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„Regime change“ in Nicaragua? Welches Regime?

Friedensdemonstrationen in Nicaragua 2018Bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua infolge der gewaltsamen Proteste gegen die regierende Sandinistische Nationale Befreiungsfront (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) zeichnet sich keine Einigung ab. Die Regierung hatte entsprechend der Vereinbarung beim Dialog mit den Oppositionskräften die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) ins Land geholt, um die Situation im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen bei Protesten und Straßenblockaden zwischen April und Juli zu beobachten. Bei der Beschreibung und Beurteilung liegen Regierung und CIDH weit auseinander. Während die Menschenrechtskommission in ihrem Bericht 317 Todesfälle verzeichnete, erkennt die Regierung von Präsident Daniel Ortega nur 198 als im direkten Zusammenhang mit den Protestaktionen stehend an. In vielen Fällen macht die FSLN ihre Gegner für die Taten verantwortlich und kritisiert, dass diese Gewalttaten in dem Bericht nicht auftauchen: „Die CIDH manipulierte die Informationen, indem sie einen versuchten Staatsstreich in einen vermeintlich friedlichen Protest umwandelte und dabei bewusst auslässt, dass viele ermordete Menschen Polizisten, Staatsbeamte, Sandinisten und unbeteiligte Zivilisten waren. Ihre Todesursache waren häufig Schusswaffenverletzungen durch Putschisten“. Seit der Einsetzung einer speziellen Arbeitsgruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu Nicaragua verschärften sich die diplomatischen Auseinandersetzungen. Die aus den 12 Ländervertretern Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Costa Ricas, Guyanas, Ecuadors, Kanadas, Kolumbiens, Mexikos, Panamas, Perus und der USA bestehende Gruppe betrachtet die Reaktivierung des Dialogs als eine vorrangige Aufgabe, sucht aber auch die Zusammenarbeit mit Vertretern der CIDH und ihrer Expertengruppen. Das Parlament Nicaraguas hat sie als „interventionistische Kommission der US-Regierung in der OAS“ bezeichnet, welche „die Souveränität Nicaraguas verletzt und in die inneren Angelegenheiten eingreift“ und lehnt eine Zusammenarbeit ab…“ – aus dem Beitrag „Nicaragua: Menschenrechte, Drohkulissen und weitere Proteste“ von Rudi Kurz am 22. August 2018 bei amerika21.de externer Link – unseres Erachtens schon ausgesprochen problematisch durch die umstandslose Gleichsetzung der Proteste gegen die Ortega/Murillo-Regierung mit Protestesten gegen „den Sandinismus“ (den ja viele Ehemalige aus der FSLN teilen, die wiederum von Ortega als heutige Rechte bezeichnet werden). Siehe dazu auch drei Beiträge, die den behaupteten linken Charakter der Ortega-Regierung in Frage stellen – unabhängig von der USA-Politik, die jede auch sozialdemokratische Regierung weg putschen möchte – und den Hinweis auf die entsprechende Debatte in Lateinamerika, wie wir sie in unserem letzten Beitrag zum Thema zusammengestellt haben:

  • „Die Linke neu erfinden!“ am 19. August 2018 bei taz Latinorama externer Link ist ein von Gerhard Dilger übersetzter anonymer Beitrag, der eine heftige Kritik an jener Linken darstellt, die jede soziale Bewegung in irgendwie links regierten Ländern als ein Werk des US-Imperialismus sehen (der natürlich immer versucht, mit zu mischen) und dabei einleitend festhält: „Ich bin wütend auf diese Steinzeit-Linke, die sich mit all ihren Zweifeln, ihrer Ängstlichkeit und ihrem Schweigen zum Komplizen der blutigen Repression macht, die sich gegen eine authentische zivile Aufstandsbewegung richtet. Eine Linke, die im Vorbeigehen auch noch den Zug der Geschichte unwiederbringlich verpasst, obwohl dies ein kleineres Übel wäre… Denn während ihre Obergurus ihre Zeit damit verbringen, in ihren Foren und Denkfabriken bedächtig über „weiche Putsche“, „Revolutionen der Farben“ oder die imperialistischen Thesen von Gene Sharp zu debattieren, schwärmen die Mörder des Regimes Ortega-Murillo – ermutigt und bestärkt in ihrem heiligen „revolutionären“ Krieg – zur Jagd aus, um voller Stolz die (größtenteils unbewaffneten) Oppositionellen, die sie als „Vandalen“, „Verbrecher“ und „Terroristen“ bezeichnen, zu verfolgen, zu entführen und zu töten. Wie bequem sind diese ideologischen Orientierungspunkte, um den legitimen sozialen Protest in eine Verschwörung des CIA für einen Putsch zu verwandeln! Und wie nützlich sind sie für Ortega-Murillo, die ihre Geschäfte verteidigen und ihre Verbrechen rechtfertigen können, indem sie sich als unantastbare Revolutionäre präsentieren! Sie stellen sich als Opfer dar, die von einer Horde Jugendlicher und „rechter Vandalen, […] vom Imperialismus finanziert“, belagert werden. Dabei wollen die Protestierenden nichts anderes, als das, was sie selbst in ihrer revolutionären Phase vor 40 Jahren erreichen wollten: den Diktator zu stürzen! Welch Ironie! Und welche Verachtung! Ist es tatsächlich so, dass die Kämpfe des Volkes keinen Wert haben, wenn sie nach Meinung von Ortega-Murillo nicht in einen korrekten strategischen Kontext eingebettet, nicht zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt und nicht von ihnen angeführt werden? Sind die Kämpfe gegen eine Diktatur je nach dem gut oder schlecht, ob sie gegen eine rechte oder eine sich als links bezeichnende Diktatur geführt werden?…“
  • „Interview mit Jaime Wheelock zur Situation in Nicaragua“ am 16. August 2018 bei der ila externer Link dokumentiert ist eine der Stellungnahmen mehrerer ehemaliger führender FSLN Aktiver, die die Ortega-Regierung kritisieren und die Legitimität der Proteste verteidigen. Das spanische Interview wird von der ila so eingeleitet: „Er macht ganz klare Aussagen dazu, dass es sich bei den jüngsten Demonstrationen nicht um eine Verschwörung der USA handelte und dass die Proteste berechtigt waren. Er macht deutlich, dass an den Protesten auch viele Sandinisten teilgenommen haben. Er fordert weiterhin unmissverständlich die Auflösung der orteguistischen Paramilitärs. Vor allem aber gibt er dieses Interview Carlos Fernando Chamorro von Confidencial, das von Ortega und seinen Anhängern als Agentur des State Department und des CIA bezeichnet wird, während Wheelock durch seinen Auftritt bei Confidencial deutlich macht, dass er dieses Presseorgan für seriös und vertrauenswürdig hält… Ein ähnliches Interview hat vor einigen Tagen (27.07.2018) auch Humberto Ortega gegeben, historischer Führer der FSLN, Comandante de la Revolución, ehemaliger Armee-Chef und Bruder von Daniel Ortega…“ (für beide Interviews wird dann ein Link zu You Tube gegeben).
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=136656
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