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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien: Militante Proteste erreichen die Hauptstadt Tunis und Touristenorte - Das Regime antwortet mit Zuckerbrot & Peitsche - Frankreich bietet Polizeihilfe an (Teil IV)

Teil I und Teil II und Teil III

Zuckerbrot und Peitsche: Am Montag war Tunesiens Präsident Zine ben Abidine Ben Ali im Fernsehen aufgetreten und hatte angekündigt, angeblich "300.000 Arbeitsplätze" innerhalb von knapp zwei Jahren zu schaffen - aber auch "Terroristen im Solde des Auslands" (gemeint waren militante jugendliche Demonstranten) hart zu sanktionieren. Am gestrigen Mittwoch nun feuerte er seinen Innenminister, Rafik Belhadj Kacem - und ernannte seinen Amtsnachfolger Ahmed Friaa -, dabei die Freilassung aller in der vergangenen Woche festgenommenen Protestierer ankündigend. Gleichzeitig aber nahm die tunesische Diktatur einen ihrer prominentesten politischen Opponenten fest, den Journalisten und früheren Direktor der Zeitung ,Al-Badil' (Die Alternative) Hamma Hammami. Letzterer ist der Sprecher der "Kommunistischen Werktätigenpartei Tunesiens" PCOT, über die man denken kann, was man möchte - die Partei war früher maoistisch und pro-albanisch ausgerichtet und hat ein eher vage demokratisch-marxistisches Profil -, die aber zu den wichtigsten Oppositionskräften im tunesischen Polizeistaat gehört.

Über die Hauptstadt Tunis und ihre - ärmeren - Vororte wurde eine Ausgangssperre ab 19 Uhr täglich verhängt. Dennoch fanden gestern Abend zu circa zweistündigen Straßenkämpfen in der Vorstadtzone westlich von Tunis statt. Vor dem Theater von Tunis kam es am Dienstag zu Handgreiflichkeiten von Polizisten gegen eine Künstlerdemonstration, die sich dort zu sammeln versuchte, aber auseinandergejagt wurde. Am gestrigen Mittwoch wurden aus Städten des tunesischen Südens - Douz, Kebili und Gabès - 8 bis 10 Tote durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz vermeldet. Dabei starb auch ein französisch-tunesischer Doppelstaatsbürger, Lehrer in Compiègne (rund 50 Kilometer nördlich von Paris), der an einer technischen Hochschule in Frankreich unterrichtete und eine Kugel in den Kopfel erhielt. In der Küstenstadt Sfax kam es zu zahlreichen Verletzten. Inzwischen hat die Revolte und "die Gewalt" (die, wie die internationale Presse oft ungenügend präzisiert, in massivster Form von der Staatsmacht ausgeht) auch die tunesischen Touristenstädte erreicht. Im Badeort El-Hammamet, dessen Name wörtlich ,Die Bäder' bedeutet, wurden schwere Zusammenstöße mit der Polizei vermeldet.

Am morgigen Freitag ist ein Generalstreik anberaumt, zu welchem mehrere gewerkschaftliche Strukturen aufrufen. Fünf Branchenverbände innerhalb des Dachverbands UGTT - dessen Spitze unter Kontrolle des korrupten Polizeistaatsregimes steht - sind auf oppositioneller Linie und rufen zu Aktivitäten in Solidarität mit der Jugendrevolte und gegen die mafiöse Ben Ali-Clique an der Macht auf.

Vollauf wohl ist Präsident Ben Ali offenkundig nicht mehr bei der Sache. Gestern wurde bekannt, dass er seine näheren Familienmitglieder alle bereits ins Ausland geschickt hat. Seine drei Töchter und deren Ehemänner - darunter das korrupte Schwein, pardon, der Milliardär Sakhr el-Materei - flohen inzwischen nach Kanada. Gerüchten zufolge soll bereits ein Flugzeug für Ben Ali selbst bereit stehen, dessen nähere Absichten allerdings noch unklar bleiben. Noch fällt es vielen Tunesiern schwer zu glauben, dass der seit November 1987 ununterbrochen amtierende (und mehrfach mit über 90 % der Stimmen "wiedergewählte") Präsident wirklich den Abgang machen könnte.

