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Sans papiers in Lille: Hungerstreik ging zu Ende, Aktionen gehen weiter – Zahlreiche vorübergehende Festnahmen am Montag

Artikel von Bernard Schmid vom 16.01.2013

73 Tage Hungerstreik: Diese Strapaze haben vierzig Einwanderer aus Marokko, Algerien, Guinea und Thailand im nordfranzösischen Lille hinter sich. Am Abend des letzten Sonntag, den 13. Januar 13 gaben sie den Abbruch ihrer Aktion bekannt – kurz bevor sie drohte, tödliche Konsequenzen für einige ihrer Teilnehmer zu haben.

Am Montag dieser Woche bauten freiwillige Unterstützer das Zelt ab, in dem sie seit nunmehr über zwei Wochen verbrachten hatten und in dem es nicht nur für die vom Hungerstreik geschwächten Körper mitunter eiskalt war. Am 02. November vergangenen Jahres hatten damals 125 Einwanderer, die vom französischen Staat in „illegalisierter“ Situation gehalten wurden, den Hungerstreik dort begonnen. Aufgrund massiver gesundheitlicher Probleme hatten eine Reihe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihn am 19. Dezember 12 abbrechen müssen. Am übernächsten Tag (21.12.12) hatten die Flüchtlinge und Einwanderer versucht, die in unmittelbarer Nähe gelegene Kirche Saint-Maurice zu besetzen, um einen geschützteren und wärmeren Zufluchtsort zu finden. Die Kirche ließ ihr Gebäude binnen weniger Stunden polizeilich räumen, eine Strafanzeige des bischöflichen Amts wegen „Hausfriedensbruchs“ blieb in der Folgezeit anhängig.

Ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert, und noch härter als erwartet reagiert, hat der amtierende rechtssozialdemokratische Innenminister Frankreichs. Manuel Valls bemühte sich offenkundig nach vollen Kräften, zum „würdigen“ Nachfolger seiner rechten Amtsvorgänger zu werden.

Am 58.Tag des Hungerstreiks veranlasste die Präfektur von Lille, dass zwei der Teilnehmer am Hungerstreik, die beiden algerischen Staatsbürger Ahmed und Azzedine, in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. Der Präfekt ist der Vertreter des Zentralstaats und Leiter der Polizei- und Ausländerbehörden im Bezirk, der dem Innenministerium untersteht und weisungsgebunden agiert. Er kann also auf keinen Fall gegen den Willen des amtierenden Ministers handeln.

Am frühen Morgen des 30. Dezember 12 wurden die beiden in ein Flugzeug gesetzt und an den Händen gefesselt sowie geknebelt. Ihr Mund wurde mit Klebeband zugebunden. Theoretisch wäre die Abschiebung zu dem Zeitpunkt illegal gewesen, da das in der Sache angerufene Gericht in Douai noch nicht über die Gesetzmäßigkeit der Abschiebung entschieden hatte. Aufgrund ihres körperlichen Zustandes waren die beiden Algerier nicht reisefähig. Nach ihrer Ankunft in Tizi Ouzou – in der Berberregion Algeriens – wurden sie beide in medizinische Behandlung genommen. Einer der beiden liegt seitdem, bis Redaktionsschluss, im dortigen Krankenhaus.

Lille ist seit langen Jahren ein Zentrum von harten Kämpfen der „illegalisierten“ Traditionen. Auch Hungerstreiks haben dort eine gewisse „Tradition“. Im Herbst 1998 fand dort bereits ein längerer solcher Streik statt Im Jahr 2007 ein weiterer, auf den die damalige Rechtsregierung seinerzeit zum ersten Mal mit Abschiebungen während eines laufenden Hungerstreiks antwortete. Bis dahin hatten auch konservative Regierungen gegenüber hungerstreikenden Sans papiers in der Regel keine, unter medizinischen Gesichtspunkten riskanten, Abschiebungen vorgenommen.

Zur Unterstützung des jüngsten Hungerstreiks, der zunächst hoffnungslos isoliert erschien, hatten jüngst einige spektakuläre Aktionen stattgefunden. Neben Demonstrationen in Lille, in Paris und vor kurzem auch in anderen Städten wie Strasbourg und Saint-Nazaire kam es zu Besetzungsaktionen. In Paris etwa wurde am Sylvestertag die „päpstliche Nunziatur“ – die Botschaft des Vatikan – besetzt, am 03. Januar der Parteisitz der regierenden französischen Sozialdemokratie. In Lille wurde gleichzeitig das Rathaus okkupiert. Seit Beginn der darauffolgenden Wochen fanden täglich Kundgebungen in Paris und Lille statt, da die Situation der Hungerstreikenden sich zuzuspitzen drohte.

Einige Aktionen gehen noch weiter, da die Auseinandersetzung noch nicht zu Ende ist. Die Hungerstreikenden kämpften, um Aufenthaltstitel zu erreichen. Einige von ihnen steckten parallel dazu in Asylverfahren, ohne sich jedoch Hoffnungen auf deren Ausgang zu machen  – junge Frauen waren etwa einer Zwangsverheiratung entflohen, ohne die eingeforderten Beweise dafür vorlegen zu können. Im letzten Stadium hat die Präfekt jedoch am Wochenende lediglich „eine wohlwollende Bearbeitung der individuellen Akte“ jedes und jeder Teilnehmenden zugesagt, ohne das feste Versprechen einer „Legalisierung“. Mehr war zu dem Zeitpunkt nicht herauszuholen, ohne Todesfälle unter den Streikenden zu riskieren.

Unterdessen gingen einige Aktionen zu ihrer Unterstützung ungebrochen weiter, um den Druck weiterhin aufrecht zu erhalten. Am Montag dieser Woche demonstrierten Sans papiers fast den ganzen Tag über in Paris. Im Laufe des Nachmittags besetzten sie vorübergehend die Place Saussaies im nobel-hoblen 8. Pariser Bezirk, „unter den Fenstern“ des Innenministeriums von Manuel Valls (an der Place Beauvau). Dabei wurden 150 Teilnehmer vorübergehend festgenommen, fast alle Anwesenden wurden eingesammelt und zur Personalienaufnahme in Polizeiwachen im 18. Pariser Bezirk transportiert. Am frühen Abend kamen allerdings alle wieder frei.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=22616
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