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Polizei, Scharfschützen, Mordmilizen – und dann Versprechungen der Regierung: Die Nachkriegsgeneration des Irak setzt ihren Widerstand trotzdem fort

Bagdad und der ganze Irak erleben neue Proteste - Polizei erschießt zwei Menschen„… Nach den Demonstrationen in Ägypten gegen Machthaber al-Sisi, haben einige Arbeiter*innen, Arbeitslose, zivile Aktivist*innen und Linke gesehen, dass jetzt eine Chance besteht, Leute mobilisieren zu können. Warum gehen wir nicht auch auf die Straßen? Das waren keine Solidaritätsdemonstrationen mit Ägypten, aber die Leute haben ihren Mut von den Ägypter*innen genommen. Es wurden also individuelle Aufrufe verbreitet, am Dienstag den 1. Oktober zu Protesten auf die Straße zu gehen. [Haben dich diese Massenproteste überrascht?] Nein, seit sechs Monaten gibt es verschiedene  Proteste und Sit-Ins von den frischen Uni-Absolvent*innen, die eine Anstellung beim Staat verlangen. Die irakische Regierung hat dann am zweiten Tag der Proteste in Ägypten begonnen, die Proteste in Bagdad mit Gewalt auflösen zu wollen. Das hat total viel Wut bei den Bewohner*innen in Bagdad ausgelöst und hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Parallel dazu wurde der stellvertretenden Leiter der Irakischen Anti-Terror Einheit Abdel-Wahab Al-Saadi – dem Iraqi Counter-Terrorism Service, kurz: ICTS – entlassen. Das ist jemand, der zum einen recht populär ist, weil er sich bewiesen hat im Kampf gegen Daesh [abwertende Bezeichnung für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“, Anm. d. Red.]. Zum anderen gilt er als nicht-konfessionalistisch und genießt deswegen viel Beliebtheit. Auch deswegen lag seine Entlassung im Interesse des Iran. Das heißt es gibt mehrere Gründe für die jetzigen Proteste: die anhaltende Unzufriedenheit mit der sozialen Situation, das Vorbild Ägypten, die Unterdrückung der Proteste der Absolventen*innen und zuletzt die Entlassung von Abdel-Wahab Al-Saadi...“ aus „Revolution der Arbeitslosen“ am 05. Oktober 2019 bei Dis:Orient externer Link – ein Gespräch von Ansar Jasim mit einem Aktivisten aus Bagdad. Zur aktuellen Entwicklung im Irak vier weitere aktuelle Beiträge und der Hinweis auf unseren ersten Bericht zu den neuerlichen Protesten:

  • „„Reformplan“ nach Krisensitzung im Irak „ am 06. Oktober 2019 bei der ANF externer Link über die Reaktion – außer den Todesschüssen – der irakischen Regierung auf die fortgesetzten Proteste: „… Am Samstagabend rief Ministerpräsident al-Mahdi schließlich sein Kabinett zur Krisensitzung zusammen und präsentierte anschließend einen 17-Punkte-Plan. Die Reform umfasse unter anderem eine Aufstockung der subventionierten Wohnungen für Menschen ohne Einkommen. Zusätzlich soll in Basra 17.000 Wohnungslosen innerhalb der nächsten vier Wochen Bauland für Häuser zur Verfügung gestellt werden. Außerdem seien Arbeitslosenleistungen sowie Ausbildungsprogramme und Kleinkreditinitiativen für Jugendliche vorgesehen. Um die Arbeitslosenquote bei Männern im Alter von 18 bis 25 Jahren zu senken, soll freiwilliger Wehrdienst ermöglicht werden. Die Schulden der Landwirte wurden nach Regierungsangaben bis Januar 2020 auf Eis gelegt. Pflegebedürftige und Kranke, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, erhalten Unterstützung von den Gouverneursämtern und zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen. Eine weitere Leistung, die von al-Mahdi angekündigt wurde, seien Auszahlungen an Familien von Demonstranten, die in den letzten Tagen bei den Protesten gegen die Regierung getötet wurden. Solche Hilfen wurden im Irak bisher nur Angehörigen von Sicherheitskräften gewährt, die bei Kriegshandlungen ums Leben kamen. Der 17-Punkte-Plan beinhaltet allerdings nicht die Hauptforderung der Protestierenden, Korruption zu bekämpfen und die Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen…“
  • „We followed with sadness and sadness what happened today in the tahrir square“ am 01. Oktober 2019 bei den Workers against Sectarianism externer Link (Facebook) ist eine Erklärung und ein Aufruf der überparteilichen Initiative, das Recht auf Demonstration und Protest, wie es die irakische Verfassung vorsehe, zu verteidigen, die Angriffe auf Demonstranten und Demonstrantinnen von Seiten der Staatsmacht und von Milizen sofort einzustellen und die Verantwortlichen für die Untaten zur juristischen Rechenschaft zu ziehen. Die Stellungnahme endet mit dem Aufruf, die berechtigten Proteste fortzusetzen und der grundlegenden Positionierung, dass das politische System, das auf Repräsentanz religiöser Gemeinschaften beruhe, zu bekämpfen sei.
