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Nigeria: Öl ohne Ende. Probleme auch – Inflation beispielsweise

Demonstration Lagos Juli 2016 gegen InflationÜber eine Erhöhung des Mindestlohns wird angesichts der Verschleppungstaktik der Exekutive und der galoppierenden Inflation gar nicht mehr gesprochen. Die beiden großen Gewerkschaftsbünde NLC und TUC hatten am 1.Mai statt der geltenden Untergrenze von 18.000 Naira einen Lohn der zum Leben ausreicht von 56.000 Naira verlangt. Während der Gegenwert des Ersteren seitdem von knapp 80 auf 49 Euro zusammengeschmolzen ist, würde der „Living Wage“ statt 246,40 heute nur noch 152,60 Euro bedeuten. Zudem waren die Gewerkschaftsbürokratien zu keinem Zeitpunkt imstande für ihre Forderung hinreichend Druck in den Betrieben und auf der Straße zu organisieren. Landesweite Mobilisierungen sind Mangelware. Dafür entwickelt sich an der Basis spontan etwas. Im Nigerdelta demonstrieren seit Wochen erhebliche Teile der Bevölkerung gegen den US-Ölkonzern Chevron und verlangen von diesem Jobs und Wohnungen“ so am Ende des Artikels „Erdölmacht am Bettelstab“ von Raoul Rigault (ursprünglich am 25. August 2016 in der jungen Welt) – wir danken dem Autor!

Erdölmacht am Bettelstab

Der OPEC-Staat Nigeria durchlebt die schwerste Krise seit Jahrzehnten. Regierung ergeht sich in leeren Versprechungen.

Von Raoul Rigault

Afrika gilt vielen Investoren als „erwachender Riese“, wo, dank exorbitanter Wachstumsraten, große Geschäfte warten und auf unbefriedigten Binnenmärkten herrliche Profite zu erzielen sind. Nigeria, die zweitgrößte Volkswirtschaft des schwarzen Kontinents beweist gerade das genaue Gegenteil. Das mit 180 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit einem Vierteljahrhundert. Im ersten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 Prozent. Für 2016 erwartet der Internationale Währungsfond insgesamt eine Rezession von 1,8 Prozent. Auch der Zuwachs um 2,7 Prozent im vergangenen Jahr hielt nicht einmal mit der rasanten Geburtenrate von 3,8 Prozent Schritt und war der geringste seit zwei Jahrzehnten.

Parallel stieg Anteil der faulen Kredite bei den Banken sprunghaft auf 12,5 Prozent. Die Inflation betrug zuletzt 16,5 Prozent und war damit so hoch wie seit 11 Jahren nicht mehr. Gegenüber dem US-Dollar wertete die Landeswährung Naira seit der Freigabe des Wechselkurses im Juni sogar um 40 Prozent ab. Ein eher theoretischer Wert, denn zu diesem Preis tauscht, angesichts der weit verbreiteten Unsicherheit, auf dem Schwarzmarkt längst niemand mehr. Wer über die begehrten Dollarnoten verfügt, behält sie lieber.

Geld ist ohnehin knapp geworden, denn bereits im April waren viele Teilstaaten nicht mehr in der Lage ihr Personal zu bezahlen. Die Zentralbank (CBN) gewährte 27 von ihnen Darlehen von zusammen 338 Milliarden Naira mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren und dem sehr generösen Zinssatz von neun Prozent. Vorausgegangen waren im Juli und September 2015 bereits zwei andere große Umschuldungen der lokalen Behörden in Höhe von 884 Milliarden Naira. Trotzdem müssen Lehrer und andere Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes häufig mehrere Monate auf ihre Saläre warten und werden mit Gehaltskürzungen um 30 Prozenten konfrontiert oder erleben wie ihre Arbeitswoche kurzerhand, wie in Ibo, von fünf auf drei Tage gekürzt wird, mit entsprechend geringerer Bezahlung.

Der Unmut. ist groß, doch Widerstand beschränkt sich zumeist noch auf verbale Proteste, da die Arbeitslosenquote neusten Zahlen zufolge von 7,8 Prozent in 2014 bereits Ende März 2016 auf 12,1 Prozent in die Höhe schnellte. Als unterbeschäftigt galten damals weitere 19,1 Prozent der Erwerbsfähigen. Selbst monatelange Streiks in einzelnen Unternehmen endeten daher zuletzt regelmäßig mit Niederlagen.

Unabhängig von der aktuellen Krise geht Nigerias Ölreichtum mit einem gigantischen Elend einher. Schon 2014 stellte die Weltbank fest, dass die OPEC-Macht die dritthöchste Anzahl an Armen weltweit aufweist. Aktuell leben 62,6 Prozent der Einwohner in Armut. 1980 waren es erst 27,2 Prozent. Laut dem zuständigen Minister Suleiman Adamu verfügen 52,7 Millionen Menschen nicht über fließendes Wasser. Der vor eineinhalb Jahren abgewählte Staatspräsident Goodluck Jonathan fand diese Zahlen völlig übertrieben und konterte mit dem Argument: so arm könne sein Land gar nicht sein, denn immerhin gehöre Nigeria, was den Privatbesitz an Düsenjets anbelange, international zu den Top Ten. Außerdem rangiere mit dem Geschäftsmann Aliko Dangote ein Einheimischer unter den 25 reichsten Menschen der Welt. Richtig ist, dass eine Studie Nigeria noch 2014 mit Blick auf Ober- und gehobene Mittelschicht als einen der am schnellsten wachsenden Märkte für Champagner ausmachte.

