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Updated: 18.12.2012 15:51
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Freeter Zenpan Roso – Prekäre in Japan

Seit 2004 suchen prekäre ArbeiterInnen in Japan nach neuen Wegen der Organisierung – und entdecken dabei den Anarcho-Syndikalismus wieder.

FreetersKrise und Neoliberalismus haben Japan bereits vor Jahren erreicht. In der Folge ist die Anzahl prekärer Jobs explodiert. Seit 2004 organisiert sich ein Teil der prekär Beschäftigten in der Gewerkschaft der Freeters, die in der Tradition des japanischen Anarcho-Syndikalismus nach Strategien gegen den japanischen Kapitalismus von heute sucht. Dieser Beitrag erschien erstmals in der IWW-Zeitung „Industrial Worker“.

Der japanische Nachkriegs-Traum von der Errichtung einer durch die Mittelklassen bestimmten Gesellschaft liegt heutzutage begraben unter dem Schutt der allerorts präsenten Baustellen.

In Japan rettet sich der Großteil der jungen Menschen von einem befristeten Job in den nächsten, ohne viele Aussichten darauf, jemals einen festen Arbeitsplatz ergattern zu können. Zu diesen jungen Leuten gehört auch der Großteil der UniversitätsabsolventInnen, denen eigentlich einmal die Führungspositionen zugedacht gewesen waren.

Freeter (1) sind eine neue Erscheinung im japanischen Alltag, wo das Versprechen einer lebenslangen Anstellung für die gesamte Nation heute nicht mehr ist als eine Legende aus einer toyotistischen Vergangenheit (2). Freeter sind Leute, die dazu gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt dauerhaft mit miesen Jobs zu bestreiten. Das also, was man heutzutage als „Prekariat“ bezeichnet.

Mittlerweile findet man überall in den Parks, in der Nähe von Flussufern und in anderen freien Flecken immer mehr Leute, die dort unter blauen Planen hausen. Die meisten Obdachlosen sind Männer mittleren Alters, die während der Rezession Mitte der 90er Jahre ihren Job verloren haben. Einige verbringen die Nacht in der Kabine eines Internet-Cafes, bevor sie sich am nächsten langen Tag wieder auf die Jagd nach einer Arbeitsgelegenheit machen. Was ist ihnen zugestoßen?

Die neoliberalen Reformen

Die Grundlagen der aktuellen Situation wurden unter der Decke der von einer Wachstumsblase begleiteten neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft während der 80er Jahre gelegt. Die sozialen und öffentlichen Bereiche wurde getreu den Prinzipien einer reinen Markt-Ökonomie abgebaut. Das Wohlfahrtssystem wurde ausgehöhlt – das Ergebnis war eine brutale Klassenspaltung. Die Gewerkschaften staatlich-kontrollierter Betriebe, einschließlich der mächtigen Kokuro National Railway Union wurden im Zuge der Privatisierungen aufgelöst. Sie wurden mehr oder weniger von Pseudo-Gewerkschaften aufgesogen, die sich den Interessen der Unternehmensgruppen – der Keiretsu – unterordneten.

Bis zu diesem Zeitpunkt konzentrierte sich die prekäre Arbeit – die „industriellen Reservearmee“, wie Marx sie nannte – im Wesentlichen auf die Baubranche. Die Tagelöhner (hiyatoi) lebten ghettoisiert in den heruntergekommenen Wohn- und Rekrutierungskomplexen (Yosebas) der großen Städte – Sanya in Tokio, Kamagasaki in Osaka, Kotobuki-cho in Yokohama und Sasajima in Nagoya.

Diese Arbeiter waren es, die mit Blut und Tränen den japanischen Nachkriegs-Wohlstand schufen (3). Trotz ihrer Arbeit aber blieben sie stets an den Rand der japanischen Gesellschaft gedrängt. In Boom-Phasen auf dem Bau nahm die Schikane durch die Arbeitsvermittler (Tehaishi) stets zu. Verantwortlich dafür waren meistens Gangster (Yakuza), die durch angedrohte oder ausgeübte Gewalt nicht nur einen Teil des Tagelohns einkassierten, sondern auch sonst noch alles, das sie in die Finger bekommen konnten. Heute sind viele der Yosebas verlassen, weil der Bau-Boom vorbei ist und die Methoden der Rekrutierung sich verändert haben. Anstelle die Tagelöhner mit Kleinbussen in den Yosebas abzuholen, rufen die Vermittler heute einfach zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Handy an – wenn sie die Leute brauchen. Zeitgleich mit dieser Entwicklung enstanden informelle Jobs in immer mehr Bereichen. Ausgestoßen aus den Fabriken und ihren Ghettos, haben sich die Prekären im Laufe der Zeit immer mehr über das gesamte städtische Gebiet ausgebreitet, ohne dass es noch zentrale Versammlungsorte gäbe.

