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Auch im Libanon greifen die Neoliberalen auf ihr weltweit verbreitetes Mittel gegen Massenproteste zurück: Die Armee und Milizen eröffnen das Feuer

Streikaufruf im Libanon gegen die Austeritätspolitik der Hariri-Regierung im Oktober 2019Ob das „System von Taif“, das am Ende eines langen Bürgerkrieges vor 30 Jahren das politische System des Libanon nach religiösem Proporz neu ordnete, jemals eine positive Funktion hatte, sei dahin gestellt, die einzigen, die darüber wirklich befinden können sind die Menschen im Libanon, die die Zeit vorher erlebt haben. Tatsache aber ist, dass heute eine (im Wesentlichen) jüngere Generation von Menschen diese Regelungen für überholt befindet – weil es jene an der Macht hält, die die Verantwortung für die kontinuierliche Verschlechterung des Lebens tragen. Die Versuche der Regierung in den letzten Monaten, diese Verantwortung an die Flüchtlinge aus Syrien und Palästina zu „übertragen“ und entsprechend eine Politik sozialer Diskriminierung durchzuführen sind, zumindest einstweilen, gescheitert. (Siehe dazu auch einen Verweis am Ende dieses Beitrags). Dass es jetzt genug sei, dass jetzt ja die Forderungen der Straße erfüllt seien – dies tönte am Lautesten in den 10 Tagen des libanesischen Oktober der Führer der Hizbollah, der in den beiden letzten Tagen noch die unumwundene Drohung hinzu fügte, die Proteste seien nun längst nicht mehr eine spontane Äußerung, sondern von „Absichten“ gesteuert. So können, von heute aus gesehen, die Proteste gegen die zusammen gebrochene Müllentsorgung vor einiger Zeit (siehe auch dazu einen Verweis am Ende dieses Beitrags) als Auftakt dieser Bewegung zur Systemkritik gesehen werden – und das darin erstmals registrierte Wirken politischer Kräfte, die den Proporz überwinden wollten und wollen als eine Option auf die Zukunft. Siehe dazu vier aktuelle Beiträge und drei Beiträge zum Hintergrund des politischen Systems und seiner Profiteure, sowie die beiden Verweise auf frühere Beiträge:

„Kein Dialog im Libanon“ von Gerrit Hoekman am 26. Oktober 2019 in der jungen welt externer Link zur aktuellen Situation und der Forderung nach Systemreform unter anderem: „… Zusammengerechnet verfügen die Christen über 63 der 128 Sitze, was jedoch nach Ansicht von Soziologen nicht mehr ihrem tatsächlichen Bevölkerungsanteil entspricht. Dieser wird auf 39 Prozent geschätzt. Das liegt an der niedrigeren Geburtenrate und daran, dass viele Christen während des Bürgerkriegs das Land verlassen haben. Mit dem Abkommen von Taif, das 1989 den libanesischen Bürgerkrieg beendet hatte, waren lediglich kosmetische Änderungen am Proporzsystem vorgenommen worden, zum Beispiel wurden die Befugnisse des Präsidenten eingeschränkt. Viele Demonstranten fordern nun ein Ende des Konfessionalismus, den sie als überholt ansehen. Auf der Straße gelingt das im Moment bereits, alle religiösen Gemeinschaften marschieren gemeinsam. Ob die Protestierenden ihre Ziele erreichen, wird vor allem von der mächtigen Hisbollah abhängen. Bis jetzt steht die Partei und Miliz fest hinter Regierung und Staatspräsident Aoun. Durch die Blume droht sie den Demonstranten sogar ein wenig. Am Donnerstag sollen Hisbollah-Anhänger laut Al-Dschasira erstmals eine Demonstration gestört haben. Offenbar kam es zu einem Handgemenge, die Polizei konnte beide Gruppen schließlich voneinander trennen. Die Ratingagentur Moody’s hatte die libanesische Regierung am Mittwoch davor gewarnt, den Demonstranten zu viele Versprechungen zu machen, wie Reuters meldete…

