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Über die Perspektiven der Proteste in Marokko – unter den Bedingungen eines despotischen Regimes

Demonstration in Rabat am 11.6.2017 - die grösste seit langem - es geht über die Solidarität mit den rif-Protesten weit hinausDie seit langem andauernde Mobilisierung in der Region Rif hat sich auf die Provinz Jerada ausgebreitet, einer an Algerien angrenzenden Kohleregion, die von den Behörden völlig vernachlässigt wurde. Am Ende wirken solche Protestwellen aber nur, wenn sie in Großstädten wie Rabat und Casablanca ankommen. Es ist unklar, wann das passiert. Wir bereiten uns jedoch auf diesen Moment vor, weil ein Übergreifen angesichts der gegenwärtigen Lage nicht unwahrscheinlich ist. Ein wichtiges Problem sind die noch bestehenden sozialen Grenzen. Das Bürgertum und auch linke Parteien verbreiten Angst vor Volksaufständen und meinen, dass die aktuelle Situation – so schlecht sie auch sein mag – immer noch besser ist als eine tiefgreifende politische Umwälzung. Meiner Meinung nach führen die heutigen Verhältnisse unter der herrschenden Despotie jedoch zwangsläufig zu sehr viel ernsteren Situationen. Vielleicht sogar zum Bürgerkrieg…“ – so antwortet Abdallah El Harif von der Partei Demokratischer Weg auf die generelle Eingangsfrage von Gorka Casti in dem Interview „Die Repression schürt nur die Wut“ (in der Übersetzung von Andreas Schuchardt – wir danken! – ursprünglich in kürzerer Fassung in der jungen Welt am 01. August 2018), das für das spanische Online-Magazin Viento Sur geführt worden war. Wir dokumentieren die Übersetzung des Interviews – und verweisen auf unseren bisher letzten Beitrag zu den Protesten in Marokko:

„Die Repression schürt nur die Wut“

Abdallah El Harif war bis 2012 Generalsekretär der marokkanischen marxistischen Partei Annahj Addimocrati (Demokratischer Weg). Jetzt ist er für die internationalen Beziehungen zuständig

Interview: Gorka Casti

Die marokkanische Regierung hat sich in den letzten Jahren darauf spezialisiert, die Proteste der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. In welchem Zustand befindet sich die Widerstandsbewegung heute?

Die seit langem andauernde Mobilisierung in der Region Rif hat sich auf die Provinz Jerada ausgebreitet, einer an Algerien angrenzenden Kohleregion, die von den Behörden völlig vernachlässigt wurde. Am Ende wirken solche Protestwellen aber nur, wenn sie in Großstädten wie Rabat und Casablanca ankommen. Es ist unklar, wann das passiert. Wir bereiten uns jedoch auf diesen Moment vor, weil ein Übergreifen angesichts der gegenwärtigen Lage nicht unwahrscheinlich ist. Ein wichtiges Problem sind die noch bestehenden sozialen Grenzen. Das Bürgertum und auch linke Parteien verbreiten Angst vor Volksaufständen und meinen, dass die aktuelle Situation – so schlecht sie auch sein mag – immer noch besser ist als eine tiefgreifende politische Umwälzung. Meiner Meinung nach führen die heutigen Verhältnisse unter der herrschenden Despotie jedoch zwangsläufig zu sehr viel ernsteren Situationen. Vielleicht sogar zum Bürgerkrieg.

Ist eine Konfrontation unvermeidlich?

Es ist falsch, Stabilität zu fordern, wenn die Lage der Menschen beklagenswert ist. Wir setzen uns dafür ein, mehr Kräfte in die friedliche Widerstandsbewegung in Marokko zu integrieren, um sie im ganzen Land zu verbreiten und arbeiten an einer möglichst breiten Oppositionsfront. Der Wandel kann nur stattfinden, wenn Millionen Menschen gewaltfrei auf die Straße gehen. Die Rolle der politischen Parteien und der linken Bewegungen besteht darin, den Protest gegen den König zu vereinen. Das ist unsere Strategie. Gewalt darf nicht von unserer Seite ausgehen, sondern vom Regime. Damit es sich ins Unrecht setzt.

Ist Repression also ein zweischneidiges Schwert für das monarchistische Regime?

In der Tat. Die Regierung handelte im Rif unverantwortlich und tut es nun auch in der Region Jerada. Die Repression schürt nur die Wut. Die Entwicklungsprogramme, die die offiziellen Vermittler den Leuten versprachen, sind bloßes Papier geblieben. Gleichzeitig wurde jedes Bemühen um Dialog unterdrückt. Der vorherige König Hassan II. unterdrückte zwar auch mit äußerster Härte, gestand den Oppositionellen aber auch immer eine gewisse Meinungsfreiheit zu. (Während seiner Herrschaft wurden tausende Aktivisten und Sympathisanten der beiden Vorgängerorganisationen des DW inhaftiert und viele gefoltert. Einige starben im Gefängnis während Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen; jW.) Der heutige Monarch will keinen Dialog und keinen Widerstand dulden. Das liegt daran, dass die offizielle Politik in einer anderen Welt lebt. Sie ist von den normalen Menschen durch einen riesigen, unüberbrückbaren Abgrund getrennt. Wenn sie so weiter macht, führt das zum Selbstmord.

