»
Mauritius »
»

Rebellische Insel Mauritius

Lalit LogoIn Europa aus wird allzu oft und sehr abstrakt über „Afrika“ gesprochen und dabei der Eindruck erweckt, als ob es sich um ein relativ homogenes Gebilde handle und nicht um einen riesigen Kontinent mit extrem unterschiedlichen Gesellschaften und Lebensbedingungen. Von Mauritius wissen die wenigsten überhaupt, dass es ein eigenständiger Staat ist, wenn überhaupt kennt man es als Urlaubsparadies – für die Upperclass. Wir wissen anderes zu berichten und dokumentieren die gekürzte und übersetzte Fassung eines Textes von RajniLallah, einer Organizerin von LALIT, einer kleinen linken Partei in Mauritius, die uns eine andere Geschichte erzählt, die einer rebellischen Inselrepublik, die den Traum vom Sozialismus noch längst nicht aufgegeben hat“ – so die Einleitung zum Beitrag „Der Kampf um Sozialismus in Mauritius“ von Rajni Lallah, ursprünglich auf Englisch am 26. Januar 2017 bei Pambazuka erschienen, jetzt in deutscher Übersetzung von Nadja Rakowitz – wir danken!

Der Kampf um Sozialismus in Mauritius

Von RajniLallah*

In Europa aus wird allzu oft und sehr abstrakt über „Afrika“ gesprochen und dabei der Eindruck erweckt, als ob es sich um ein relativ homogenes Gebilde handle und nicht um einen riesigen Kontinent mit extrem unterschiedlichen Gesellschaften und Lebensbedingungen. Von Mauritius wissen die wenigsten überhaupt, dass es ein eigenständiger Staat ist, wenn überhaupt kennt man es als Urlaubsparadies – für die Upperclass. Wir wissen anderes zu berichten und dokumentieren die gekürzte und übersetzte Fassung eines Textes von RajniLallah, einer Organizerin von LALIT, einer kleinen linken Partei in Mauritius, die uns eine andere Geschichte erzählt, die einer rebellischen Inselrepublik, die den Traum vom Sozialismus noch längst nicht aufgegeben hat.

Das politische System in der aktuellen Krise

Mauritius wird seit 2014 regiert von einer Koalition, die sich Peoples’ Alliance nennt und aus drei Parteien MSM (MauritianSocialist Movement), PMSD (Mauritian Social Democratic Party) und ML (Liberating Party, die eine Abspaltung von der Partei Mauritian Militant Movement, MMM) besteht. (…)

Aber das politische System, das der Kapitalismus geschmiedet hat, um seine Herrschaft auch in der Krise fortzusetzen, ist selbst in der Krise. Diese Krise ist aber eine des kapitalistischen Systems selbst – und zwar auf globaler wie nationaler Ebene,beideunauflösbar miteinander verwoben. Die Wahl von Donald Trump als US-Präsident reflektiert zum einen die schon existierende politische und ökonomische Krise, zum anderen ist sie Ursache für eine zukünftige Vertiefung der Krise. In der ganzen Welt, einschließlich Mauritius, werden die politischen wie ökonomischen Verhältnisse zunehmend bizarr.

Ökonomische Krise

Mauritius befindet sich gerade im Sog einer schweren Wirtschaftskrise. Genauer gesagt gehen wir hier gleichzeitig durch sich gegeneinander hochschaukelnde Wellen von Krisen des Kapitals. Jede ist für sich genommen besonders, aber alle reflektieren die allgemeine Krise des Kapitalismus.

In Mauritius kamen wir in die erste systemische Krise mit dem Ende des Zucker-Abkommens mit der Europäischen Union und dem Ende des Protektionismus für unsere Textilindustrie; die Zucker- und die Textilindustrie waren die zwei großen Arbeitgeber. Um die Zuckerindustrie herum hatte sich sprichwörtlich über Jahrhunderte ein “historischer Block” gebildet, der die – immer auch prekäre – kapitalistische Herrschaft über eine große und rebellische Arbeiterklasse ermöglichte. Das Ende des Protektionismus auf diesen beiden Märkten bedeutete die Vernichtung zehntausender Arbeitsplätze und destabilisiert diesen historischen Block bis heute.

