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Kanadas Wirtschaftskrise und der Freihandel

Freihandelsabkommen CETA stoppen!Am 17. September sind in Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, Frankfurt/ Main, Stuttgart und München Großdemonstrationen unter dem Motto „Stop CETA und TTIP“ geplant. Während der Freihandelspakt TTIP zwischen der EU und den USA auch unter den Regierenden in Europa immer mehr an Rückhalt verliert, soll das CETA-Abkommen mit Kanada im Oktober unterzeichnet werden. Die neue kanadische Regierung des von vielen Gewerkschaften vorschnell als progressiven Hoffnungsträger gefeierten Justin Trudeau hat sich dafür genauso ins Zeug gelegt wie sein rechtskonservativer Amtsvorgänger Stephen Harper, obwohl dieser Deal die Probleme des nordamerikanischen Landes weiter zu verschärfen droht“ – so beginnt der Artikel „Kanada in der Krise“ von Raoul Rigault, ursprünglich in gekürzter Fassung am 07. September 2016 in der jungen Welt – wir danken dem Autor!

Kanada in der Krise

Schlechteste Wirtschaftslage seit der Finanzkrise 2009. Das Freihandelsabkommen CETA behebt die Strukturprobleme nicht, sondern droht die zu verschärfen

Von Raoul Rigault

Am 17. September sind in Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, Frankfurt/ Main, Stuttgart und München Großdemonstrationen unter dem Motto „Stop CETA und TTIP“ geplant. Während der Freihandelspakt TTIP zwischen der EU und den USA auch unter den Regierenden in Europa immer mehr an Rückhalt verliert, soll das CETA-Abkommen mit Kanada im Oktober unterzeichnet werden. Die neue kanadische Regierung des von vielen Gewerkschaften vorschnell als progressiven Hoffnungsträger gefeierten Justin Trudeau hat sich dafür genauso ins Zeug gelegt wie sein rechtskonservativer Amtsvorgänger Stephen Harper, obwohl dieser Deal die Probleme des nordamerikanischen Landes weiter zu verschärfen droht.

Das zweite Quartal diesen Jahres war wirtschaftlich das schlechteste seit dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009. Als Folge senkte die Bank of Canada ihre Wachstumsprognose für 2016 auf nur noch 1,3 Prozent. Eine spürbare Verbesserung erwartet Zentralbankgouverneur Stephen Poloz frühestens für Ende 2017. Selbst diese wenig rosigen Aussichten halten diverse Ökonomen für zu optimistisch. Nicht ohne Grund: Das Handelsdefizit erreichte Ende Juni den Rekordwert von 10,7 Millionen Kanadischer Dollar. Für das erste Halbjahr ergibt das bereits einen Fehlbetrag von 17,1 Milliarden. Im gesamten vergangenen Jahr waren es „nur“ 11,7 Mrd. Zugleich verringerte sich die Zahl der Vollzeitarbeitsstellen um 71.400, während die prekären Teilzeitjobs um 40.200 zunahmen. Die Erwerbslosenquote stieg auf offiziell 6,9 Prozent. Parallel fiel Erwerbstätigkeitsrate auf 65,4 Prozent und damit auf den tiefsten Stand seit 1999.

Ein umso enttäuschenderes Ergebnis als sich der Erdölpreis im Berichtszeitraum leicht erholte und die im Volksmund „Loonie“ genannte kanadische Währung im Vergleich zum US-Dollar abwertete – normalerweise eine Hilfe für Lieferungen ins Reich des wichtigsten Handelspartners. Von einer weiteren Senkung der Leitzinsen, die derzeit bei 0,5 beziehungsweise 0,75 Prozent liegen, raten Analysten einhellig ab, da sie die gefährliche Blase auf dem Immobilienmarkt insbesondere der Metropolen Vancouver und Toronto weiter anschwellen ließen. Schon jetzt ist die Lage dort nach Ansicht der Notenbank „auf Dauer nicht haltbar“. Statt noch mehr billigem Geld soll die Wirtschaft durch staatliche Investitionen ins Verkehrswesen stimuliert werden.

Eine „Geldschwemme“ für Arme wird es auf keinen Fall geben, obwohl sie bitter nötig wäre. In Ontario zum Beispiel sind drei von zehn Beschäftigten Geringverdiener. Vor fünfzehn Jahren waren es nur halb so viele. Eine Anhebung des Mindestlohnes auf 15 kanadische Dollar auch nur für die 60.000 beim Bund angestellten Billigarbeiter lehnt Ministerpräsident Trudeau strikt ab. Die Erwerbslosen trifft es noch härter. Seit den neoliberalen Reformen von Konservativen und Liberalen in den 90er Jahren sank der Anteil der Betroffenen, die in den Genuss der Arbeitslosenversicherung gelangen, von rund 85 auf unter 40 Prozent. Dementsprechend beträgt die Kinderarmut nach Berechnungen von Sozialaktivisten 19 Prozent. Die jüngst beschlossenen Alibimaßnahmen werden ihre Zahl um ein Zehntel reduzieren, obwohl das Parlament bereits 1989 beschlossen hatte, dieses Elend bis zum Jahr 2000 zu beenden.

