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[Buchpräsentation] Die „Bewegung von 1977“ in Italien

Struggles in Italy – Information about Italian strugglesIm Februar vor vierzig Jahren, kristallisierte sich im Land eine Massenbewegung mit antagonistischen Merkmalen heraus. Begonnen um gegen die Malfatti-Reform von Schule und Universität zu protestieren, wurde sie gezwungen, sich rasch auf der politischen Ebene zu radikalisieren. Die Regierung war jene von Andreotti, die sich dank der Enthaltung der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) im Amt hielt, was die Möglichkeit des historischen Kompromisses zwischen den beiden wichtigsten Parteien jener Zeit (DC und PCI) heraufbeschwor. Die Faschisten trugen das ihre dazu bei, indem sie in der <römischen> Universität La Sapienza um sich schossen und einen linken Studenten fast umbrachten. Die antifaschistische Reaktion bestand in einer Demonstration gegen ein faschistisches Parteibüro (das in der Via Sommacampagna), die in einen Schusswechsel mit Beamten in Zivil der Spezialeinheiten verwickelt wurde, mit einem verletzten Beamten und zwei verletzten und verhafteten Genossen (Paolo und Daddo). Seit jenem Tag – es war der 2.Februar – war nichts mehr wie zuvor. Die Bewegung dehnte sich schnell aus, besetzte die Universität und in einigen Fällen die höheren Schulen“ – aus dem Artikel „Eine „anomale Geschichte“, vierzig Jahre nach der Bewegung von ’77“ von Sergio Cararo, ursprünglich erschienen am 08. Februar 2017 in Contropiano, hier übersetzt, eingeleitet und erläutert vom Gewerkschaftsforum Hannover. Siehe dazu: „Eine „anomale Geschichte“, vierzig Jahre nach der Bewegung von ’77“ – wir danken!

„Eine „anomale Geschichte“, vierzig Jahre nach der Bewegung von ’77“

Das Jahr 2017 ist reich an für die Linke bedeutenden runden Jahrestagen. Vor 150 Jahren erschein der erste Band von Marx‘ „Das Kapital“. Vor hundert Jahren fand die russische Oktoberrevolution statt. Die Ermordung Ernesto „Che“ Guevaras durch bolivianische Regierungstruppen sowie die Erschießung Benno Ohnesorgs durch den West-Berliner Polizisten Kurras bei der Demonstration gegen den Schah-Besuch, die den auslösenden Funken der Studentenrevolte bildete, sind genau 50 Jahre her und die italienische Arbeiterautonomiebewegung exakt 40 Jahre. Viel Anlass neben den politischen Tagesaufgaben die Vermittlung und Auswertung dieser Geschichte nicht zu vergessen, die vielen heutigen Aktivisten kaum bekannt ist. Zum Ausbruch der 77er-Bewegung in Italien erschien in der marxistischen Online-Tageszeitung „Contropiano“ („Gegenplan“/ „Gegenprojekt“ / „Gegenperspektive“; www.contropiano.org externer Link) vom 8. Februar 2017 ein interessanter Beitrag von Sergio Cararo. „Contropiano“ wird vom Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten) gemacht, das aus eben jener Autonomia Operaia-Revolte von 1977 / 78 hervorgegangenen ist und der größten linken Basisgewerkschaft USB nahesteht. Das Magazin zählt inzwischen zu den wichtigsten linksalternativen Nachrichtenportalen südlich der Alpen.

Eine „anomale Geschichte“, vierzig Jahre nach der Bewegung von ’77

Von Sergio Cararo

Am Donnerstag, den 16. Februar 2017 solltet Ihr Euch nichts vornehmen. Da wird in Rom das Buch „Eine anomale Geschichte“ präsentiert, eine objektive und subjektive Rekonstruktion der 70er Jahre mittels der Erfahrung einer der eben anomalsten politischen Gruppen, die in jenen Jahren entstand: der Organizzazione Proletaria Romana (Römische Proletarische Organisation – OPR). Anlass sind die vierzig Jahre, die seit 1977 vergangen sind, seit dem Verjagen Lamas <Anm. 1> aus der Universität und seit der Bewegung, die sehr viel mehr als ein weitgehend von den herrschenden Klassen kooptiertes 1968 eine Epoche gekennzeichnet hat.