„Libanons „Oktoberrevolution“ am Scheideweg“ von Ramsis Kilani am 23. Oktober 2019 in der Freiheitsliebe externer Link zur aktuellen Situation, was das bekämpfte System des Konfessionalismus betrifft: „… Der Stadtkern der libanesischen Hauptstadt Beirut ist maßgeblich von der sunnitischen Hariri-Familie bestimmt. Der in Saudi-Arabien durch Öl-Geschäfte reich gewordene Rafiq Hariri gründete die sunnitisch dominierte Zukunftspartei, den eigenen Fernsehsender Future TV, die Zukunfts-Zeitung und ein Milliarden-Imperium. Der heutige Ministerpräsident Saad Hariri ist der Sohn Rafiq Hariris, der 2005 ermordet wurde – mutmaßlich im Auftrag des syrischen Machthabers Assad, was die Zedernrevolution auslöste. Die von Saudi-Arabien unterstützten Hariris haben Beirut ein neoliberales Wirtschaftsprogramm auferlegt. Privatisierungsmaßnahmen wie Gentrifizierungen und eine Neuordnung der Infrastruktur sowie eine harte Austeritätspolitik veränderten das Stadtbild. Die Hariri-Firma Solidere steht in dringlichem Verdacht von der Veruntreuung von Staatsgeldern zu profitieren.  Walid Dschumblat ist der Abkömmling einer kurdisch-drusischen Adelsfamilie und der einflussreichste Politiker der Drusen. Er ist Vorsitzender der Sozialistischen Fortschrittspartei des Libanon (PSP), die in Bezug auf die Proteste gespalten ist. Dschumblat selbst hält an der Regierung fest. Er lebt in einem Palast in Beirut und war ein enger Vertrauter und Freund des verstorbenen Rafiq Hariri. Der Parlamentpräsident Nabih Berri gilt für viele als menschgewordenes Gesicht der Korruption. Er ist der Führer der schiitischen Amal-Bewegung, die seit ihrer Gründung kurz vor Beginn des Bürgerkriegs fest an der Seite des syrischen Assad-Regimes steht. Die maronitischen Christen sind im Parlament primär durch nationalistische, rechte Kräfte vertreten. Der verurteilte Kriegsverbrecher Samir Geagea ist heute als Vorsitzender der rechtsgerichteten und zum Teil faschistischen Forces Libanaises Teil der Regierung. Der maronitische Offizier Michel Aoun stellt gemäß der konfessionellen Parität den libanesischen Präsidenten. Über den Fernsehsender Orange TV übt er politische Einflussnahme aus. Sein Schwiegersohn Gebran Bassil ist als Mitglied der Freien Patriotischen Bewegung ebenfalls Teil des Regierungskabinetts. Er fällt vor allem durch rassistische Hetze gegen palästinensische und syrische Flüchtlinge auf…“

„“Die Libanesen wollen in Würde leben““ von Diana Hodali am 27. Oktober 2019 bei der Deutschen Welle externer Link zu den Perspektiven, wie sie Protestierende haben, hier mit Ziad Saab von „Fighters for Peace“: „… Eine Mehrheit der Bevölkerung hat bei den letzten Wahlen nicht gewählt – sie haben nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, auch, weil sie wissen, dass sie keinen Wandel herbeiführen konnten. Durch dieses Wahlgesetz, das wir jetzt haben, können immer nur die gleichen Leute an die Macht kommen. Das geht gar nicht anders. Und das wollen die Menschen nicht mehr. Sie wollen Veränderung. Sie sind dazu bereit. (…) Tripoli, das einen Ruf als Hochburg von Terroristen hatte, tanzt auf den Straßen und beweist gerade, dass die Menschen leben wollen und Freude erleben wollen. Genauso ist es im Süden, dem man immer eine einheitliche politische Haltung unterstellt hat (Im Süden sind die schiitische Hisbollah und ihr Partner, die Amal-Partei, präsent – d. Red.). Dieses Mal ist etwas anders. Und ich glaube: Selbst, wenn unsere Forderungen nicht umgesetzt werden, dann kann keine regierende Partei in Zukunft so tun, als seien diese Aufstände nie passiert…“

„Liban: Au jour X…“ von Roland Richa am 26. Oktober 2019 bei Assawra externer Link zur Entwicklung bis einschließlich Samstag unterstreicht, dass die Grundforderungen im Wesentlichen in der Umverteilung –sowohl der Finanzen, als auch der politischen Macht – bestehen. Der Konfessionalismus habe dazu geführt, dass die „sieben Familien“ der Reichsten im Libanon alleine privat über rund 13 Milliarden Dollar verfügen, während es an Geld für Schulen und den öffentlichen Dienst fehle…

„Contestation au Liban: les barrages se multiplient, incidents nocturnes“ am 25. Oktober 2019 ebenfalls bei Assawra externer Link berichtet vor allen Dingen davon, dass die Anzahl der Straßenblockaden überall im Land massiv zugenommen habe – aber auch die nächtlichen Auseinandersetzungen, die rund um diese Blockaden stattfinden.

„Shots fired in Lebanon’s Tripoli as army clashes with protesters“ von Timour Azhari am 26. Oktober 2019 bei Al Jazeera externer Link berichtet aus Tripoli, dass dort Soldaten das Feuer auf eine Straßenblockade eröffnet haben. Was das erste Mal war, dass im Libanon scharf geschossen wurde, seitdem die Proteste begonnen haben.

„Hassan Nasrallah: „Le mouvement de contestation n’est plus aujourd’hui un mouvement populaire spontané““ am 25. Oktober 2019 bei Asswara externer Link ist eine Reuters-Meldung über die Konfrontation zwischen DemonstrantInnen und Hisbollah-Milizen, zu denen der Hisbollah-Sprecher unterstrich, es handele sich bei den Protesten nicht mehr um spontane Volksaktionen – was allgemein als Drohung gegen die Proteste bewertet wurde.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156382
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