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Der rechte Wahlsieg in Griechenland: Selbstverschulden der Linken?

Dossier

Nach dem Wahlsieg von Syriza„… Ein wenig von diesem Realismus hätte man der SYRIZA-Führung vor der Regierungsübernahme 2015 gewünscht. Um einen übermächtigen Gegner – dem Bündnis aus europäischen Gläubigerstaaten und griechischer Oligarchie – eine wenn auch begrenzte politische Niederlage zu bereiten, hätte sie ihre Stärken ausspielen müssen: Den Überraschungseffekt „einseitiger“ Maßnahmen wie einen – zumindest partiellen – Zahlungsstopp, Maßnahmen gegen die zu erwartende Kapitalflucht und vor allem eine Mobilisierung und Einbindung ihrer Mitglieder und Anhänger, denen die möglichen Konsequenzen einer derartigen Konfrontationsstrategie nach den Auseinandersetzungen in den Jahren 2010 bis 2015 durchaus gegenwärtig waren, in alle wesentlichen Entscheidungen. Zudem hätte sie über die Strategie eines strategischen Rückzugs nachdenken müssen. Auch der listige Odysseus konnte dem riesigen Zyklopen Polyphem nur entkommen, indem er ihn blendete, zwischen den Riesen Verwirrung stiftete und sich und die Seinen mit Schaffellen tarnte. Doch in der Kunst des Rückzugs wollte sich SYRIZA erst üben, nachdem sie durch die Umstände dazu gezwungen worden war. Die langfristigen Folgen der Kapitulation vom Sommer 2015 zeigen nun in aller Deutlichkeit, dass die unzureichende politisch-strategische Phantasie aller Beteiligten in eine Niederlage der politische Linken geführt hat, die durch die Wahlen zum Europa-Parlament sowie die griechischen Kommunal- und Parlamentswahlen eine offizielle Bestätigung gefunden hat. Dabei hat der Athener Frühling und die Art seines Scheiterns eine Bedeutung gehabt, die weit über Griechenland hinausweist. Mit ihm waren überall in Europa die Hoffnung verbunden, dass es möglich ist, die Mächtigen herauszufordern und zu Zugeständnissen zu zwingen – eine Hoffnung, die sich mit großem Engagement verband und die eine enorme Dynamik entfaltete…“ – aus dem lesenswerten Beitrag „Ein Fisch ist ein Fisch. SYRIZA – das exemplarische Scheitern der politischen Linken in Europa“ von Gregor Kritidis am 15. Juli 2019 beim Griechenland-Solidaritätskomitee externer Link, der auch mit jenen Positionen – faktisch – abrechnet, die jetzt beginnen, die Wohltaten von Syriza aufzuzählen – und damit sind nicht jene aus Brüssel und Berlin gemeint… Siehe dazu auch ein Interview mit dem Autor dieses Beitrags (nun auch in Langfassung!) und einen Artikel, der Syriza dann in die „historische Reihe“ der PASOK stellt, sowie zwei Beiträge über die ersten Maßnahmen der neuen Regierung… und den Hinweis auf unseren ersten Beitrag nach Syrizas Wahlschlappe…

  • Gespräch mit Gregor Kritidis über Griechenland nach der Abwahl der SYRIZA-Regierung: „Die Enteignungs- und Plünderungswelle wird weitergehen“ New
    „… Ein gutes Beispiel für die Politik der Regierung Tsipras ist das in Griechenland wichtige Wohneigentum. Rund 70 Prozent der Menschen wohnen in einer Immobilie, die ihnen selbst gehört. Diese selbstgenutzten Wohnungen waren per Gesetz gegen Zwangsversteigerungen geschützt. Auf Druck der Troika wurde dieses Gesetz in weitreichendem Maße verwässert und die Zahl der Zwangsversteigerungen nahm zu. Allerdings gab es eine massive Protestwelle, bei der die Verfahren wirksam blockiert wurden. Auf Druck der Troika verabschiedete die Regierung schließlich ein Gesetz, das die Verfahren in Athen zentralisiert und digitalisiert hat. Der systematische Skandal dabei ist, dass die Banken, die von der Beschleunigung der Verfahren profitieren, bereits mehrfach mit staatlichen Mitteln rekapitalisiert worden sind. Auch wenn die Regierung Tsipras ein unwilliger Vollstrecker der Politik der Gläubiger gewesen ist, so hat sie doch der Troika keinen substantiellen Widerstand entgegengesetzt. Das hat vielen Menschen den Mut genommen und zu einer Demobilisierung der gesamten politischen Linken geführt. Es war daher absehbar, dass SYRIZA weiter an Stimmen verliert. (…) Da aus der laufenden wirtschaftlichen Aktivität in Griechenland die Staatsschulden nicht bedient werden können, wird die mit staatlichen Mitteln betriebene Enteignungs- und Plünderungswelle weitergehen, und die ND wird viel weniger Skrupel als SYRIZA haben, diese mit repressiven Mitteln durchzusetzen. Sehr wahrscheinlich wird das neue Protestbewegungen hervorrufen. Die Solidaritätsgruppen in Deutschland sollten die Entwicklungen genau verfolgen und gegebenenfalls über die bisherige Unterstützung der verschiedenen Projekte in Griechenland hinaus von Fall zu Fall für internationale Öffentlichkeit und Solidarität sorgen.“ Interview von Andreas Schuchardt mit Gregor Kritidis , Soziologe und seit vielen Jahren in der deutschen Griechenland-Solidarität aktiv. Es handelt sich um die Langfassung des Interviews aus der jungen Welt vom 19.7.19 (das wir verlinkt haten, siehe unten) – wir danken dem Autor!

