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„Es gab einen Machtkampf innerhalb der italienischen Bourgeoisie“

Interview von Raoul Rigault mit Sergio Cararo, zuerst gekürzt erschienen in der jungen Welt vom 07.10.2013. Sergio Cararo ist führendes Mitglied des Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten), das in der außerparlamentarischen Linken Italiens eine bedeutende Rolle spielt, und Direktor ihrer Zeitung „Contropiano“

Italienische Regierungen genießen üblicherweise keine lange Lebensdauer. Wie viel Zukunft hat Enricos Lettas Kabinett nach der gewonnenen Vertrauensabstimmung Ende September?

Die Regierung Letta wird alles andere als eine kurzlebige Angelegenheit. Mittleres Ziel ist es, in jedem Fall den Juni 2014 zu erreichen, wenn Italien für ein halbes Jahr die EU-Ko-Präsidentschaft übernimmt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die Koalition (die man in Italien „Breite Übereinkünfte“ nennt), nach Berlusconis Kapitulation, bis zum Ende der Legislaturperiode hält.

Ist dies das definitive Ende des Cavaliere oder gibt es für ihn noch eine Perspektive?

Mit Berlusconis Niederlage beim Votum über die Regierung Letta ist sein politisches Ende besiegelt. Ihn erwarten darüber hinaus noch weitere Justizverfahren, die auch Gefängnisstrafen vorsehen. Berlusconi hat Alles oder Nichts gespielt, wie ein Hasardeur (Glücksspieler), dann aber begriffen, dass er verloren hatte als 25 seiner Senatoren für die Exekutive stimmten. Man kann sagen, dass wir Berlusconis Untergang erleben.

Nach zwanzig Jahren Kampf gegen den Medienzaren und dreimaligen Ministerpräsidenten könnte man jetzt jubeln. Du sprachst allerdings von der „Falle des Anti-Berlusconismus“. Warum?

Berlusconi war ein klassisches Beispiel für die italienische Anomalie. Ein Kapitalist, der in die Politik ging, um die eigenen Privatinteressen zu verteidigen – gegen einen konkurrierenden Finanz- und Verlagskonzern, nämlich den eines Finanziers wie De Benedetti, der die große Tageszeitung „la Repubblica“ herausgibt. Fast zwei Jahrzehnte lang bestimmte der Kampf zwischen diesen beiden Großunternehmen das politische Leben und die politische Auseinandersetzung im Land.

Das Problem ist, dass, während alle bei uns ihre Aufmerksamkeit auf Berlusconi richteten und dabei den Einflüsterungen von „la Repubblica“ und ihres politisch-medialen und finanziellen Netzwerks folgten, weil ja um jeden Preis Berlusconis Macht reduziert werden musste, die tief greifendste Operation zur neoliberalen und kapitalistischen Umgestaltung der italienischen Gesellschaft vonstatten ging. Die besteht in der totalen und geradezu gläubigen Unterwerfung unter die Diktate der EU-Verträge, in Privatisierungen, Kürzungen von Löhnen und sozialen Diensten, Abbau gewerkschaftlicher und sozialer Rechte sowie institutionellen Gegenreformen und Verfassungsänderungen.

Die Parameter der Europäischen Union haben einen Teil des mittleren und Kleinbürgertums Italiens, das von den alten Systemen abhängig war, jedoch ernsthaft in eine Krise gestürzt. Deshalb ließen sie sich von Berlusconi vertreten. Es gab also einen Kampf zwischen zwei Sektoren der italienischen Bourgeoisie, einem rückständigeren und einem internationalisierteren, der mit der europäischen Dimension verbunden war. Das reichte bis zu einer Art Putsch aufgrund des Briefes den die beiden EZB-Chefs Mario Draghi und Jean-Claude Trichet am 5.August 2011 verfassten und den Blitzaktionen von Staatspräsident Giorgio Napolitano bei der Bildung zunächst der Regierung von Mario Monti und später derjenigen von Enrico Letta. Es ist schwer zu vergessen, dass ein Linksintellektueller wie Alberto Asor Rosa soweit gegangen war gar einen Staatsstreich gegen Berlusconi zu fordern (ein bisschen so wie in Ägypten). Und diesen Staatsstreich hat es – zum Glück ohne Blutvergießen – tatsächlich gegeben.

In den kommenden Wochen finden große Mobilisierungen gegen die Politik des Palazzo in Sachen Kürzungspolitik und Verletzung des Verfassung statt. Erste Einschüchterungsversuche vonseiten der Herrschenden sind bereits zu spüren. Was ist geplant und wie beurteilst Du diese Demonstrationen?