Ihre Partei hat die Wahlen von 2016 boykottiert. Welchen politischen Preis mussten Sie dafür bezahlen?

Der von uns vorgeschlagene Boykott hatte keine großen Auswirkungen auf das Regime, obwohl nicht mehr als 20 Prozent der Berechtigten zur Wahl gingen. Dennoch halten wir aus taktischen Gründen am Boykott fest und erläutern die Gründe dafür immer wieder in den Arbeiter- und Elendsvierteln. Den Wahlen in Marokko fehlt es an rechtlichen Garantien. Sie hindern das Parlament vielmehr daran, sich für die wirklichen Probleme der Leute einzusetzen. Obendrein ist die gesamte Presse in den Händen des Monarchen. Auch die angeblich unabhängigen Blätter hängen von den Subventionen des Regimes und von den Werbeeinnahmen ab, die sie dank der königlichen Holding und den mit der Macht verbundenen Großkonzernen machen. Für uns ist es wichtiger am politischen Leben des Landes teilzunehmen als an Wahlen. Über unsere Arbeit in den Menschenrechtsorganisationen, den Gewerkschaften, Frauen- und Amazigh-Verbänden verfügen wir über Einfluss in der breiten Masse des Volkes. Der Demokratische Weg ist mit seinen 50 Ortsgruppen in Marokko, vor allem in den größeren Städten, zunehmend sichtbar. Unsere Präsenz in den abgelegenen ländlichen Gebieten müssen wir allerdings noch verdoppeln.

Das Innenministerium erwägt ein Verbot Ihrer Partei unter dem Vorwurf der „Rebellion“.

Das stimmt. Anfang Juli trat Innenminister Abdelouafi Lafit im Parlament auf und behauptete, der Demokratische Weg, die marokkanische Vereinigung für Menschenrechte und die islamische Partei für Gerechtigkeit und Nächstenliebe trieben die Bevölkerung in die Rebellion. Er tut das nicht zum ersten Mal. Vor einigen Monaten hat er uns zu einem Treffen einbestellt und mit dem Totenschein gedroht. Er warf uns vor, für das Selbstbestimmungsrecht der (von Marokko besetzten und annektierten; jW) West-Sahara einzutreten und die Leute dazu anzustacheln, ihre Rechte wahrzunehmen. Zum besseren Verständnis: In meinem Land legt der Monarch fest, dass die Pflicht der politischen Parteien darin besteht, die Bevölkerung zu kontrollieren und nicht zu agitieren. Außerdem werfen sie uns vor, Beziehungen zu einer illegalen Organisation wie der Partei für Gerechtigkeit und Nächstenliebe zu pflegen und obendrein Nihilisten zu sein. Der Presse habe ich entnommen, dass Frankreich dagegen ist, uns zu verbieten. Das beeinflusst zwar die Entscheidung der Regierung, hindert sie aber nicht daran, uns zu verfolgen. Das reicht von der Verweigerung von Räumen für Veranstaltungen und Aktionen bis zur Verhaftung  einiger unserer Aktivisten.

Wie konnte sich eine säkulare Linkspartei wie der Demokratische Weg mit einer islamistischen Kraft wie Gerechtigkeit und Nächstenliebe zusammentun?

Wir glauben, dass der Wandel in Marokko nicht nur von links erfolgen kann. Einige islamistische Parteien, wie Gerechtigkeit und Nächstenliebe oder die Oumma-Partei sind wichtige politische Akteure und legitimiert, an dem von uns vorgeschlagenen Wandel teilzunehmen. Wir treten für die Bildung einer breiten Front ein, im Dialog mit allen Kräften, die gegen das Regime sind. Auch mit den Liberalen. Wir wollen, dass die Debatte über Ideen auch öffentlich geführt wird. Wir müssen den Dialog fördern und dürfen die Islamisten nicht an den Rand drängen oder sie gar dämonisieren. Es stimmt, dass es fanatische und reaktionäre Leute innerhalb der islamistischen Bewegung gibt, aber auch Menschen, die versuchen, die Realität zu verstehen. Wir haben Gerechtigkeit und Nächstenliebe bereits gefragt, ob sie im Fall eines Regimewechsels die Scharia durchsetzen wollen und ihre Antwort lautete, dass sie für Gewissenfreiheit sind. Es ist sehr wichtig, dass wir dieses Freiheitsprinzip zulassen. Der Säkularismus, den wir für den Staat vorschlagen, kann nicht umgesetzt werden, ohne diese Menschen zu berücksichtigen. Ihre Verwandlung wird nicht über Nacht geschehen. Das Regime ist erschrocken über diese Verbindung und der Imperialismus hat Angst. Gleichzeitig erschwert diese Angst auch den Weg des Wandels in Marokko. Er braucht Zeit.

Eine ausführlichere Version dieses Interviews erschien zuerst im linken spanischen Online-Magazin „Viento Sur“.

Übersetzung: Andreas Schuchardt

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=135759
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