    • „»Nea Dimokratia wird weniger Skrupel haben als Syriza«“  am 19. Juli 2019 in der jungen welt externer Link ist ein Gespräch von Andreas Schuchardt   mit Gregor Kritidis, worin er unter anderem zur Frage der Ursachen für die Wahlniederlage unterstreicht: „… Das ist eine Konsequenz des politischen Kurses von Syriza. Die Partei hatte im Januar 2015 die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, die Austeritätspolitik zu überwinden. Allerdings kapitulierte die Regierung Tsipras bedingungslos nach den gescheiterten Verhandlungen mit den Staaten der Euro-Zone über eine Umschuldung, angesichts der Drohung der Europäischen Zentralbank, die Geldzirkulation zusammenbrechen zu lassen. Damit war sie an die Vorgaben der Gläubiger gebunden. Der Staatshaushalt muss vor dem Schuldendienst einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent aufweisen. Der Schuldenberg ist in den Jahren seit 2010 infolge der Krisenpolitik jedoch weiter angestiegen, sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ zum Bruttoinlandsprodukt, das zwischen 2010 und 2014 um gut ein Viertel schrumpfte. 2010 war der griechische Staat bankrott, doch Anfang 2015 war die Situation noch erheblich schlimmer. Um den Primärüberschuss zu erzielen, drehte die Syriza-Regierung an der Steuerschraube und setzte Kürzungen durch. Das traf fast ausschließlich die Unter- und Mittelschicht. Auch wenn die Regierung Tsipras ein unwilliger Vollstrecker der Politik der Gläubiger war, hat sie der Troika keinen substantiellen Widerstand entgegengesetzt. Das nahm vielen Menschen den Mut und führte zu einer Demobilisierung der gesamten politischen Linken…“
  • „Aus der Austerität in die Austerität“ am 24. Juli 2019 bei German Foreign Policy externer Link zu den ersten ökonomischen Maßnahmen: New
    „… Politik und Medien in Deutschland haben die erste Regierungserklärung des neu gewählten griechischen Premierministers Kyriákos Mitsotákis mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Der konservative Spitzenpolitiker aus einer der einflussreichsten Politdynastien Griechenlands – unter anderem ist er der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Konstantínos Mitsotákis – hat angekündigt, die Sparziele einzuhalten, die dem verarmten Mittelmeerland von der Bundesrepublik im Verlauf der Eurokrise oktroyiert worden waren. Er werde in seinem Haushaltsentwurf die „Auflagen internationaler Geldgeber respektieren“, heißt es in ersten Einschätzungen. Das sozioökonomisch geschundene Land musste sich unter Androhung eines Ausschlusses aus der Eurozone verpflichten, bis 2022 einen jährlichen Primärüberschuss (Haushaltsüberschuss ohne Zinszahlungen) von 3,5 Prozent zu erwirtschaften. Die Regierung Mitsotákis wolle freilich nicht nur die maßgeblich vom ehemaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble formulierten Austeritätsmaßnahmen einhalten, sondern auch „weitere Reformen“ durchsetzen, die „Spielraum für Steuersenkungen und neue Arbeitsplätze“ schüfen, heißt es. Dies solle durch ein rasantes Wirtschaftswachstum gewährleistet werden, das sich trotz Sparmaßnahmen nach Überzeugung des Premierministers beschleunigen werde. Der konservative Politiker müsse nun „schnell liefern, um das Vertrauen seiner Wähler und der europäischen Partner nicht zu verspielen“, heißt es in deutschen Leitmedien…“
  • „Griechenland auf der rechten Welle“ am 21. Juli 2019 bei athens.indymedia externer Link ist die Stellungnahme eines anarchistisch orientierten Kollektivs, in der auch ganz reale Fakten des griechischen Kapitalismus und ihre Entwicklung zusammen gefasst werden (deutscher Text an zweiter Stelle, unterhalb des griechischen Originals): „… Erst kürzlich hatten wir in Griechenland Wahlen. Die linke Partei, die an der Macht war, verlor und an ihrer Stelle kam die rechte Partei. Es sieht aus wie ein Machtwechsel, aber das ist eine Lüge. Es ist eine Fortsetzung derselben Politik, die gerade zu einem neuen Stadium übergeht. Die Linke übernahm eine katastrophale Wirtschaft, da die griechische Gesellschaft zuvor auf der Straße war, um für eine bessere Perspektive zu kämpfen. Zwei