Frankreich bietet Polizeihilfe an

Unterdessen erklärte die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie am Dienstag Nachmittag gegen 16.30 Uhr in der Nationalversammlung in Paris, Tunesien (und Algerien) "polizeiliches Know-How" anzubieten. Dieses könnte es den - in ihren Augen überforderten - Polizeien beider Länder erlauben, "sowohl die Sicherheit als auch das Demonstrationsrecht zu gewährleisten". Tunesische Migrantenvereine in Frankreich haben am heutigen Donnerstag auf diesen Hohn in zwei Kommuniqués geantwortet.

Die Rolle der neuen Informations- & Kommunikationstechnologien

Behaupte noch mal jemand, was sich in der virtuellen Welt des Internet abspiele, habe überhaupt keinen Einfluss auf das "wirkliche Leben" in der Gesellschaft. Jedenfalls in Ländern wie Tunesien, wo nahezu sämtliche Informationen nur zensiert zu erhalten sind, spielen die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien mitunter eine zentrale Rolle für kollektives soziales Handeln. Helfen sie doch dabei, die Zensur und den allgegenwärtigen offiziellen Meinungsfilter zu umgehen und sich - etwa über Facebook und anderen "soziale Netzwerke" - auszutauschen. Zumindest, bis die Repression dann auch gegen die Akteure auf diesen neuartigen Kampffeldern zuschlägt.

Internet und Facebook waren tatsächlich wichtige Hilfsmittel für die massive Jugend- und Sozialprotestbewegung, die sich in den letzten drei Wochen in Tunesien formierte. Das Ziel erschöpfte sich dabei allerdings keineswegs darin, sich zum Plausch im Netz zu verabreden oder empörte Protestresolutionen on-line zu stellen und es dabei bewenden zu lassen. Vielmehr dienen das Internet und damit zusammenhängende Technologien lediglich als Mittel zu dem Zweck, sich zu verabreden und gemeinsame Aktionen außerhalb des virtuellen Raums zu unternehmen: Streiks von Schülern und Studierenden, kollektive Arbeitsniederlegungen von Anwälten, Demonstrationen, Besetzungen.

Eine "verlorene Generation"

Einer der Gründe - neben wuchernder Korruption, Willkürherrschaft und mangelnder politischer Freiheit - ist die Arbeitslosigkeit gerade der höher qualifizierten und jüngeren (potenziellen) Arbeitskräfte. Eine ganze Generation, und vor allem ihr höher gebildeter Teil, ist zur Perspektivlosigkeit oder zu miesen prekären Jobs verdammt.

Offiziell beträgt die - weit untertriebene - Arbeitslosenrate in Tunesien etwa 14 Prozent, doch beiden unter 30jährigen sind es demnach 30 Prozent. Unter den Hochschulabgängern sind es offiziell etwa 22 Prozent, gegenüber 10 Prozent im Jahr 2000. Die reale Quote liegt weit höher und wird auf über 35 Prozent geschätzt. Im sämtlichen Maghreb-Ländern ist die soziale Figur des , diplômé chômeur' , des Arbeitslosen mit Diplom, eine sprichwörtliche Erscheinung geworden. In Marokko, wo auch in den offiziellen Statistiken die Erwerbslosenrate mit steigenden Schulabschlüssen klettert und nicht fällt, gibt es seit nunmehr zehn Jahren eine organisierte und fest strukturierte "Bewegung der , diplômés chômeurs' . Dagegen konnte das Elend dieser Generation im Polizeistaat Tunesien, wo fast jede politische oder soziale Lebensregung erstickt wird, bislang keinen solchen Ausdruck finden.

Bernard Schmid, Paris, 13.01.2011


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