»
Griechenland »
»
»
Italien »
»

Das neue Memorandum für Griechenland – italienische (linke) Sichtweisen und Vergleiche

Auch in Italien immer weniger Tarifverträge - Protest im Sommer 2015Die Maßnahmen, die dieses Memorandum vorsieht, sind dramatisch: weitere Rentenkürzungen, Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Verkauf von 14 Flughäfen (darunter dem von Saloniki und den bei den Touristen beliebtesten Inseln) an die deutsche Firma Fraport für den Spottpreis von etwas mehr als einer Milliarde Euro. Außerdem natürlich weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Von den 86 Milliarden Euro so genannter „Hilfen“ gehen nur 11 Milliarden tatsächlich an Griechenland und die Regierung, wodurch allerdings auch der Schuldenberg weiter wächst. Das alles widerspricht total dem Wahlprogramm, mit dem Syriza vor einem halben Jahr angetreten ist“ – aus dem Interview „Tsipras hat es eilig“ von Raoul Rigault mit Antonio Moscato, ursprünglich in kürzerer Fassung am 31. August 2015 in der jungen welt, über Debatten und Reaktionen in Italien auf die Entwicklungen in Griechenland

„Tsipras hat es eilig“

Antonio Moscato (77) war Professor für Zeitgeschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung an der Universität Lecce und 15 Jahre lang aktives Mitglied von Rifondazione Comunista bis er wegen ihrer Regierungspolitik austrat. Heute engagiert er sich in der Griechenland-Solidarität.

Interview: Raoul Rigault

Was halten Sie von den „Strukturreformen“, die das dritte Griechenland-Memorandum der Eurogruppe, dem Land auferlegt?

Diese Unterschrift von Alexis Tsipras und seinen Unterstützern bedeutet, dass sie sich verpflichten, eine weitere Phase der Austeritätspolitik unter der direkten und noch erdrückenderen Kontrolle der europäischen Institutionen und der Gläubiger umzusetzen, angefangen bei der Troika, die in voller Pracht und mit noch größeren Machtbefugnissen nach Athen zurückkehrt. Die Maßnahmen, die dieses Memorandum vorsieht, sind dramatisch: weitere Rentenkürzungen, Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Verkauf von 14 Flughäfen (darunter dem von Saloniki und den bei den Touristen beliebtesten Inseln) an die deutsche Firma Fraport für den Spottpreis von etwas mehr als einer Milliarde Euro. Außerdem natürlich weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Von den 86 Milliarden Euro so genannter „Hilfen“ gehen nur 11 Milliarden tatsächlich an Griechenland und die Regierung, wodurch allerdings auch der Schuldenberg weiter wächst. Das alles widerspricht total dem Wahlprogramm, mit dem Syriza vor einem halben Jahr angetreten ist.

Gab es in Italien eine ähnliche Hetzkampagne gegen die griechische Regierung wie in Deutschland?

In Italien war das anders. Dieselben Massenmedien, die Tsipras dämonisiert und den damaligen Finanzminister Yanis Varoufakis beinahe gelyncht hätten, haben Mitte Juli begonnen Tsipras‘ „Realismus“ zu loben, der ihn dazu bewegt habe die angeblich von „Europa“ gestellten Forderungen zu akzeptieren. Die Informationen über die Teile von Syriza, die sich dieser Unterwerfung widersetzten, wurden so gering wie möglich gehalten und als folkloristische Randerscheinung dargestellt.

Tsipras hat angekündigt, im Rahmen des Memorandums Widerstand zu leisten. Ist das realistisch?

Widerstand? Welcher Widerstand ist denn möglich, wenn derjenige, der ihn organisieren müsste, das Verschleudern stark genutzter und profitabler Flughäfen rechtfertigt, die Kürzung der ohnehin schon kärglichen Renten von 420 Euro um weitere 92 Euro im Monat akzeptiert und die Mehrwertsteuer erhöht, was unmittelbar die breite Masse trifft?! Diese Kürzungen werden im Oktober in Kraft treten. Daher die Eile von Tsipras: Er möchte, dass es schnell Neuwahlen gibt, bevor sich die weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen beim Großteil der Bevölkerung praktisch bemerkbar macht. Diese hastige und trickreiche Wahlkampagne mitsamt der Listenaufstellung durch die Parteiführung, um kritische Kandidaten außen vor zu halten, stellt einen weiteren Schritt bei der Beseitigung jeder Form von Demokratie in Europa dar – und sei es auch nur einer „bürgerlichen“ Demokratie.

Was bedeutet das Einknicken von Alexis Tsipras und der engeren Syriza-Führung für die Linke und die Kämpfe gegen die neoliberale Politik in Europa? Was können wir daraus lernen?