Gerade als diese spezifische Krise in Mauritius begonnen hatte, kam die Weltwirtschaftskrise.Erst kam die Öl-Krise, dann die Lebensmittelkrise, dann die Finanzkrise, endlich die Weltwirtschaftskrise und jetzt noch die Vertiefung einer unkalkulierbaren und mehrdimensionalen ökologischen Krise. Die Geschwindigkeit dieser Krisen war in den letzten 15 Jahren schwindelerregend.

Das ist nicht neu.

Mauritius ist und wird auch in Zukunft schwer getroffen von der ökonomischen Krise, vielleicht sogar mehr als andere Länder, aus dem einfachen Grund, dass Mauritius, als Nation erfunden wurde von dem aufkommenden kapitalistischen System: die Insel wurde erst durch niederländische, dann durch französische und englische Kolonisation überhaupt erst bevölkert und durch den Sklavenhandel, den dieses kolonialistische System implementierte. Es gibt für uns also keine vorkapitalistische Stabilität, von der wir träumen könnten. Seit der Kolonialzeit war das historische Agreement, dass die Zuckerplantagen, denen 70 Prozent des fruchtbaren Bodens von Mauritius gehören, Zuckerrohr anbauen und Zucker für Großbritannien produzieren. Dieses koloniale Agreement hatte auch lange noch nach der Unabhängigkeit Bestand, indem der britische Staat Preise und Abnahmemarkt garantierte und so sprichwörtlich auch die Profite der Zucker-Oligarchie.

Vor noch nicht allzulanger Zeit, aber vor der gegenwärtigen Krise, rutschte Mauritius vom weltweiten “Zucker-Boom” Mitte der 70er Jahreplötzlich in die ökonomische Krise der späten 70er Jahre, als die Einkommen aus den Zuckerexporten nicht mehr ausreichten für den Import von Waren zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Nach zwei Abwertungen der mauritianischen Währung hatten die Arbeiter die Hauptlast der Krise zu tragen. Und statt dass die herrschende Klasse darüber nachdachte, welche Langzeitperspektive die Zuckerindustrie wirklich hat, setzte sie auf Textilindustrie und Tourismus, während der Staat den Zuckerindustriellen mehr und mehr Zugeständnisse bei den Steuern machte – hauptsächlich durch eine Reduktion der Exportabgaben für Zucker. Die Zuckerindustrie produzierte weiter Zuckerrohr und investierte in Textilien und Tourismus, bediente die Märkte der EU und strich kurzfristige Gewinne ein. Später haben diese Firmen die von mauritianischen Arbeitern erwirtschafteten Überschüsse in anderen Ländern investiert, wo sie oft ihr Kapital verloren, obwohl sie dort auf noch schlimmere Ausbeutung der Arbeiter aus waren.

In den 1980ern wurden die Exportabgaben auf Zucker so lange gesenkt, bis sie ganz verschwanden. So produzierten die ungerechten Grundbesitzverhältnisse keine Steuern mehr, die die Rechtfertigung der Ungleichheit ein wenig hätten verschleiern können.

Zur selben Zeit fusionierten Zuckermühlen, und es setzte eine massive Mechanisierung auf den Feldern ein, was die Produktionskosten senken sollte. Wieder einmal, wie schon in den 1970ern, hatten die Arbeiter die Hauptlast der Krise zu tragen, weil diesmal die Jobs selbst (und nicht nur die Löhne) kaputt gemacht wurden. Schon damals stiegen die Preise, die Zucker erzielen konnte, weder real noch im Verhältnis zu den Preisen der Importe. Aber die Zuckerindustrie überlebte wegen des Protektionismus durch das Zucker-Protokoll der EU, durch den mauritianischen Staat und wegen des relativ starken sozialen Zusammenhalts des „historischen Blocks“ rund um das Zuckerrohr und die Zuckerproduktion.