Das 36 Millionen Einwohner-Land mit der Ahornflagge ist, obwohl Mitglied des erlauchten Kreises der führenden westlichen G7-Staaten, nach wie vor extrem von Rohstoffexporten abhängig. Erdöl, Erdgas (darunter viel per Fracking gewonnenes Schiefergas), Gold, Kupfer, Nickel, Zink, Eisenerz und die bei der Handy-Produktion unentbehrlichen Seltenen Erden stellen fast ein Viertel der Ausfuhren und sind stark von den Schwankungen der Weltmarktpreise aufgrund der globalen Konjunkturentwicklung abhängig. Mit Abstand folgen Autos und insbesondere Bauteile für die US-Produktion mit 14,6 sowie Nahrungsmittel mit 9,0 Prozent. Umgekehrt bilden hochwertige Industrieprodukte wie Kraftfahrzeuge, Maschinen, Chemieerzeugnisse und Elektronik mit 46,5 Prozent den Löwenanteil der Importe.

Von einem zügellosen Handel mit der Europäischen Union hat Ottawa wenig zu erwarten, denn die EU-Staaten mit Deutschland an der Spitze erzielen bereits jetzt permanent hohe Überschüsse im Warenaustausch. 2015 waren sie für sieben der 11,7 Milliarden Defizit verantwortlich. Auch die einheimischen Konzerne dürften Brüssel, Berlin, Paris oder Rom wenig Sorgen bereiten. Im MSCI World Index, der den globalen Aktienmarkt widerspiegelt, stehen die kanadischen Großunternehmen für armselige 3,5 Prozent des Börsenwertes, während die US-Aktiengesellschaften knapp 60 Prozent auf sich vereinen. Von den 127 dort gelisteten Firmen der zukunftsträchtigen Gesundheitsbranche kommen nur drei aus Kanada.

Abhilfe für die schwache Stellung könnte die Behebung der uralten Strukturprobleme im Inland bringen. Dazu zählt ironischerweise die Schaffung eines tatsächlich funktionierenden Binnenmarktes. Eine Aufgabe, die normalerweise im Zuge der bürgerlichen Revolution gelöst wird und anderswo im Westen im 19.Jahrhundert erledigt wurde, in Kanada aber weiter der Umsetzung harrt. Das „große provinzielle Hindernisrennen“ taufte der „Economist“ dieses Problem vor kurzem. Das angesehene britische Wirtschaftsmagazin zitierte den Logistikexperten Don Dean, der erläuterte, warum Öl- und Bergbaufirmen beispielsweise in Alberta schweres Gerät lieber aus Asien einführen als es bei Anbietern in Ontario zu kaufen. Schwertransporter benötigen in Kanada entlang der Strecke Genehmigungen von jeder Provinzregierung, Kommunalbehörde und jedem Versorgungsbetrieb. Eine solche Fahrt kann dem Unternehmensberater Dean zufolge von Ontario aus dann schon mal 27 Wochen in Anspruch nehmen. Aus Asien über die USA importiert, bedarf es hingegen nur einer Lizenz und die Instrumente sind umgehend dort, wo sie gebraucht werden.

Auch Alicia Hinarejos kam in einer Studie der Universität Cambridge zum Ergebnis, dass Kanadas Binnenmarkt für Güter und Dienstleistungen weniger integriert ist als der der EU. Die Kosten dieser Standortnachteile und Produktivitätseinbußen wurden vom Senat in Ottawa auf 130 Milliarden Loonies (99 Mrd. US-Dollar) veranschlagt. Mit dem nach langem Ringen 1994 erreichten „Agreement on Internal Trade“ wurden einige dieser Hürden beseitigt, doch die meisten blieben bestehen. So schützte die Provinz Quebec ihre Molkereien gegen Konkurrenten aus Alberta mit der Festlegung, dass Margarine nicht dieselbe Farbe wie Butter haben dürfe. Alberta seinerseits tut alles, um den Wiederaufbau der durch riesige Waldbrände zerstörten Stadt Fort McMurray lokalen Unternehmen vorzubehalten. Immerhin sprach ein Gericht in New Brunswick im April einen Mann frei, der günstiges Bier und Spirituosen für den Eigenbedarf im benachbarten Quebec gekauft hatte und vom Neu-Braunschweiger Zoll erwischt wurde. Das entsprechende Alkoholgesetz sei verfassungswidrig. Dagegen legte die Provinzregierung jedoch Berufung beim Obersten Gerichtshof ein.

Dem ehemaligen Regierungschef von Neufundland und Labrador, Tim Marshall, zufolge würde CETA europäischen Firmen größeren Zugang zum kanadischen Markt verschaffen als die eigenen Betriebe besäßen. Auch die Lage der Werktätigen wird es kaum verbessern. Bundesweite Kontrollen ergaben bereits jetzt in drei von vier Fällen Verstöße gegen das Arbeitsrecht.

Das Vorantreiben von CETA ist offenbar ein riskanter Versuch, Druck aufzubauen, um diese „etwas lächerlichen“ internen Hindernisse endlich zu beseitigen. So beschlossen die Handelsminister der Provinzen am 8.Juli die bisherige „Positivliste“ deregulierter Sektoren durch eine „Negativliste“ zu ersetzen, die eine begrenzte Zahl von Branchen vom Freihandel ausnimmt. Wieviel Wirkung das zeitigt, bleibt abzuwarten. „Provinzieller Protektionismus ist längst nicht tot“, konstatiert „The Economist“.

Siehe zum Hintergrund im LabourNet Germany die Dossiers:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=104405
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