Eine der Lehren, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, ist sicherlich, dass es eine Mitschuld der gesamten europäischen Linken gibt, die Syriza während der fünf Monate, in denen sie dem Druck der Troika widerstanden hat, mit Nachdruck hätte unterstützen müssen. Mir scheint, dass die Debatte über die EU und das Funktionieren der Eurozone, die inzwischen ja auch in der deutschen Linkspartei aufgeflammt ist, jetzt innerhalb der europäischen Linken noch schwieriger zu entwickeln ist. Auch wenn nicht sicher ist, dass Tsipras die Wahlen gewinnt, kann es ihm durchaus gelingen, das Gewicht der Hälfte seiner Partei deutlich zu verringern, die eine Alternative für machbar hält und jetzt möglicherweise den Preis dafür bezahlt, dass sie nicht schon viel früher ein neues, von allen geteiltes, Programm verfasst hat.

Brauchen wir einen Bruch mit dem Euro und der EU?

Beim Thema Ausstieg aus dem Euro und Rückkehr zur Drachme hat man, selbst bei der Kampagne für das Referendum, der Mitte-Rechten die Initiative überlassen. Das hat Syriza zu einer defensiven Haltung gezwungen und dazu, zu bestreiten, dass man zur alten Währung zurückkehren will, ohne zu erklären, wie der Euro von der EZB und den EU-Bürokraten benutzt wird und ohne auch nur die leiseste Möglichkeit einer Parallelwährung zuzulassen. Das wäre gewiss kein Wundermittel, aber doch immerhin ein Instrument, um die Auswirkungen einer aggressiveren Politik abzumildern.

Warum verteidigt ein Großteil der italienischen Linken Tsipras‘ Kurswechsel? Wohin führt uns dieser „Tsipras-Kult“, wie sie es nannten?

Dass die aus der Fusion der Mehrheit der Anfang der 90er Jahre aufgelösten Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) mit Sozial- und Teilen der Christdemokraten hervorgegangene Demokratische Partei, inklusive ihrer angeblichen linken Minderheiten, die Akzeptanz der Auflagen der Gläubiger gutheißt, wundert mich nicht, doch die einhellige Anpassung der ehemaligen radikalen Linken, also Rifondazione Comunista, SEL und die Tageszeitung „il manifesto“, trifft einen schon. Ihre hartnäckige und bedingungslose Verteidigung von Tsipras‘ Entscheidung hat auch damit zu tun, dass sie bei den letzten Europawahlen für ihre gemeinsame Liste den Mythos Syriza und sogar seinen Namen („Mit Tsipras für ein anderes Europa“) genutzt haben und so, nach diversen Fehlschlägen, ganz knapp über die Vier-Prozent-Hürde gekommen sind und drei Abgeordnete nach Straßburg entsenden konnten. Ich habe einige der Versammlungen dieses Bündnisses besucht, in denen, trotz der Dramatik, von 60 Redebeiträgen kein einziger Bezug auf die griechische Debatte nahm. In der linken Medienlandschaft gibt es nur wenige Internetseiten, die über die Positionen des linken Syriza-Flügels berichten, während Tsipras und seinen Verteidigern nicht nur von „il manifesto“ breiter Raum gewährt wird.

Liegt es nur daran?

Der andere, tiefere Grund für dieses Verhalten, ist, dass die Kultur des „Es gibt keine Alternative! Anders geht es nicht!“ Rifondazione, SEL und „il manifesto“ miteinander verbindet. Das hat mit ihrer Unfähigkeit zu tun, sich von dem politischen Erbe des langjährigen PCI-Generalsekretärs Palmiro Togliattis zu befreien, das auch in der Ideologiebildung des ehemaligen Eurokommunisten Alexis Tsipras Spuren hinterlassen hat.
Es lohnt sich daran zu erinnern: Als die italienische KP von 1945 bis 1947 mitregierte hat sie, aufgrund der von Togliatti vorgegebenen Linie, die Mobilisierungen der Erwerbslosen und die Landbesetzungen im Süden abgewürgt. Die Parteispitze setzte durch, dass ihre Basis die Aufhebung des Entlassungsstopps akzeptierte und die als Kollaborateure des Mussolini-Regimes in die Schweiz geflüchteten, verhassten Unternehmer und Manager in die Fabriken zurückkehren konnten. Außerdem ließ sie 95% der faschistischen Verbrecher amnestieren und steckte dafür viele Partisanen in den Knast, die dann einer reaktionären Richterschaft zum Opfer fielen. Alles nur, weil sie ihr Bündnis mit den bürgerlichen Kräften nicht gefährden wollte und es angeblich „keinen anderen Weg“ gab.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=86266
nach oben