Die Demos am 18. und 19.Oktober entstanden aus den sozialen Bewegungen, die für das Recht auf Wohnen kämpfen (mit Hausbesetzungen, Blockaden von Zwangsräumungen etc.), weil das Wohnproblem zu einem gravierenden sozialen Notstand geworden ist. Die Bewegungen trafen dabei auf die Basisgewerkschaften USB, CUB und Cobas, die über einen Generalstreik diskutierten und so wurde beschlossen, an zwei Tagen eine gemeinsame Mobilisierung auf die Beine zu stellen. Am Freitag, den 18., wird es die landesweite Demo der Gewerkschaften wegen des Generalstreiks geben. Dabei wird den ganzen Nachmittag und die Nacht lang die Piazza San Giovanni in Rom besetzt. Am nächsten Tag wird von dort aus der Demonstrationszug der sozialen Bewegungen starten und die Ministerien aufsuchen, die für die diverse sozialen und ökologischen Notstände zuständig sind (daran nehmen auch Bewegungen wie die gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse Turin-Lyon, die No-Muos und andere teil). Das werden zwei bedeutende soziale, gewerkschaftliche und politische Aktionstage. Nicht nur für die Kräfte der antagonistischen (d.h. dem System unversöhnlich gegenüberstehenden; jW) Linken, sondern auch für wichtige soziale Sektoren, wie die Arbeiter, die Wohnungslosen, Schüler und Studenten und die Stadtteilgruppen.

Für den 12.Oktober hingegen – also genau eine Woche vor diesen nationalen Aktionstagen – wurde eine Manifestation zur Verteidigung der Verfassung angesetzt, mit einem Aufruf von einem demokratischen Juristen wie Stefano Rodotà und dem Generalsekretär der Metallergewerkschaft FIOM-CGIL, Maurizio Landini. Die Inhalte kann man bis zu einem gewissen Punkt teilen, auch wenn jedwede Kritik daran fehlt, dass die EU-Verträge die italienische Verfassung verzerrt haben und die konkrete Verantwortung des (aus der ehemaligen KP stammenden; jW) Präsidenten Napolitano für die gegen sie gerichteten Reformen nicht erwähnt wird. Diese Kundgebung hätten sie auch einen Monat später machen können. Doch es wurde beschlossen, sie kurz vor den anderen abzuhalten, um zu verdeutlichen, dass es eine demokratische und eine extremistische Linke gibt.

Ihr engagiert Euch als Rete dei Comunisti am Aufbau von Ross@. Inwiefern unterscheidet sich dieses Projekt von anderen Versuchen die italienische Linke zu einen, wie dem Arcobaleno (Regenbogen; jW), der Linksföderation FdS, Rivoluzione Civile oder ALBA?

Ross@ tritt öffentlich für einen Bruch mit der Europäischen Union ein und strebt eine antikapitalistische Bewegung an, die keine Bündnisse und keine Unterordnung unter die Demokratische Partei (PD) will. Die anderen Optionen, die es innerhalb der Linken gibt, schließen all dies aus. Die Aktivisten unseres Netzwerks der Kommunisten beteiligen sich in allen Städten, wo wir präsent sind, am Aufbau der antikapitalistischen Bewegung Ross@. Zum Glück sind wir nicht die Einzigen. Da machen noch viele andere Genossen mit.

Ihr habt eine Kooperation der verächtlich „PIIGS“ genannten EU-Problemstaaten außerhalb der Eurozone vorgeschlagen. Wie soll das, in kurzen Worten, aussehen?

Das ganz kurz zu umreißen, ist schwierig. Der Vorschlag des Rete dei Comunisti ist ein Prozess des Austritts aus der EU und eine Übrgangsphase für die PIIGS-Länder, die inzwischen selbst der IWF als peripher betrachtet. Austritt aus der EU, Aufbau eines neuen Wirtschafts- und Währungsraums auf Basis der Möglichkeiten und der Ressourcen dieser Länder und nicht der Diktate und der Parameter, die uns von den Oligarchien, den Multis und den europäischen Großbanken aufgezwungen werden. Unvermeidliche Schritte sind dabei die Streichung der Schulden sowie die Verstaatlichung der Banken sowie der strategisch wichtigen Industrien und Dienste (Telekommunikation, Energie, Transportwesen, Stahlindustrie).

Das ist ein Kampfvorschlag, der von den progressiven, sozialen und gewerkschaftlichen Kräften Portugals, Irlands, Italiens, Griechenlands, Spaniens und Osteuropas gemacht wird, das heißt all jenen Ländern, die durch die von der Troika aus EZB, EU und IWF durchgesetzten Maßnahmen massakriert wurden. Es ist aber auch ein Vorschlag zur gegenseitigen solidarischen Zusammenarbeit für die Länder des südlichen Mittelmeerraums (also des Maghreb), um mit dem Neokolonialismus und der Neuauflage des Kolonialismus alter Schule seitens der verschiedenen europäischen Mächte (vor allem Frankreichs) Schluss zu machen, wie wir ihn in Libyen, der Elfenbeinküste, Mali, dem Tschad oder der versuchten Aggression gegen Syrien erlebt haben und erleben.

Am 24. und 25.November werden wir in Italien eine internationale Konferenz mit politischem und wissenschaftlichem Charakter abhalten, um das zu illustrieren und die Auseinandersetzung über diesen strategischen Vorschlag zu eröffnen. Dazu sind selbstverständlich auch die deutschen Antikapitalisten eingeladen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=45836
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