Im Februar vor vierzig Jahren, kristallisierte sich im Land eine Massenbewegung mit antagonistischen Merkmalen heraus. Begonnen um gegen die Malfatti-Reform von Schule und Universität zu protestieren, wurde sie gezwungen, sich rasch auf der politischen Ebene zu radikalisieren. Die Regierung war jene von Andreotti <Anm. 2>, die sich dank der Enthaltung der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) im Amt hielt, was die Möglichkeit des historischen Kompromisses zwischen den beiden wichtigsten Parteien jener Zeit (DC und PCI) heraufbeschwor. Die Faschisten trugen das ihre dazu bei, indem sie in der <römischen> Universität La Sapienza um sich schossen und einen linken Studenten fast umbrachten. Die antifaschistische Reaktion bestand in einer Demonstration gegen ein faschistisches Parteibüro (das in der Via Sommacampagna), die in einen Schusswechsel mit Beamten in Zivil der Spezialeinheiten verwickelt wurde, mit einem verletzten Beamten und zwei verletzten und verhafteten Genossen (Paolo und Daddo). Seit jenem Tag – es war der 2.Februar – war nichts mehr wie zuvor. Die Bewegung dehnte sich schnell aus, besetzte die Universität und in einigen Fällen die höheren Schulen.

Das auf der Achse DC-PCI beruhende Machtsystem versuchte jenen Bruch zu normalisieren, indem es die CGIL <den KP-nahen, größten Gewerkschaftsbund> benutzte und ihren Generalsekretär Lama losschickte, um in der besetzten Universität eine Kundgebung abzuhalten. Die sehr harten Auseinandersetzungen zwischen dem Ordnerdienst (der mehr aus dem PCI als aus der CGIL bestand) und der Bewegung zwangen Lama am 17.Februar zu einer überstürzten Flucht aus der Hochschule. Am Nachmittag entsandte Innenminister Cossiga <Anm. 3> Bagger und Panzerwagen der Polizei, um die besetzte Universität zu räumen. Doch inzwischen war die Brutstätte zum Brand geworden.

Vierzig Jahre sind seit einer Bewegung vergangen, die weit im Voraus die Maßnahmen wahrnahm und bekämpfte, die unser Land nach und nach sozial demontierten und massakrierten: von der Deindustrialisierung bis zur strukturellen Prekarität der Arbeit, von der Beseitigung der massenhaften Schulbildung zur Rückentwicklung des sozialen Aufstiegsinstrumentes. Das erklärt die Verdrängung und die Dämonisierung jener Bewegung seitens der ideologischen Apparate des Staates und der Bourgeoisie.

In diesem Zusammenhang sind im Februar eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen über und zur genaueren Untersuchung jenes Jahrzehntes der Siebziger Jahre auf der politischen Ebene geplant. Eines Jahrzehnts, in dem viele nützliche Erfahrungen und Hinweise gereift sind und die heute Merkmale von extremer Aktualität präsentieren.

Unter diesen Initiativen möchten wir auf eine hinweisen, bei der Ihr in erster Person engagiert seid. Es ist nämlich das Buch „Eine anomale Geschichte. Von der Organizzazione Proletaria Romana zum Rete dei Comunisti“ in Druck, das von unserer Zeitung herausgegeben wird. Die erste Vorstellung des Buches wird am Donnerstag, den 16.Februar, in der Universität La Sapienza stattfinden.

Die OPR war eine politische Erfahrung innerhalb der Bewegung, in der viele der Genossen aktiv waren, die „Contropiano“ machen und das Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten) ins Leben gerufen haben. Eine „lokale“ Erfahrung innerhalb eines proletarischen Roms und die gerade in der „Proletarisierung“ der Militanten eine bewusste Entscheidung sah – in Gegentendenz zum Movimentismo <Bewegungskult>, der dennoch die Mehrheit bildete, und in Alternative zu den Gruppen der damaligen außerparlamentarischen Linken. Eine anomale Erfahrung also, die jedoch im Laufe der Zeit Standfestigkeit bewies, auch wenn sie innerhalb der Wechselfälle jener Jahre verlief. („Kein Leidensweg“, kommentierte ein Genosse aus Aversa <Anm. 4> einmal.)

