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Austeritätspraxen – Nadja Rakowitz über gesundheitliche Nebenwirkungen der Troika-Politik in Griechenland

Artikel von Nadja Rakowitz, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/2013

Vom 25.-28. Februar dieses Jahres ist eine Delegation des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und von medico international nach Athen und Thessaloniki gefahren, um sich ein Bild von den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das Gesundheitswesen zu machen und um mit Leuten aus solidarischen Initiativen zu sprechen und die Möglichkeiten von konkreter praktischer Solidarität auszuloten. Ein weiteres Anliegen war es, mit Gesundheitspolitikern der Linken zu sprechen über die Pläne der EU, mit Hilfe des deutschen Gesundheitsministeriums genau jene Elemente des deutschen Gesundheitswesens in Griechenland zu implementieren, gegen die kritische (nicht nur) linke Kräfte zu kämpfen beginnen: die DRG-Finanzierung der Krankenhäuser, über die und deren verheerende Auswirkungen Peter Hoffmann im letzten express berichtet hat. Nadja Rakowitz nahm als Geschäftsführerin des vdää an der Reise teil und schildert ihre Eindrücke1

Die Lichter gehen aus

Der erste Eindruck, den man von Athen, aber auch Thessaloniki hat, wenn man abends in die Stadt kommt, ist dunkel: Die Lichter sind ausgegangen. Man fährt an großen vier- bis fünf-stöckigen Wohnkomplexen vorbei und in kaum einem Fenster sieht man Licht. Das fällt richtig auf und als wir unsere griechischen Freunde fragten, erklärten sie, dass viele Leute inzwischen ohne Strom leben oder zumindest Strom sparen müssen. Das Nächste, was auffällt, sind die vielen geschlossenen kleinen Geschäfte und Werkstätten, von denen ein großer Teil der Griechen gelebt hat. Was machen all diese Leute, wenn sie arbeitslos werden oder ihr Geschäft schließen müssen? Was machen sie, wenn sie krank werden?

Als wir das größte Krankenhaus von Athen, Evangelismos, besuchten, konnten wir davon einen ersten Eindruck bekommen. Bei einem Treffen mit ca. 20 ÄrztInnen, Pflegekräften und Mitgliedern der Betriebsgewerkschaft erzählten diese, dass es im – öffentlich geführten – Krankenhaus an Arzneimitteln, Verbandsmaterial und einfachsten Dingen mangelt. Selbst Klopapier suchte ich in den Krankenhäusern, die wir in Athen und Thessaloniki besucht haben, vergeblich. Die ÄrztInnen und Pfleger tun, was sie können, sind aber heillos überlastet. Denn zum einen ist viel Personal entlassen worden oder gegangen (z.B. nach Deutschland), zum anderen haben die Krankenhäuser mehr zu tun, weil sich die Menschen Besuche beim niedergelassenen Arzt nicht mehr leisten können. Sie warten lieber, bis sie sich als Notfall ins Krankenhaus begeben können. »Therapie nach Leitlinien erhält kaum noch jemand«, erklärt ein junger Mediziner, »und Unversicherte schon gar nicht«.

Offiziell sind rund 30 Prozent der griechischen Bevölkerung nicht mehr krankenversichert. Viele Leute, die wir getroffen haben, gehen aber davon aus, dass bereits jeder Zweite aus der Absicherung herausgefallen ist. Seit die griechische Regierung auf Druck der Troika durchgesetzt hat, dass alle sozialstaatlichen Leistungen inklusive Krankenversicherung zwölf Monate nach Verlust des Arbeitsplatzes enden, ist die Zahl der Unversicherten dramatisch gestiegen, denn schließlich ist jeder vierte Grieche aktuell arbeitslos, bei Jugendlichen unter 24 Jahre ist es mehr als die Hälfte. Wer nicht krankenversichert ist, muss die Kosten einer Behandlung vor Ort in bar bezahlen oder aber die Rechnung wird dem Finanzamt gegeben, das versucht, das Geld am Ende des Jahres über die Steuer einzuziehen. Betroffene konsultieren also nur noch dann einen Arzt, wenn sie über Geldreserven verfügen – oder erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Für die Beschäftigten im Krankenhaus heißt das, dass sie zusätzlich zur offiziellen medizinischen Versorgung auch noch versuchen, Menschen ohne Versicherung irgendwie mit durchzuschleusen. Der Gedanke, Leute aus Geldgründen einfach unversorgt wieder nach Hause zu schicken, ist für viele von ihnen unerträglich. Die Beschäftigten stehen dadurch unter immensem Druck – und das bei Lohnkürzungen um 30-50 Prozent seit letztem August, seit Monaten nicht bezahlten Bereitschafts- oder Nachtdiensten und bei Kürzung der Überstundenzuschläge. Sie gaben uns den dringenden Auftrag mit, darüber in Deutschland zu berichten und diese Zustände öffentlich zu machen. Gleichzeitig nutzten sie unseren Besuch, um ein Gespräch mit dem CEO, dem kaufmännischen Direktor des Krankenhauses, zu suchen und sich bei ihm zum einen zu beschweren über die katastrophale Lage und zum anderen an offizielle Zahlen heranzukommen, mit denen sie dann politisch argumentieren können. Schnell wurde die hitzige Diskussion nur noch auf Griechisch geführt. Für Übersetzung war der Druck im Kessel in diesem Moment zu hoch…