Freeter vernetzen sich, bevor sie sich organisieren

Dies ist der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich 2004 die Allgemeine Freeter Union (Freeter Zenpan Roso, FZR) gegründet hat. Ursprung war die PAFF, ein Netzwerk von JobberInnen, „Arbeiters“ (4) Freeter und migrantischen ArbeiterInnen, die sich mit einigen aktiven StudentInnen zusammengetan hatten. Der Aufruf der PAFF zur Gründung einer Gewerkschaft der Freeter zeigte, in welchem Umfang die Strategien der Finanzkreise und die Arbeitspolitik der Regierung prekäre Bedingungen für einen großen Teil der ArbeiterInnen geschaffen hatte. Die Probleme der Freeter betreffen nicht nur die Freeter selbst, sondern die gesamte arbeitende Bevölkerung.

Hauptsitz der Freeter Union ist nach wie vor Tokio, mittlerweile gibt es aber mit ihr verbundene Gruppen in etlichen anderen Städten. Die Anzahl der formell eingetragenen Mitglieder liegt derzeit bei rund 100, der Einfluss der Gewerkschaft ist allerdings deutlich größer. Sie hat viele, die mit ihr sympathisieren und eine ganze Reihe von Gruppen in unterschiedlichen Bereichen beziehen sich auf die Freeter Union. Es gibt Gruppen bei den Tagelöhnern, andere, die Obdachlose unterstützen und welche, die aus migrantischen ArbeiterInnen bestehen. Dann ist da noch die anti-kapitalistische Bewegung, das sind meist Anar-chist-Innen und andere Antiautoritäre, wie das Sanya Struggling Committee, das Sanya Workers Center. Enge Beziehungen gibt es außerdem zur Tokyo Managers Union (5), die 1993 gegründet wurde und die jüngere Gewerkschaft jetzt dadurch unterstützt, dass die die FZR einen Teil ihrer Büroräume mitnutzen kann. Wie sehr sich die Situation in Japan geändert hat, erkennt man nicht zuletzt daran, dass selbst die Discount-Filialleiter der Managers Union unter der Drohung von Entlassung zu immer weiter steigender Mehrarbeit unter zunehmend prekären Bedingungen gezwungen werden.

Die Ziele

Die Kampagnen der Gewerkschaft bewegen sich weitgehend im Rahmen der Arbeitsgesetze. An den Arbeitsplätzen werden aber auch alle viele Formen der direkten Aktion angewendet, darunter das Verteilen von Flugblättern, Streikposten, Singen und andere Performances, die von Musik und Aktionen begleitet sind.

Es gibt eine Reihe von Firmen, die von der Freeter Union aufgrund ihrer Praktiken bevorzugt angegriffen werden. Darunter fallen auch jene Arbeitsvermittler, die sich besonders damit hervortun, die Tagelöhner dem Willen der Leihfirmen gefügig zu machen. Heutzutage sehen die Vermittler nicht mehr aus wie finstere Yakuza, sondern eher wie hippe, vielseitige Firmen. Ein typisches Beispiel ist die Goodwill Group (www.goodwill.com externer Link). Dort ist die Belegschaft dank der Unterstützung der Freeter Union mittlerweile gewerkschaftlich organisiert.

Die Gewerkschaft kämpft auch gegen Gesetzesvorhaben des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt, in deren Folge Niedriglöhne und Prekarität weiter zunehmen würden, so die Freeters Union.

Nach ihrem Arbeitstag treffen sich Mitglieder der Gewerkschaft in ihrem Büro im Shinjuku-Distrikt von Tokio und beantworten telefonische Anfragen. Sie hören sich die Beschwerden genau an und laden die ArbeiterInnen gegebenenfalls in das Büro ein, um den Fall ausführlich zu diskutieren. Da ein Hauptteil der Arbeit zunächst darin besteht, die ArbeiterInnen über ihre Rechte aufzuklären, gibt die Freeter Union das ständig aktualisierte „Freeter Handbook“ (6) heraus.

Um auf die Situation der Freeter aufmerksam zu machen, veranstaltete die Gewerkschaft im Jahre 2004 erstmals den „Freeters May Day“. Mittlerweile haben sich andere Gruppen angeschlossen und die Demonstration wurde in „May Day for Freedom and Survival“ (7) umbenannt. Am 1. Mai 2006 zog die Demonstration mit einem Soundsystem durch die Straßen von Tokio. Die Anzahl der TeilnehmerInnen war zwar recht übersichtlich, dafür war das Interesse der PassantInnen und der Presse an der Aktion jedoch umso größer.

Neue ArbeiterInnen, neue Identität?

Auf diese Weise ist in Japan eine Gewerkschaft entstanden, die sich als Teil des Netzwerks der radikalen anti-autoritären Bewegungen versteht. Man könnte auch sagen, sie ist wiedererstanden, denn zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab es bereits anarcho-syndikalistische Gewerkschaften in Japan wie die Shinyûkai der Drucker und die Seishinkai der ArbeiterInnen bei den Zeitungen.