Dinge wurden schließlich gemacht: Die griechische Gesellschaft zog sich von den Straßen zurück, während die Situation weiter stagnierte und alle Hoffnungen verraten wurden. Die Krise in Griechenland ist nicht vorbei, hören Sie nicht auf die Medien. Gerade die Krisensituation wurde zur neuen Realität, wobei die Menschen die Situation fatal als ihr Schicksal akzeptierten. Ohne diesen Vorlauf, hätte die rechte Regierung nicht herrschen und den nächsten Schritt umsetzen können. Die politische Landschaft in Griechenland ähnelt kaum, mit der von anderen westlichen Ländern. Die Linke verwendet eine revolutionäre Rhetorik, die von vornherein verkauft ist. Die Rechte besteht aus einer skurrilen Mischung aus extrem Liberalen, staatsfetischistische Konservativen und alten rechtsextremen Subjekten. Korruption, organisiertes Verbrechen, die Kirche als mitregierend und aristokratische Familien der Politik, die für den Kampf um die Macht, sich jeglicher rechtswidrigen Mittel bedienen. Die ersten umgesetzten Entwürfe der neuen Regierung waren klar. Zuwanderer und Flüchtlinge haben ab sofort keinen Zugang mehr zu Krankenhäusern. Diejenigen, die kein Asyl bekommen, und das sind die meisten, werden in die Türkei abgeschoben, nachdem sie in Konzentrationslager mehrere Monate, wie das von Moria eingesperrt werden. Eine weltweite Schande, die während einer linken Regierung entstand. Aber auch für die Einheimischen ändert sich vieles. Strom und Wasser werden an Privatpersonen verkauft. Die Industriellen fordern, dass der Mindestlohn weiter sinkt. Bei Hunderttausenden von Menschen, die weniger als 2400 Euro pro Jahr verdienen, geht die Ergänzungsleistung (Zulage) in Höhe von 200 Euro verloren, wenn sie nicht akzeptieren, mehrere Überstunden ohne Bezahlung zu leisten…“
  • „Schluss mit Solidarität und Basisdemokratie“ von Alicia Lindhoff am 20. Juli 2019 in der FR online externer Link ist ein Beitrag, in dem (anhand des Beispiels City Plaza Hotel und dessen Beendigung und der Lager auf den Inseln) zwar die bisherige Migrationspolitik Syrizas reichlich schön gezeichnet wird, worin aber dennoch die Verschärfung des Kurses durch die neue Rechtsregierung deutlich wird: „… Damit wollte Premier Mitsotakis offenkundig Schluss machen. Dazu passt, dass er das von Syriza geschaffene Migrationsministerium einstampfen ließ. In der neuen Regierung ist das Thema wieder wie zuvor bei der Inneren Sicherheit angesiedelt. Dementsprechend war es auch der Minister für „Bürgerschutz“, Michalis Chrysochoidis, der vergangenes Wochenende das Auffanglager Moria auf Lesbos besuchte, um sich über die Lage in den sogenannten Hotspots zu informieren. In sozialen Netzwerken wurde über den Besuch gespottet, denn auf Fotos ist zu sehen, wie die Stacheldrahtzäune des überfüllten und für seine menschenunwürdigen Lebensbedingungen berüchtigten Lagers mit bunten Plastikblumen geschmückt worden waren, um ein freundlicheres Bild zu erzeugen. Doch jenseits symbolischer Aktionen ist klar: Das größte Problem liegt tatsächlich noch immer auf den Ägäisinseln vor der türkischen Küste – neben Lesbos sind vor allem Samos und Chios betroffen. Zumal die Zahl derer, die aus der Türkei auf den Inseln anlanden, in der letzten Zeit wieder steigt: Mehr als 1000 Menschen kamen allein in der ersten Juli-Woche an. Mitsotakis hat in einem Sechs-Punkte-Plan zur Migrationspolitik angekündigt, die Lebensbedingungen in den Hotspots zu verbessern. Dafür will er etwa ein neues, größeres Lager auf Samos bauen lassen und die Asylverfahren beschleunigen. Man müsse die Inseln entlasten, sagte er. Allerdings solle diese Entlastung „in die richtige geografische Richtung gehen“: nicht auf das griechische Festland, sondern in die Türkei. Die Syriza-Regierung hatte trotz des 2016 geschlossenen EU-Türkei-Abkommens vor Abschiebungen in den Nachbarstaat zurückgeschreckt. Lediglich 2000 Menschen schickte Athen in den vergangenen drei Jahren zurück. Auch hier will die neue Regierung sich von ihren Vorgängern abgrenzen...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=151892
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