Aufeinander folgende Regierungen haben eine ganze Serie von Maßnahmen initiiert und gefördert, die die sinkenden Real-Preise, die die Zuckerexporte erzielten, auffangen sollten mit einem einzige Ziel: die Profitmargen der Zuckerunternehmen und damit die Unternehmen als solche zu retten. Ebenso haben verschiedene Regierungen die Aufteilung von Anbau und Pressung des Zuckerrohrs in verschiedene Unternehmen begünstigt. Sie haben die Umwandlung von Land, das gesetzlich zur Produktion von landwirtschaftlichen Güternbestimmt war,in Land mit einem „nicht-landwirtschaftlichen“ Status begünstigt. Ebenso die Parzellierung des Landes.Und sie haben den Verkauf von zur Landwirtschaft bestimmtem Land unterstützt. Sukzessive haben Regierungen die Zentralisation von Zuckermühlen vorangetrieben, was nichts anderes bedeutete als Schließung von Mühlen und Entlassung von Beschäftigten. Die Arbeiter wurden dafür bezahlt, ihre eigenen Jobs abzubauen, die nun von großen Erntemaschinen gemacht werden usw.

Die Regierung unterstützte Zuckerplantagen bei der Produktion von Elektrizität mit den Rückständen der Zuckergewinnung (…) und diese an die Staatliche Elektrizitäts-Gesellschaft (CEB) zu einem höheren Preis zu verkaufen als Strom, der von dieser selbst produziert ist – und so das Land weiterhin zur Geisel des Zuckerrohrs zu machen.

Die einzige Ausnahme davon war allerdings noch schlimmer: Im Rahmen des Integrated Resorts Scheme-Projekts wurde Zuckerunternehmen erlaubt, tausende Morgen an fruchtbarem Land erst an der Küste, dann in den Hügeln von Mauritius in abgeschottete Luxus-Siedlungen für den internationalen Jetset zu verwandeln.

All diese Maßnahmen dienten nur dem einen Zweck, die Profite der Zuckerindustrie sprudeln zu lassen. Ohne die geringste Rücksicht auf die Existenzgrundlagen der Landarbeiter, die ohne Jobs da standen, und auf die 30.000 bis 40.000 kleinen Zuckeranbauer, die die Mühlen der großen Zuckerindustrie mit Zuckerrohr belieferten, ohne Rücksicht auf die arbeitende Klasse und die Rentner, die jetzt mehr für ihren Strom bezahlen müssen. Mit dieser Strategie, das Land einerseits zu betonieren und andererseits an ausländische Millionäre zu verkaufen, implementieren der Staat und die Bourgeoisie zusammen eine katastrophale Strategie, die riskiert, Ressourcen der Zukunft zu zerstören, die ein gutes Leben für Jeden ermöglichen könnten.

Seit dem Jahr 2000 beschleunigte sich dieser Prozess:eine rasante Mechanisierung der Ernte führte zum VoluntaryRetirement Scheme, das 45.000 Jobs in den Zuckermühlen zerstörte und Saisonarbeit während der Zuckerrohrernte wieder einführte; jedes Jahr schloss im Durchschnitt eine Mühle, so dass heute nur noch vier Zuckermühlen übrig sind gegenüber 21 Mühlen in den 1970e rn.

Die Zuckerindustrie, die die raisond’être des Landes war, beschäftigt heute statt damals 50.000 nur noch 5.000 Menschen. In der Textilindustriewaren in den 80ern 100.000 Menschen beschäftigt, heute nur noch ca. 40.000, von denen die Hälfte Migranten aus China, Madagaskar oder Bangladesch sind. Weil die mauritianischen Bosse ihre Textil- und Zuckerproduktion verlagert haben, sind all die Profite, die in 30 Jahren mit Schweiß und Blut der Arbeiter produziert wurden, verschwunden in Investitionen in China, Madagaskar, Bangladesch, Indien, Kenia, Mozambique, Tansania, Swasiland und in der Elfenbeinküste. Dort suchen sie nach größerer Ausbeutung und hinterlassen keine Spuren von ökonomischer Entwicklung in Mauritius.

