmeerküsten im Norden und Osten Tunesiens profitieren von einem (sehr) relativen "Boom", dank der Investitionen für den Dummtourismus und der Ansiedlung von Niederlassungen - oft europäischer - Firmen der Textilindustrie sowie im Autozulieferergewerbe. Hingegen wird das Hinterland, vor allem der größere Süden Tunesiens, weitgehend vernachlässigt und sich selbst überlassen. Die offizielle Arbeitslosenquote im Land beträgt 15,7 %, in Wirklichkeit liegt sie jedoch - allen halbwegs unabhängigen Beobachter/inne/n zufolge - deutlich höher. Noch wesentlich höher ist sie in Südtunesien, wo sie in ganzen Landstrichen 30 bis 40 Prozent beträgt. Ebenso wie in Marokko ist auch in Tunesien das Phänomen der ,chômeurs diplômes' bekannt, der Erwerbslosen mit Hochschulabschluss. Tatsächlich steigert in diesen Ländern die Tatsache, ein Universitätsdiplom zu besitzen, eher das Arbeitslosigkeits-Risiko denn die Jobchancen: Die höheren Positionen in der Ökonomie & Verwaltung sind alle fest in der Hand der herrschenden mafiösen Seilschaften, und die Industrie suchte eher "gering qualifizierte" Arbeitskräfte für nach Tunesien ausgelagerte "niedrige" Tätigkeiten.

Einer dieser "Arbeitslosen mit Hochschulabschluss" ist Mohamed Bouazizi, 26 Jahre alt. Er verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er als "Schwarzhändler" Obst & Gemüse feilbot - und war der einzige Verdiener in seiner Familie. Wiederholt wurden seine Waren durch die örtliche Polizei beschlagnahmt, die, wie üblich, Willkür ausübte und sich dabei zusätzlich noch selbst bereicherte. Vergangene Woche war es dem jungen Mann nun zu viel, und er ging sich beschweren - erst beim Rathaus, wo man ihn hinauswarf, und dann bei der Polizeistation, wo man seine Strafanzeige nicht entgegen nahm. Daraufhin übergoss er sich vor der Polizeistation mit Benzin und zündete sich an. Derzeit wird er in einem Spezialkrankenhaus in Tunis mit schweren Verbrennungen behandelt.

Sobald die Nachricht bekannt wurde, versammelten sich am vergangenen Freitag Dutzende von Straßenhändler"kollegen" und Jugendlichen vor dem Polizeigebäude zu einem, friedlich bleibenden, Sit-in. Am Samstag ging es weiter, doch dieses Mal vertrieb die Polizei die Protestierenden unter Einsatz von Tränengas und Knüppeln. Doch dies führte erst recht zum Aufflammen des Protests: In der Nacht und am Sonntag kam es zu "Gewalttätigkeiten". Die örtliche Niederlassung der Staatspartei RDC wurde beschädigt, Polizisten bekamen Steinwürfe ab, wobei drei von ihnen verletzt wurden. Abfallbehälter, Autoreifen und ein vor der Polizeiwache geparkter Wagen gingen in Flammen auf. Mehrere Dutzend Protestteilnehmer sollen festgenommen worden seien, von denen fünf am Montag wieder freigelassen wurden. Erst am gestrigen Mittwoch wurde eine allmähliche "Beruhigung" der Lage vermeldet.

Am gestrigen Mittwoch Abend kam es unterdessen vor Ort zu einem neuen Drama, wie heute (über Sidi Bouzid hinaus) bekannt wurde: Der junge Arbeitslose Houcine Neji, 24 Jahre alt, kletterte auf einen Strommast und stürzte sich vor den Augen einer Menge - die sich inzwischen unten versammelt hatte - in die 30.000 Volt-Leitungen.

Bernard Schmid, 23.12.2010


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