In diesem ersten Band von „Eine anomale Geschichte“ geht es um die 70er Jahre und die Geburt der OPR – von den ersten Aktivistenkernen bis zur ersten Erfahrung der Lista di Lotta (Kampfliste) von 1980. Zwei weitere Bände sind in Arbeit: einer über die 80er Jahre, die somit die Phase von der Lista in Lotta bis zum Movimento per la Pace e il Socialismo (Bewegung für Frieden und Sozialismus) behandeln und der zweite über den Weg in den schrecklichen 90er Jahren bis zur Gründung des Rete dei Comunisti (Netzwerk der Kommunisten).

Die Präsentationen des Buches werden, auch wenn der größte Teil einer spezifischen Erfahrung der revolutionären Linken gewidmet ist, eine Gelegenheit zur dynamischen Auseinandersetzung und nicht zur Nostalgie sein. Jene, die in einer Veröffentlichung von 1994 die Beweggründe der Kommunisten kontinuierlich zwischen Vergangenheit und Zukunft verortete.

Anmerkungen:

1) Luciano Lama (14.10.1921 – 31.5.1996), linksreformistischer Politiker, Gewerkschaftsboss und ehemaliger antifaschistischer Partisan. Als Jugendlicher zunächst Mitglied der Sozialistischen Partei (PSI). 1944 Generalstabchef der 29. GAP-Partisanenbrigade. 1946 Übertritt in die Kommunistische Partei (PCI). Seit 1956 Mitglied des Zentralkomitees. 1958 bis Juli 1969 Abgeordneter. 1970 bis 1986 Generalsekretär des KP-nahen Gewerkschaftsbundes CGIL. Schwor im Januar 1978 in der berühmt gewordenen Versammlung im römischen Kongresszentrum EUR die Arbeiter auf „eine Politik der Opfer“ ein, um die italienische Wirtschaft zu sanieren. 1987 bis 1996 als „Unabhängiger“ auf der KP-Liste in den italienischen Senat gewählt.

2) Giulio Andreotti (14.1.1919 – 6.5.2013), christdemokratischer Politiker, Jurist und Journalist mit Mafia-Kontakten. Zwischen 1972 und 1992 siebenmal italienischer Ministerpräsident. Von 1954 bis 1989 insgesamt 27mal Minister (davon achtmal Verteidigungsminister und fünfmal Außenminister). 1991 zum voll stimmberechtigten Senator auf Lebenszeit ernannt.

3) Francesco Cossiga (26.7.1928 – 17.8.2010), christdemokratischer Politiker, Jurist und Hochschuldozent. Als Staatssekretär im Verteidigungsministerium für die Leitung der von Rechtsradikalen durchsetzten, antikommunistischen NATO-Geheimarmee GLADIO verantwortlich, worauf er noch 1990 öffentlich stolz war. Von August 1979 bis Oktober 1980 italienischer Regierungschef. November 1974 bis Januar 1976 Minister für Öffentliche Verwaltung und Regionen. Februar 1976 bis Mai 1978 für seine brutale Repression berüchtigter Innenminister. Als solcher verantwortlich für mehrere von der Polizei getötete Demonstranten. Musste nach der Ermordung des christdemokratischen Parteichefs und ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro durch die Roten Brigaden zurücktreten. Juli 1983 bis Juni 1985 Präsident des Senats. Von Anfang Juli 1985 bis Ende April 1992 Staatspräsident mit dem Spitznamen „il Picconatore“ („Der Schläger mit der Spitzhacke“), weil er das politisch-institutionelle System Italiens mit neoliberaler Zielsetzung erklärtermaßen „kurz und klein schlagen“ wollte. Am 28. April 1992 zum voll stimmberechtigten Senator auf Lebenszeit ernannt.

4) Aversa ist eine Kleinstadt mit gut 50.000 Einwohnern in der Provinz Caserta der süditalienischen Region Kampanien.

Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkungen und Einfügungen in eckigen Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover gewerkschaftsforum-H@web.de

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=117776
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