Die Krise der Zuckerindustrie ist so tiefgreifend, dass auch eine Entwertung oder eine Abwertung der Rupie nicht hilft.Der Zuckerpreis ist dermaßen gefallen, dass viele Zuckerbauern ihr Land aufgegeben haben; auch eine Zuckermühle ist erst ab 100.000 Tonnen profitabel.

So kam – wenig überraschend – die Krise und die kapitalistische Antwort darauf.Die neue Säule der Wirtschaft, die Tourismus-Industrie, die vorranging nach Europaund Südafrika schielt, um ihre Luxus-Hotels zu füllen, wurde dann von der Finanz-Krise und der Euro-Krise getroffen.(…)

Inzwischen haben die mauritianischen Kapitalisten,besonders die in der Zucker-, Hotel- und Bauindustrie, Schulden in Höhe von 5,5 Milliarden US-Dollar angehäuft. Sie sind verzweifelt. Die neue Regierung hat ihnen, wie immer, in den letzten zwei Jahren geholfen, indem sie ihnen gigantische Steuererleichterungen für Immobilien gewährte. Der komplette Süden, Osten und Westen der Insel Mauritius von den Bergen zu den Küsten ist vom Ausverkauf durch verschiedene Projekte bedroht, die z.B. “Smart”-City-Projekte heißen und nichts anderes sind, als Villa-Projekte für reiche Leute oder Hotel-Projekte. Im Norden ist das alles schon vor Jahrzehnten passiert. Kapital wurde freigesetzt, um in Immobilienspekulationen investiert werden zu können – mit einem doppelten Effekt:primär landwirtschaftlich nutzbares Land wird zerstört und transformiert in Spekulationsobjekte und verkauft für astronomische Preise auf der einen Seite, und auf der anderen lässt das die Land- und Wohnungspreise für die Mehrheit der arbeitenden Menschen steigen.

Die Zerstörung ist immens.Und sie istin Wirklichkeit –das ist das dritte und am meisten alarmierende Moment –eine neue Form der Kolonisation.

“Gatedcommunities” gibt es immer mehr in der Nähe von Stränden, Marinas, Jagdgründen, Golfplätzen, in den Bergen und staatlich geschützten Waldgebieten. Es gibt kleine Kolonien von sehr reichen Menschen aus Südafrika, Europa, Russland, Saudi-Arabien, die dafür, dass sie 500.000 US-Dollar für Wohneigentum ausgeben, für ihre Familien eine Daueraufenthaltserlaubnis bekommen. Im Rahmen des “Smart” City-Projektes können sie sogar eine mauritianische Staatsbürgerschaft für fünf Millionen US Dollar kaufen. Diese geschlossenen und bewachten Siedlungen beginnen, sich miteinander und über große Highways auch mit Shopping Malls zu verbinden – wie unheimliche Repliken von israelischen Siedlungen in Palästina. Es ist, als ob Israel der Prototyp für den Alptraum der Welt der Zukunft wäre. Das ist schon Wirklichkeit in Mauritius und, wie wir befürchten, in vielen Ländern, wenn – und das ist wichtig – wir uns nicht organisieren und Widerstand leisten.

Privatisierung

Der öffentliche Sektor ist geschrumpft und er schrumpft weiter mit den Angriffen der neo-liberalenPrivatisierungsmaßnahmen von mehreren Regierungen: die am meisten gewinnträchtigen Sektoren des öffentlichen Dienstes sind dabei, privatisiert zu werden: Energiegewinnung,Post, Telekom, während andere Sektoren wie die Hochschulausbildung und das Gesundheitswesen ebenso privatisiert werden. Das Ergebnis ist Arbeitsplatzabbau, Verschlechterung der Löhne, der Arbeitsbedingungen und der Jobsicherheit.Die Wasserprivatisierung steht als nächstes an.