Wie weit die Ökonomisierung des – ehemals vorrangig öffentlich organisierten – Gesundheitswesens schon in die Strukturen und in den Kopf des CEO eingedrungen ist, zeigte sich, als dieser uns voller Stolz berichtete, dass dank der vor Kurzem eingeführten deutschen DRG die durchschnittliche Verweildauer im Evangelismos inzwischen bei 4,7 Tagen liege, man aber »wie die Besten« nur noch 3,5 Tage (in Deutschland aktuell 7,7 Tage) anstrebe. Ohne auf die gravierenden Probleme einzugehen, nahm er dieses eine Kriterium (das sehr gut messbar ist) als einzigen Maßstab für ein gutes Krankenhaus.

Wie dramatisch die Situation des Gesundheitswesens in Griechenland ist, wurde uns bei einer Demonstration (solche Demos finden einmal im Monat statt), an der wir in Thessaloniki teilnahmen, klar. Hinter einem Banner, auf dem stand: »Die Schließung von Krankenhäusern tötet« (siehe Foto S. 1), gingen wir zusammen mit Leuten, die sich in der solidarischen Praxis dort (und z.T. auch bei Syriza) engagieren, in die Notaufnahmen von zwei großen Krankenhäusern und forderten den kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle – auch die Unversicherten. Das war erschütternd und ermutigend zugleich.

Solidarische Praxen – Notnagel oder Hoffnung für die Zukunft?

Sowohl in Athen (im Stadtteil Elliniko) als auch in Thessaloniki haben wir eine so genannte »Solidarische Klinik« bzw. Praxis besucht. Giorgos Vichas, ein Arzt und Mitbegründer der Praxis in Ellinko, berichtete, dass Ärzte des Sanitätsdienstes bei einer Demo im Sommer 2011 diese Idee entwickelt hatten. Sie wollten unabhängig vom Staat, aber auch von NGOs eine eigenständige Struktur schaffen, um in dieser »humanitären Krise« Menschen ohne Versicherung zu helfen – ob mit oder ohne griechischen Pass. Durch die Umsetzung der Maßnahmen der Troika kam es zu so großen finanziellen Einschnitten und hohen Selbstbeteiligungen, dass z.B. viele KrebspatientInnen keine Medikamente mehr bekommen (viele davon sind nach Auskunft unserer Gesprächspartner gestorben), dass Schwangere nicht mehr versorgt wurden (weil das in einem Krankenhaus 800 Euro kostet) und dass Kinder nicht mehr geimpft, manche sogar unterernährt seien (deshalb auch die Babynahrung im Lager der Praxis, siehe Foto S. 5)

Dass sich die Situation mit dem letzten Memorandum im Herbst 2012 noch einmal ziemlich verschlechtert hat, zeigen alleine die Zahlen. Bis heute haben sie 6.000 PatientInnen versorgt – 1000 von September 2011 bis August 2012, 1 200 von August bis Oktober 2012 und die anderen 3800 von Oktober 2012 bis heute. Von dieser Zuspitzung in den letzten Monaten erzählten uns viele Leute in Griechenland. Auch dass im Zuge dieses letzten Memorandums viele Krankenhäuser geschlossen werden (sollen), macht die Versorgungssituation z.B. auf vielen Inseln noch schlechter. So soll das Krankenhaus auf der Insel Limnos ersatzlos zugemacht werden; die PatientInnen sollen die Fähre nach Lesbos nehmen und dort ins Krankenhaus gehen…

Ähnlich dramatisch ist auch die Situation bei der Versorgung mit Arzneimitteln. Seit 2012 bekommt man in Apotheken Tropfen, Tabletten oder Salben nur noch gegen Barbezahlung. Und hunderte Präparate sind überhaupt nicht mehr erhältlich. Das liegt unter anderem daran, dass Pharmafirmen nicht mehr liefern, weil die Refinanzierung aufgrund des Bankrotts des Nationalen Trägers für Gesundheitsleistungen (EOPYY) ungewiss ist. Die EOPYY soll Verbindlichkeiten von etwa zwei Milliarden Euro gegenüber Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und Pharmaherstellern bedienen, erhält gleichzeitig aber rund 500 Millionen Euro weniger staatliche Zuschüsse.

