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Frankreich: Was wurde/wird aus den Geflüchteten von Calais?

Abmarsch! Polizei räumt Calais am 24.10-2016 - ab in den sonnigen Sudan...In den letzten Tagen nehmen die Protestbewegungen von Migranten und Migrantinnen/Geflüchteten, die im Zuge der Räumungsoperation vom 24. bis 26. Oktober 16 aus Calais am Ärmelkanal (und dem dortigen, mittlerweile zerstörten Flüchtlingscamp „Jungle“) fortgebracht wurden, sichtbar zu. Rund 7.000 Menschen, unter ihnen gut 5.000 Erwachsene und gut 1.500 unbegleitete Minderjährige, gingen damals „freiwillig“ aus Calais fort und stiegen in Busse, mit denen sie über nahezu das gesamte französische Staatsgebiet verteilt wurden. (…) Ende vergangener Woche hielt der Autor dieser Zeilen sich in mehreren französischen Städten auf, um zu versuchen, den dorthin verbrachten Geflüchteten aus Calais auf die Spur zu kommen. Unten stehende, und leicht bearbeitete, Reportage erschien am Dienstag, den 22. November 16 leicht gekürzt in der Tageszeitung ,Neues Deutschland“…“ Reportage von Bernard Schmid vom 23.11.2016

Was wurde/wird aus den Geflüchteten von Calais?

In den letzten Tagen nehmen die Protestbewegungen von Migranten und Migrantinnen/Geflüchteten, die im Zuge der Räumungsoperation vom 24. bis 26. Oktober 16 aus Calais am Ärmelkanal (und dem dortigen, mittlerweile zerstörten Flüchtlingscamp „Jungle“) fortgebracht wurden, sichtbar zu. Rund 7.000 Menschen, unter ihnen gut 5.000 Erwachsene und gut 1.500 unbegleitete Minderjährige, gingen damals „freiwillig“ aus Calais fort und stiegen in Busse, mit denen sie über nahezu das gesamte französische Staatsgebiet verteilt wurden.

Hauptgegenstand ihrer Proteste ist die mangelnde Information, die aus ihrer Sicht mit dem Abtransport und vor allem mit ihrem weiteren Verbleib in den provisorischen Aufnahmezentren einherging. Vor allem Minderjährigen, die über nahe Verwandte auf den britischen Inseln (v.a. in England) verfügen, war in Aussicht gestellt worden, nach einer Prüfung ihrer Situation dorthin gehen zu können. Doch die jeweils zwei Mitarbeiter des britischen Innenministeriums (Home Office), die deswegen an Bord der Busse mitfuhren, stiegen oft an deren Zielort aus und blieben danach „verschollen“. Auch die Drohungen mit einer Rückabschiebung nach Italien – als erstem EU-Land, dessen Boden betreten wurde – oder konkrete Unterbringungsbedingungen vor Ort sind Gegenstand von Protesten. Aus Beaucé in der Bretagne (vgl. https://passeursdhospitalites.wordpress.com/2016/11/20/centres-de-repit-protestations-des-exile-e-s/ externer Link) sowie aus dem bretonischen Rennes (vgl. eine Mitteilung der Geflüchteten: https://passeursdhospitalites.files.wordpress.com/2016/11/communiquc3a9_migrants16-11.pdf externer Link pdf und jene von Unterstützer/inne/n: https://passeursdhospitalites.files.wordpress.com/2016/11/communiquc3a916-11.pdf externer Link pdf) werden Hungerstreiks vermeldet. Im Falle der Unterbringungseinrichtung in Rennes wird den Verantwortlichen vorgeworfen, gegenüber Informations- und anderen Wünschen der Geflüchteten passiv geblieben zu sein, aber bspw. ein Zusammentreffen der Betroffenen mit einer Anwältin unter Berufung auf „die Hausordnung“ unterbunden/verboten zu haben.

Unterdessen wird vermeldet, dass ein kürzlich in Calais festgenommener Sudanese – er zählte nicht zu den „Freiwilligen“, die sich in provisorische Unterkünfte im übrigen Frankreich verbringen ließen – unmittelbar vor der Abschiebung durch Frankreich in den Sudan stehe. (Vgl. http://www.lemonde.fr/societe/article/2016/11/22/la-france-va-renvoyer-un-soudanais-vers-son-pays_5036109_3224.html externer Link) In Anbetracht der Kriegssituation in den Provinzen Kordofan – woher er stammt – und Darfur hat eine Abschiebung in den Sudan, aufgrund der dort bestehenden extremen Gefahren, eine besondere Qualität.