In den letzten Jahren hat die Regierung das Gesundheitswesen als aufstrebenden Sektor der Wirtschaft präsentiert, was mauritianische Kapitalisten schon lange gefordert haben. Die Regierung hat vor kurzem eine Maßnahme eingeführt, die es Arbeitern erlaubt, “ihr” Geld nicht in die Sozialversicherung, den EmployeesWelfare Fund, einzuzahlen, sondern in eine private Krankenversicherung; eine Maßnahme, die darauf zielt, das größtenteils exzellente öffentliche und frei für alle zugängliche Gesundheitssystem in Mauritius auszuhöhlen, die privaten medizinischen Kliniken zu unterstützen und neue Investitionsmöglichkeiten für Versicherungen zu eröffnen. Nebenbei wollten wir erwähnen, dass es Mauritius wie nur wenigen anderen afrikanischen Ländern gelungen ist, seitmehr als 40 Jahren den Anforderungen des Internationalen Währungsfonds wie der Weltbank zu widerstehen. Das ist nicht zuletzt gelungen durch die bewusste Artikulation linker Kämpfe und Positionen, oft im Umfeld von LALIT, der Gewerkschaftsbewegungund einer auf Graswurzelebene hochgradig organisierten Gesellschaft. Erst seit kurzem beginnt dies zu bröckeln.

Soziale Krise

Die ökonomische und politische Krise, die wir beschrieben haben, hatzusätzlich zu den ökonomischen Effekten schmerzhafte und oft gefährliche soziale Folgen.

Auch wenn es Hotels und Fabriken in so genannten “Freien Zonen” auf dem Land seit 40 Jahren gibt, drehte sich das Leben doch wie seit 200 Jahren rund um die Zuckermühlen. Jetzt, wo die Zuckermühlen geschlossen sind und der Zuckerrohranbau nicht mehr viele Leute beschäftigt, hat der soziale Zusammenhalt in den Dörfern gelitten. Die Menschen erfahren das als soziale Verwerfungen.

Diese Verwerfung folgt einer früheren Verwerfung in den städtischen Gebieten. Die Menschen machten die Erfahrung einer ökonomischen Krise als ausgebildete Handwerker – Schneider, Schuhmacher, Schreiner–, deren Arbeit ersetzt wurde durch Fabriken; die Arbeit wurde zu Saisonarbeit, Gelegenheitsarbeit, befristete Arbeit, und die kleineren Fabriken, die Schuhe oder Möbelherstellten, schlossen ungefähr zu selben Zeit, als die große Textilindustrie ihre Werke schloss. Das wurde und wird immer noch als Verwerfung (dislocation) wahrgenommen.

Jeden Tag sind die Zeitungen voll von tragischen Dramen und Verbrechen innerhalb von Familien oder zwischen Nachbarn, von gewalttätigen Erbstreitigkeiten, Eifersuchtsgeschichten, Bandenkriminalität, als ob sich die Verzweiflung, die die kapitalistische Herrschaft produziert hat, personifiziert.

Glücklicherweise gibt es aber – wenn auch geschwächt durch Technologie und repressive Gesetze –eine Arbeiterklasse.Glücklicherweise gibt es Leute, die Erfahrung haben mit der Arbeiterklasse und als lokale Anführer auftreten können. Und glücklicherweise gibt es Parteien wie LALIT.

Die Arbeiterklasse

Zusammenfassung d. Übers.: Die Arbeiterklasse in Mauritius war für die Kapitalisten schon immer schwer beherrschbar. Mindestens seit den 1930er Jahren gibt es eine Tradition von militanter Gewerkschaftsbewegung und politischer Mobilisierung. 1979 gab es einen zweiwöchigen Generalstreik mit der Forderung nach Anerkennung der Gewerkschaften und dem Erhalt der Zuckermühlenarbeitsplätze, weil dort die neuen Technologien drohten. Er war zunächst nicht erfolgreich, aber ein Jahr später waren die Proteste so heftig, dass sie ihr Ziel erreichten. Dennoch war klar, dass es durch die Mechanisierung der Zuckerrohrindustrie über kurz oder lang massive ökonomische Veränderungen geben würde.