In der Praxis Elliniko arbeiten zur Zeit 200 Leute ehrenamtlich, darunter 75 ÄrztInnen und 15 ZahnärztInnen. Fast alle arbeiten zusätzlich zu einem anderen Job dort (in der Regel für ein paar Stunden die Woche). Sehr wichtig ist die kostenlose Abgabe von Arzneimitteln sowie von Babynahrung, Windeln etc., von der inzwischen auch Versicherte Gebrauch machen, die die Zuzahlungen nicht mehr leisten können. Es gebe, so berichteten uns Beschäftigte, drei Krankenhäuser in Athen, mit denen die Praxis zusammenarbeitet, die ebenfalls Unversicherte versorgen – so weit es geht und an den Gesetzen vorbei. Sowohl die Ärztekammer als auch die Regierung haben die Praxis anfangs bekämpft und schikaniert. Während die Ärztekammer ihre Drohung, den ÄrztInnen die Approbation zu entziehen, schnell zurücknahm, akzeptiert die Regierung die Arbeit immer noch nicht.

Das linke Wahlbündnis Syriza unterstützt die solidarischen Praxen und andere solidarische Projekte und Netzwerke nach Kräften, die Kommunistische Partei (KKE) hingegen ist gegen die Praxen, da diese »den Staat entlasten«.

Über Letzteres sind sich Giorgos Vichas und seine KollegInnen durchaus im Klaren und es ist nicht ihre Absicht, langfristig ein öffentliches Gesundheitssystem zu ersetzen. Im Gegenteil: Parallel zu ihrer solidarischen Praxis kämpfen sie politisch für eine gute und ausreichende öffentliche Gesundheitsversorgung. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass sie nicht einfach zurück wollen zum status quo ante, denn dieser war geprägt von Korruption, Überversorgung (mit entsprechend hohen Arzneimittelausgaben) und Ineffizienz.2 Diese Fehler seien schon vor der Krise von einigen Leuten, auch ÄrztInnen, kritisiert worden, aber mit wenig Erfolg. Giorgos beschreibt die Situation so: »Wir kämpfen gegen zwei Feinde: gegen die Troika und die ›Inlandstroika‹, die deren Politik umsetzt, und gegen uns selbst. Auch wir müssen uns ändern.« Die solidarischen und selbstorganisierten, gut funktionierenden Arbeitsformen könnten ein Vorbild für ein solidarisches Gesundheitswesen der Zukunft sein, so seine Hoffnung.

Von uns (wir waren übrigens die erste ausländische Ärzteorganisation, die ihre Praxis besucht hat!) erhoffen sich die KollegInnen in den solidarischen Praxen, dass wir in Deutschland verbreiten, wie die Situation ist, und diejenigen kritisieren, die für diese Politik verantwortlich sind. Finanzielle Unterstützung wollen sie übrigens explizit nicht. Sie brauchen Medikamente, aber kein Geld – auch weil sie nicht in den Ruch der möglichen Korruption geraten wollen.3

Die solidarische Praxis in Thessaloniki arbeitet praktisch ganz ähnlich wie die in Athen, hat aber eine andere Geschichte. Sie ist entstanden während eines Hungerstreiks von MigrantInnen, die medizinisch versorgt werden mussten. Sie war in ihrem Ursprung politisch und von Selbstorganisationsvorstellungen aus dem migrantischen Milieu geprägt. Hinzu kommt, so schien es uns, dass es in Thessaloniki eine Tradition an sozialmedizinisch geprägten ÄrztInnen gibt, die nicht erst durch die oder in der Krise Medizin als etwas Politisches verstehen. Lernen konnten sie das – und heutige Medizinstudierende können das immer noch – an der Uni Thessaloniki bei Alexis Benos, einem Professor für Sozialmedizin/Public Health, der auch für Syriza aktiv ist.