Die gemeinsame Basis der Mitglieder ist ihr Anti-Neoliberalismus und in der Konsequenz Anti-Kapitalismus, wie er auch im Selbstverständnis der Gewerkschaft formuliert ist. Einige Mitglieder der Freeter Union arbeiten in einer Gesellschaft für städtische Gemeinschaft und gegenseitige Hilfe mit, die sich „Dameren“ (Allianz der Verlierer) nennt. Sie entstand Anfang der 90er in Tokio als Reaktion auf den „Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste“-Individualismus der 80er. Die Allianz setzt sich z. B. für den gegenseitigen Zusammenhalt (koryu-suru) ein. Sie betrachtet das bloße Zusammenkommen als elementar wichtig, wie auch das Miteinander-Diskutieren über die alltäglichen Probleme, also auch darüber, warum man zu den „Verlierern“ gehört. Es geht der Dameren aber nicht darum, dass Einzelne hierdurch auf die Seite der „Gewinner“ wechseln, sondern um das kollektive Wachsen.

Die Mitglieder der Freeter Union haben keine einheitliche Weltanschauung. Sie verfolgen jedoch eine Linie, zu der die Ablehnung selbsternannter Avantgarden, die Zurückweisung jeder Art von Kontrolle durch Gewalt und die Entscheidungsfindung in basisdemokratischen (horizontalen) Strukturen gehört. Diese Kultur bestand schon vor der Gründung der Gewerkschaft. Sie entwickelte sich aus einer neuen kulturellen und politischen Identität, die bei vielen Jugendlichen in Folge des Platzens der ökonomischen Blase in den 90ern Verbreitung gefunden hatte.

Im Japan der Nachkriegszeit wurden der ganzen Nation eine Reihe von Idealen aufgedrängt. Dazu gehörte es, einen guten Universitätsabschluss zu machen, eine Führungsposition zu erreichen, früh zu heiraten, ein Auto und ein Haus in der Vorstadt zu kaufen, zwei Kinder zu bekommen usw. Das Erreichen dieser Ziele diente als Maßstab für den Platz in der sozialen Hierarchie.

Heute sind diese Erwartungen in einem allgemeinen Klima der Krise schlichtweg absurd geworden und erscheinen der Jugnd als grausame Fesseln.

Die neue Generation der Freeter stellt dieses Wertesystem, innerhalb dessen sie zu Verlierern abgestempelt und an den Rand gedrängt wurde, zunehmend in Frage. Indem sie dieses Wertesystem kritisiert, sucht sie ihrer Politik und ihrer Kultur zugleich nach einem Weg, den alten Werten zu entfliehen. Die Generation der Freeter möchte den Geist der gegenseitigen Hilfe mit Leben füllen und pflegt die Ästhetik einer selbstgewählten Abkehr von den Mar-ken-Idealen. Ausgehend von der kollektiven Diskussion hat sie begonnen, mit neuen Formen des Zusammenlebens und der gegenseitigen Hilfe zu experimentieren. Dies ist der geistige Hintergrund, vor dem in Japan eine neue Gewerkschaft aufgetaucht ist, um den Kapitalismus zu bekämpfen.

Sabu Kohso (Übersetzung: robot), erschienen in Direkte Aktion 187, Mai/Juni 2008 externer Link

Anmerkungen

(1) arubaito – der japanische Begriff für Teilzeitarbeit oder Tagelohn-Jobs ist direkt dem deutschen Wort „Arbeit“ entlehnt. „ Freeter “ ist ein Kunstwort aus dem englischen „free“ oder „Freelancer“ und arubaito .

(2) Kaizen, die „kontinuierliche Verbesserung“ ist eine Komponente des Toyotismus. Man versteht darunter eine bestimmte Form der Arbeits-organisation, die in Japan entwickelt wurde. Begleitet wurde sie dort von weitgehenden Beschäftigungsgarantien, für die Kernbelegschaften einiger strategischer Wirtschafts-sektoren, wie z.B. der Automobilindustrie.

(3) Hiroshi Teshigahara zeichnet in seinem phantastischen Film „Otoshiana“ (engl. The Pitfall) aus dem Jahre 1962 ein beeindruckendes Bild dieser Zeit aus Sicht eines toten Bergarbeiters.

(4) Der Autor verwendet das Wort „Arbeiters“ im Original. Es bezeichnet in Japan jemanden, der einen Teilzeitjob oder eine ungarantierte Arbeit machen muss.

(5) Die Tokyo Managers Union ist eine kleine Angestellten-Gewerkschaft, in der sich Beschäftigte aus dem unteren Management organisiert haben, die sich von sozialem Abstieg und vom Druck zum Selbstmord zur Ehrenrettung der Firma betroffen fühlen.

(6) Das Freeter Handbook kann von der Website der Freeter Union heruntergeladen werden. http://www.freeter-union.org/resource/freeter-handbook.pdf externer Link pdfDatei. Aktuell ist lediglich eine Fassung in japanischer Sprache verfügbar.

(7) Infos zum „Ersten Mai für die Freiheit und das Überleben“ gibt es u. a. bei: http://mayday2007.nobody.jp/index-en.html externer Link


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