Paul Bérenger, der Vorsitzende der Partei MMM war der Anführer des Streiks von 1979.  MMM hatte in dieser Zeit noch die Verstaatlichung bestimmter Industrien und eine allgemeine Demokratisierung in ihrem Programm stehen. Sie wurde dann auch 1982 von einer großen Mehrheit gewählt mit der Hoffnung, dass MMM den „Sozialismus“ bringen würde.  Allerdings hatte MMM da schon einen Schwenk gemacht Richtung Konsenspolitik. Berenger, der mit den Wahlen 1982 Finanzminister wurde, verfolgte dann selbst eine neoliberale Politik gegen die Arbeiterklasse. Lalit de Klasals Strömung in der MMM hatte diese schon 1976 verlassen und bildete eine eigene Partei: LALIT, die zusammen mit Gewerkschaften gegen die neoliberale Politik kämpfte. Es kam zu einer weiteren Abspaltung von MMM: MauritianSocialist Movement, MSM.

Widerstand bei den Wahlen

Seit 1983 war die Arbeiterklasse mehr und mehr in die Defensive gezwungen, weil sie eine Welle neoliberaler Angriffe nach der anderen erlebte.Die Mechanisierung in der Zuckerproduktion und in den Docks, wo die Arbeiterklasse am stärksten war, schwächte sie, weil Jobs verloren gingen, und viele von ihnen waren für immer verloren und wurden nicht in neue verwandelt. In den 1980ern wuchs die Textilindustrie in denFreihandelszonen schnell und wurde bald zum größtenArbeitgeber. 200 Jahre Erfahrung im Klassenkampf und politische Erfahrung der Arbeiter in der Zuckerindustrie und in den Docks konnte nicht so einfach der neuen Generation an ihre Arbeitsplätze weitergegeben werden. Die Freihandelszonen und die Hotels zogen jungen Leute und Frauen an: eine neue Generation von jungen Arbeitern ohne Erfahrung.Die Arbeiterklasse war unter dem doppelten Druck der rapiden ökonomischen Veränderungen und dem Verrat ihrer gewählten politischen Führer schnell demobilisiert. “Vollbeschäftigung” hervorgerufen durch die konjunkturelle Expansion der Textilindustrie in denFreihandelszonen und durch den Tourismusverdeckten zunächst die Aushöhlung der Löhne und Arbeitsbedingungen, weil mehr Haushaltsmitglieder arbeiteten, weil sie länger arbeiteten und weil sie alle Einkommen zusammenwarfen, um leben zu können.

Trotz der Schwächung, trotz der Demobilisierung und trotz der andauernden Defensive war die Arbeiterklasse immer noch stark genug, um Regierungskoalitionen zu spalten und Neuwahlen zu erzwingen, wann immer irgendeine Regierung aggressive neoliberale Maßnahmen ankündigte. Zwischen 1982 und 2000 gab es praktisch alle ein bis zweiJahre Nationalwahlen, Nachwahlen, die nationale Bedeutung erlangten, lokale Wahlen, deren Agenda von nationalen Themen dominiert wurde. Die Regierung plant, das Wasser zu privatisieren, Subventionen auf Reis und Mehl zu kürzen, die allgemeine Altersrente abzuschaffen – all die Maßnahmen wurden immer von der Arbeiterklasse vereitelt, die aufstand und protestierte und dann die Regierung absetzte, die sie verkündet hatte. Das Wasser blieb öffentliches Gut, Subventionen auf Reis und Mehl mussten wieder eingeführt werden genauso wie das System der Altersrente.Mitglieder von LALIT waren involviert in einen vierjährigen Kampf zwischen 1996-99 im Rahmen des Bündnisses, das sich All Workers’ Conference nannte.

Dessen Wirkung hielt an und bei den Wahlenim Jahr 2000, musste die Koalition aus PT-PMSD [Partitravailliste– MauritianSocial Democratic Party] freien ÖPNV für Studenten und Rentner so wie für Menschen mitBehinderung anbieten. Sie mussten außerdem demokratisch gewählte Dorf-Räte wieder einsetzen, die die MMM-MSM-Regierung aufgelöst hatte.Sogar bei den Wahlen 2014 machte die MSM-PMSD-ML eine Kampagne für die Schaffung von 5.000 Jobs im Öffentlichen Dienst und für den Bau von 2.000 Sozialwohnungen pro Jahr für die Bedürftigen. In allen Nationalwahlenhaben die kapitalistischen Parteien einen “sozialistischen” Grundton.Sie sind anti-kapitalistisch.Ihr Adressat ist die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse in Mauritius ist stark genug, um alle Parteien zu diesem Diskurs zu zwingen, aber sie ist nicht stark genug, sie zu zwingen, mit den Ideen auch ernst zu machen.