Die Rolle von Syriza

Mit Leuten von Syriza hatten wir mehrfach Kontakt. Theodoros Paraskevopoulos, der für die Parlamentsfraktion am Programm von Syriza mitarbeitet, machte eine Einführung in die polit-ökonomische Situation und betonte dabei, dass im Moment neben der Entwicklung eines Regierungsprogramms das wichtigste Anliegen von Syriza sei, die verschiedenen solidarischen Projekte und Netzwerke zu unterstützen. Dafür sei »Solidarity for All«4 gegründet worden (die wir dann auch besucht haben). Dabei handelt es sich um eine Art Dachorganisation, die zum einen Gelder verteilt (jeder Parlaments-Abgeordnete der Syriza gibt 20 Prozent seines Gehalts an die Organisation ab), und zum anderen versucht, Netzwerke zwischen den verschiedenen Projekten zu knüpfen und diese miteinander in Kontakt zu bringen. Die Organisation arbeitet seit Oktober 2012 und alle MitarbeiterInnen betonen, dass sie nicht direkt für Syriza arbeiten und schon gar nicht an politische Weisungen gebunden sind… Das schien uns bezeichnend für die Beziehung von Syriza zu den sozialen Bewegungen. Sowohl die verschiedenen linken Strömungen in der »Partei« als auch diese selbst und soziale Initiativen bzw. unabhängige Gruppen bewegen sich – angesichts der ernsten Lage – aufeinander zu und müssen, wie es Alexis Benos in einem Interview formuliert, die alte Art zu arbeiten und Fraktionskämpfe auszutragen, aufgeben und zusammenarbeiten.5 Dies bestätigten auch Jannis Milios, Parlamentsabgeordneter und Ökonomieprofessor in Athen, sowie die Mitarbeiter von Solidarity for All und von der solidarischen Praxis in Thessaloniki.

Dass sich die Bewegungen politisch zu verallgemeinern beginnen, zeigte sich uns auch daran, dass es für die KollegInnen von der solidarischen Praxis völlig klar war, uns auch kurz zur selbstverwalteten Fabrik VIO.ME in Thessaloniki zu fahren (siehe Artikel in dieser Ausgabe, S. 7) und die Gelegenheit zu geben, mit den Beschäftigten dort zu sprechen. Den Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft, Makis Anagnostou, trafen wir am Abend dann auch auf einer offenen Syriza-Versammlung, wo er und der Wirtschaftsexperte von Syriza, John Dragasakis, das ökonomische Programm im Falle einer Regierungsübernahme erläuterten.6 Alle Beteiligten wissen, dass sie nur dann politisch erfolgreich sein können, wenn es in den anderen Ländern der EU Unterstützung bzw. Solidarität durch starke linke Bewegungen gibt.

Kritik übten unsere FreundInnen in Thessaloniki an Syriza, dass diese – anders als z.B. die KKE – in ihrer Öffentlichkeitsarbeit dem Gesundheitsthema nicht die Priorität einräumt, die es verdiente. An der humanitären Krise im Gesundheitswesen lassen sich die konkreten Auswirkungen der Austeritätspolitik gewissermaßen hautnah deutlich machen – und an der praktischen Arbeit der solidarischen Praxen lässt sich eine kollektive selbstorganisierte Arbeit als Hinweis für Wege aus der Krise ebenfalls erfahren.

(Eine Langfassung des Textes wird in Kürze auf der Internetseite des vdää externer Link veröffentlicht und ist auch über die Redaktion erhältlich.)

Anmerkungen

1  Mein Dank geht an Kirsten Schubert von medico international, die ebenfalls bei der Reise dabei war und mir viele Materialien zur Verfügung gestellt hat.

2  Vgl. Alexis Benos / John Lister: »Syriza – Reality Is Forcing Us To Forget The Old Ways Of Working«, Socialist Resistance, September 14, 2012, in: www.zcommunications.org/ externer Link

3  Aufrufe der Klinik zu Soliaktionen finden sich auf der Homepage des vdää externer Link unter: Themen/Gesundheitspolitik international

4  Ein Positionspapier von Solidarity for All und eine Analyse der Lage in Griechenland in Englischer Sprache findet sich unter: www.solidarity4all.gr/sites/www.solidarity4all.gr/files/aggliko.pdf externer Link

5  Vgl. Alexis Benos / John Lister: »Syriza – Reality Is Forcing Us To Forget The Old Ways Of Working«, a.a.O.

6  Vgl. Auch Alexis Tsipras: »Unsere Lösung für Europa – ein Vorschlag«, in: Le Monde Diplomatique, Februar 2013

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=30225
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