Die ökonomische Basis für dieses Korkenknallen war allerdings immer sehr schmal, denn 91 Prozent der Exporte und 70 Prozent der Staatseinnahmen entfallen auf Erdöl und Erdgas. Mit dem massiven Einbruch der Preise für das schwarze Gold war eine tiefe Krise unvermeidlich, denn die vielbeschworene Diversifizierung der Ökonomie, also das Schaffen neuer Standbeine beispielsweise in der Energieerzeugung, der Telekommunikation, der Automobilproduktion und der Filmindustrie blieb nicht mehr als Schall und Rauch. „Wir befinden uns immer noch am selben Punkt“, bemerkt der Vorsitzende der Bankervereinigung CIBN, Professor Segun Ajibola, resigniert. „Fast 60 Jahre nach der Unabhängigkeit reden wir über Exportförderung und die Ersetzung von Importen durch eigene Produkte.“ Weil dem keine Taten folgen, „sind wir immer noch Wechselkurskrisen ausgesetzt und verwundbar für globale Schocks und müssen als Volk auf unsere Reserven zurückgreifen, um zu überleben.“

Tatsächlich versucht auch die neue Regierung das Problem mit weiteren Auslandskrediten auszusitzen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Der sechs-Milliarden-Dollar-Kredit der Volksrepublik China im April kompensiert das Haushaltsdefizit von 11 Milliarden allerdings nur zur Hälfte. Derweil schwanden die eigenen Währungsreserven binnen Jahresfrist von 31,4 auf 23,6 Mrd. Dollar und decken nur noch die Einfuhren für vier Monate. Der Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen hat sich seit 2012 fast halbiert, die Bruttoauslandsverschuldung hingegen ist um mehr als die Hälfte gestiegen. Das Geschäftsumfeld bleibt – vorsichtig ausgedrückt – schwierig: Im Korruptionsindex belegt Nigeria unter 168 Ländern den 136.Platz. Bei der Wettbewerbsfähigkeit zählt man als Nummer 124 unter 140 Staaten zu den Schlusslichtern. Zeitweise war selbst die eigene Benzinversorgung in Gefahr und in punkto Telekommunikation verfügen weniger Nigerianer über einen Festnetzanschluss oder ein Handy als die Bevölkerung des Armenhauses Zimbabwe.

Ähnlich wie sein Vorgänger ergehen sich auch der als Hoffnungsträger 2015 ins Amt gelangte ehemalige Militärdiktator Muhammadu Buhari und seine Regierung in großen Ankündigungen. Bis zum Jahr 2030 sollen alle Bewohner über fließend Wasser und sanitäre Anlagen verfügen. Wie das bei einer Bevölkerung von dann geschätzten 257 Millionen unter Krisenbedingungen realisierbar ist, bleibt unklar. Noch lächerlicher ist das Ende April verkündete Programm des Staatschefs zur Armutsbekämpfung: Eine Million Nigerianer sollen 5.000 Naira (aktuell 14 Euro) im Monat Sozialhilfe erhalten. Die Auswahl des Empfängerkreises obliegt der Weltbank und der Bill Gates-Stiftung, da man den eigenen Staatsorganen aufgrund der Korruption nicht vertraut. Zusätzlich soll eine halbe Million arbeitslose Hochschulabgänger als „freiwillige Lehrer“ eingestellt werden und 370.000 Jugendliche irgendeine Form von „Training“ bekommen. Ihre Bezahlung wird wohl noch schlechter sein als die des festangestellten Personals.

Über eine Erhöhung des Mindestlohns wird angesichts der Verschleppungstaktik der Exekutive und der galoppierenden Inflation gar nicht mehr gesprochen. Die beiden großen Gewerkschaftsbünde NLC und TUC hatten am 1.Mai statt der geltenden Untergrenze von 18.000 Naira einen Lohn der zum Leben ausreicht von 56.000 Naira verlangt. Während der Gegenwert des Ersteren seitdem von knapp 80 auf 49 Euro zusammengeschmolzen ist, würde der „Living Wage“ statt 246,40 heute nur noch 152,60 Euro bedeuten. Zudem waren die Gewerkschaftsbürokratien zu keinem Zeitpunkt imstande für ihre Forderung hinreichend Druck in den Betrieben und auf der Straße zu organisieren. Landesweite Mobilisierungen sind Mangelware.

Dafür entwickelt sich an der Basis spontan etwas. Im Nigerdelta demonstrieren seit Wochen erhebliche Teile der Bevölkerung gegen den US-Ölkonzern Chevron und verlangen von diesem Jobs und Wohnungen. Mitte August verschärfte sich der Protest, indem man dazu überging die Werkstore zu blockieren. In den letzten Monaten gab es bereits eine Welle von Anschlägen kleiner militanter Gruppen auf Ölanlagen, die die Fördermenge um 700.000 Barrel am Tag reduzierte, mit der Forderung, der Region einen größeren Anteil an den Öleinnahmen zuzuteilen. In den drei moslemisch geprägten nordöstlichen Provinzen hat sich seit langem die IS-nahe Dschihadistenmiliz Boko Haram des Sozialprotestes bemächtigt. Ihre brutalen Überfälle kosteten bislang 18.000 Menschen das Leben und richteten einen Schaden von 8 Milliarden Dollar an. Mit Blick auf die nach UN-Schätzungen 350 Millionen illegalen Handfeuerwaffen im Land, könnte sich das als eher kleines Vorspiel erweisen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=103936
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