  • „Erklärung der Irakischen Kommunistischen Partei“ am 06. Oktober 2019 bei Red Globe externer Link übersetzt, unterstreicht unter anderem: „… Am vierten Tag in Folge gingen in Bagdad und vielen anderen Provinzen und Städten Massen von Menschen auf die Straße, setzten ihre legitime Protestbewegung fort und sahen sich scharfen Kugeln und anderen Formen übermäßiger Gewalt gegenüber, die zum Tod von Dutzenden von Märtyrer*innen und Hunderten von Verwundeten unter Demonstrierenden und Sicherheitskräften führten. Wir bekräftigen unsere Unterstützung für diesen friedlichen Massenaufstand und unsere Unterstützung für die legitimen Forderungen der Demonstrierenden und betonen gleichzeitig die Notwendigkeit, die Gewalt gegen sie einzustellen. In diesem Zusammenhang und als Reaktion auf die Forderungen der Demonstrierenden sind wir der Ansicht, dass es an der Zeit ist, sich der Option der Bildung einer Regierung mit Ausnahmerechten zuzuwenden, der auch Persönlichkeiten angehören, die für ihren Patriotismus, ihre Kompetenz und Integrität bekannt sind. Es muss Schluss gemacht werden mit dem verhängnisvollen Konzept der Quote der Machtteilung (Anm.: nach religiösen oder ethischen Zugehörigkeiten). Diese Regierung sollte sich, sobald sie die Macht übernimmt, mit den dringendsten Aufgaben befassen, einschließlich: Die Opfer der Proteste als Märtyrer des Volkes zu erklären und alle inhaftierten Demonstrierenden freizulassen. Aufrechterhaltung und Gewährleistung der Sicherheit und Ergreifen wirksamer Maßnahmen, um Waffen ausschließlich unter die Kontrolle des Staates zu bringen. Beginn ernsthafter und konkreter Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption und zur Verurteilung der Angeklagten auf allen Ebenen, insbesondere der korruptesten, vor Gericht. Beginn einer großen Kampagne zum Bau von anständigen Wohnungen und deren Verteilung an die Armen und all jene, die keine Häuser für ihre Familien haben. Bildung eines Rates für den öffentlichen Dienst, dem alle Ernennungen im Staat übertragen werden, um einen fairen Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten für alle Bürger zu gewährleisten. Monatliche Einkommen für arme Bürger*innen und arbeitslose Jugendliche bereitzustellen, um sie vor Not und Elend zu bewahren. Abschaffung ungerechtfertigter „Sonderbesoldungen“. Die Gehälter der drei Präsidentschaften (Präsident, Premierminister und Parlamentspräsident), der Minister, der Mitglieder des Parlaments und der „Sonderbesoldungsgruppen“ um mindestens 50 % zu senken und alle ungerechtfertigten Privilegien und Zuweisungen abzuschaffen. Annahme eines sofortigen und schnellen Programms zur Förderung der produktiven Sektoren, das Arbeitsplätze schaffen würde. Diese und andere dringende Maßnahmen können die aufgeheizte irakische Gesellschaft beruhigen und den legitimen und dringenden Forderungen der Menschen gerecht werden…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=155461
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