Seit 1982 haben sich Regierungskoalitionen immer wieder in dem Moment gespalten, wo sie versuchten, neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Sie mussten seitdem so oft neue Koalitionen bilden, dass inzwischen alle kapitalistischen Parteien zu irgendeiner Zeit zusammen regiert haben.

Die Gewerkschaftsbewegung

Mit dem Schwächer-Werden der Arbeiterklasse wurden die Gewerkschaften immer bürokratischer und immer weniger demokratisch. Wie bei den kapitalistischen Parteien und Koalitionen brachte diese Bürokratisierung Spaltungen in den Dachverbänden, auch die Gewerkschaften spalteten sich und koalierten entlang ihrer bürokratischen Interessen wie die kapitalistischen Parteien und Allianzen auch.

Die Gewerkschaftsbürokratie hat sich in den letzten Jahren so gespalten, dass sie nicht in der Lage war, die Implementierung des Employment Relations Act und des Employment Rights Actaufzuhalten, zwei repressive Gesetze zur Regelung der Arbeit und der industriellen Beziehungen, die es den Bossen möglich gemacht haben, leichter zu heuern und zu feuern, die Löhne zu senken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, die schon schlecht waren.Zur gleichen Zeit köderte die Regierung die Gewerkschaftsbürokratien mit deutlichen Konzessionen an deren bürokratischen Bedürfnisse.

In der Zwischenzeit: die Revolte von 1999

Als sie konfrontiert wurden mit ersten Anzeichen von ökonomischer Krise und wachsender Repression gegen die Arbeiterklasse durch die Polizei in den späten 1990er Jahren, und als die All Workers’ Conferencesich auflöste, die immer noch ein paar Haltelinien markiert hatte, revoltierten die ärmeren Teile der Arbeiterklasse und der unteren Klassen, besonders die jungen Arbeiter in den Städten. Die Revolte entzündete sich am Tod des bekannten Sängers Kaya in Polizeigewahrsam, nachdem er im Februar 1999 bei einem Konzert für die Entkriminalisierung von Cannabis verhaftet worden war. Die Nachricht von seinem Tod löste einen Massenaufstand aus: Polizeistationen wurden angegriffen, Fassadenwerbungen zerstört, Gefängnistore im Stile der Bastille gestürmt und Häftlinge befreit. Die Polizei erlitt eine bittere Niederlage und musste sich für einen Tag und eine Nacht zurückziehen. Die Revolte endete letztlich in einer Niederlage mangels politischem Programm und politischer Forderungen. Immerhin gab es anschließend aber einige Debatten über die Brutalität der Polizei und die Notwendigkeit, die Polizei mit diesen Vorwürfen zu konfrontieren: die von LALIT anschließend lancierte politische Kampagne dauert immer noch an.

Die Arbeit von LALIT

In den letzten Jahren hat LALIT als Partei ihren Schwerpunkt gelegt auf die Erstellung eines Übergangsprogramms,ein Programm, das (…) auf dem Bewusstsein der heutigen Arbeiterklasse fußt und auf der Basis der Bedürfnisse mobilisiert, die eine Brücke zum Übergang in eine sozialistische Revolution darstellen. Wir sind davon überzeugt, dass ein solches Programm absolut notwendig ist, ganz besonders in Zeiten der Krise.Unsere Organisation basiert hauptsächlich regelmäßig erscheinenden Publikationen, die von einem Netzwerk unserer Mitglieder verteilt werden, die zugleich aber auch Artikel anwerben und mit den Leuten inhaltlich diskutieren. So popularisieren wir unser Programm weiter.

Unser Programm basiert auf der kontinuierlichen Analyse der politischen und ökonomischen Situation und ihrer Tendenzen; Übergangsforderungen, die auf eine Verschiebung der Klassenverhältnisse zugunsten der Arbeiterklasse zielen, die also Klassenbewusstsein stärken und Dynamiken in Gang setzen hin zu einer Überwindung des kapitalistischen Systems und einer sozialistischen Veränderung; auf der Basis solcher Forderungen mobilisieren wir (…) Wir glauben, dass ein solches Programm und dieses politische Verständnis einer Strategie uns geholfen hat, einige Siege zu erringen in einer Periode des Niedergangs; und wir können diese kleinen Siege nutzen zur Konsolidierung unseres sozialistischen Programms. (…)

Die Herausforderungen der Wirtschaftskrise

Die größte Herausforderung, der wir uns seit Jahren stellen, ist es, die Landfrage auf die politische Tagesordnung zu bringen und zugleich unser Programm einer alternativen Wirtschaft zu popularisieren. Die Landreform war immer ein Thema bei LALIT: agrikulturelle Diversifikation und die Entwicklung einer modernen und ökologischen Agrarindustrie. Seit 1982 ist LALIT die einzige politische Kraft, die systematisch gewarnt hat vor der ökonomischen Strategie, die auf Zucker, Freihandel und Tourismus beruht. Heute zeigt sich, dass wir Recht hatten.

Bei den National-Wahlen 2005, 2010 und 2014 traten wir mit unserer Kampagne für Agrikultur, Agrarindustrie und Elektrizität: eine alternative Wirtschaftspolitik an und mobilisierten weiter dafür. Die Kampagne hatte zwei Stoßrichtungen: die Zuckerindustrie zur Konversion vom Zuckerrohr hinzu Lebensmittelproduktion und –aufbewahrung in großem Maßstabzu zwingen, um so Ernährungssicherheit herzustellen und Jobs zu sichern, und den privaten Sektor zu großen Investitionen in dieFischerei zu zwingen; die Regierung könnte unter Umständen selbst in diesem Sektor investieren. Damit würde man natürlich auch Fischereirechte rund um die anderen Inseln, die zu Mauritius gehören, reklamieren: also auch rund um Chagosund Diego Garcia, die immer noch militärisch besetzt sind wegen eines kolonialen Abkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA, undTromelin, das noch von Frankreich besetzt ist.

Im aktuellen Kontext von Ernährungsunsicherheit, wachsender Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise, und systemischer Krise in Mauritius scheint die Forderung nach demokratischer Kontrolle über das Land und das Meer absolut vernünftig. Und das ist sie auch. Aber innerhalb des Kapitalismus wird es dazu nicht kommen. Deshalb stellt unser Programm kapitalistisches Privateigentum und die Kontrolle über das Land in Frage und macht damit aufmerksam auf die Diktatur des Kapitals darüber, was wie produziert wird.

Die Kampagne von LALIT gewinnt zunehmend Anhänger, besonders nachdem die aktuelle Regierung Steuererleichterungen für die Umwandlung von Land in Bauland für die Luxussiedlungen angekündigt hat. In Dutzenden von Nachbarschaftstreffen konnte LALIT mit den Leuten darüber diskutieren, wie es in diesen “Gatedcommunities” zugeht. Im Süden und Westen werden Menschen von schönen Küstengrundstücken vertrieben, damit dort weitere Siedlungen gebaut werden können. Im November 2016 gab LALIT mit Delegierten aus dem ganzen Land eine Pressekonferenz, um auf diesen Ausverkauf und diese Zerstörung von Land aufmerksam zu machen. Eine landesweite Bewegung für die Kontrolle des Landes und für Ernährungssicherheit beginnt zu wachsen. (…)

(Es folgt noch ein Abschnitt über den Kampf gegen die Besatzung von Diego Garcia.)

* RajniLallah ist Organizerin bei LALIT, einer linken Partei in Mauritius. Das Wort Lalit ist mauritianisch-kreolisch und bedeutet Kampf.

Auf Englisch erschienen in: Pambazuka News am 26. Januar 2017 externer Link (Übersetzung: aus dem Englischen Nadja Rakowitz)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=117380
nach oben