Ende vergangener Woche hielt der Autor dieser Zeilen sich in mehreren französischen Städten auf, um zu versuchen, den dorthin verbrachten Geflüchteten aus Calais auf die Spur zu kommen. Unten stehende, und leicht bearbeitete, Reportage erschien am Dienstag, den 22. November 16 leicht gekürzt in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ (vgl. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1032847.kein-empfang-und-kein-durchkommen.html?sstr=schmid externer Link)

In Rouen werden wir von Pascal Le Moal erwartet. Der pensionierte frühere Arbeitssicherheitsbeamte ist beim „Kollektiv für die Verteidigung der Grund- und Menschenrechte“ (CLDF) in der normannischen Metropole aktiv.
Wir fragten ihn an, ob er uns bei der Suche nach Migrant/inn/en, die bis zur Räumung des als „Jungle“ bezeichneten Flüchtlingscamps in der Nähe von Calais am Ärmelkanal lebten, weiterhelfen könne. Nach der Räumungsaktion von Ende Oktober d.J. wurden Geflüchtete aus dem Raum Calais über insgesamt 450 Unterkünfte in ganz Frankreich verteilt. Dort wird ihnen eine Unterbringung für eine Dauer von drei bis vier Monaten gewäht. Was danach kommt, ist ungewiss – es seien denn, sie nehmen das behördliche Angebot zur „freiwilligen Ausreise“ an oder werden ins französische Asylsystem aufgenommen. Letzteres setzt voraus, dass sie nicht nach der Dublin-Verordnung nach Italien, Griechenland oder Ungarn zurückgeschoben werden können. Oder dass sie Staatsmacht darauf verzichtet, wofür es bislang keine Anzeichen gibt.

Im Verwaltungsbezirke Seine-Maritime, dessen Hauptstadt Rouen ist, kamen insgesamt 636 der Geflüchteten aus Calais an. Derzeit sind 342 von ihnen in Unterkünften beherbergt. Einige der anderen dürften heimlich nach Paris gegangen sein, um sich größeren Migrantengruppen anzuschließen, oder aber zurück an den Ärmelkanal.

Le Moal ist froh, dass ihn die Anfrage unserer Zeitung erreichte. „Die Umverteilung erfolgte durch die Staatsmacht ohne jeden Kontakt mit unseren Initiativen und NGOs, die seit langen Jahren im Bereich der Migrantensolidarität tätig sind“, erklärt der blondlockige Mann. Doch unsere Anfrage habe ihn dazu gebracht, sich an einer Recherche zu beteiligen, die für die örtlichen Initiativen nützlich sein könne. Bislang seien dies nicht von den Migranten, die aus Calais hierher kamen, kontaktiert worden.

Unsere Suche beginnt im foyer (Heim) Colette Yver, einem schmucken Anwesen auf den Anhöhen von Rouen. Es handelt sich um ein Zentrum, das normalerweise für den Schutz von Obdachlosen gegen Kälte bestimmt ist und immer dann geöffnet wird, wenn die Außentemperaturen ein bestimmts Niveau unterschreiten. Hier kamen die Busse mit den MigrantInnen Ende Oktober an. Doch Fehlanzige: Das Zentrum ist bereits wieder leer, um mit dem Sinken der Temperaturen in Bälde wieder seiner Bestimmung zugeführt zu werden.

Der Initiativenvertreter hat aber weitere Adressen auf seinem Zettel und telefoniert mit Fatima, einer Mitarbeiterin einer antirassistischen Solidaritätsinitiative. Wir gehen zum Hameau des brouettes (wörtlich „Weiler der Schubkarren“), einer Sozialeinrichtung im Stadtteil Sotteville-lès-Rouen auf der südlichen Seineseite. Tatsächlich leben hier vierzig bis fünfzig unbegleitete Minderjährige, die zuvor in Calais waren. Einige von ihnen gehen an uns vorbei. Sie kommen aus dem Sudan, einer stammt aus Eritrea. Doch am Eingang stehen Sozialarbeiterinnen und Betreuerinnen, die am heutigen Mittwoch gerade Personalversammlung haben und uns an den Direktor verweisen: Ohne Genehmigung dürften wir nicht diskutieren. Es handele sich um Minderjährige, die „unter besonderem Schutz stehen“ und für die der Staat die Vormundschaft ausübe. Der Direktor verweist uns freundlich an die Präfektur – also an die Vertretung des Zentralstaats in jedem französischen Bezirk, der unter anderem die Polizei und die Ausländerbehörden unterstehen. Dort leitet man uns an die Abteilung Kommunikation weiter. Man werde uns zurückrufen, heißt es.

Wir wenden uns an eine der Initiativen, die von den örtlichen Behörden mit der Unterbringung von Geflüchteten – auch aus Calais – beauftragt wurden, den Carrefour des solidarités („Kreuzung der Solidarität“). Die Sekretärin verweist uns an den Vorstand, und der Vorstand – wieder an die Präfektur. Die Kommunikation bleibt den offiziellen Behörden vorbehalten. Irgendwann wird man uns bestimmt zurückrufen.

Auf eigene Initiative gehen wir zu einem Wohnheim, das uns aus der Ausländerinitaitive ASTI als Unterkunft für „Umverteilte“ aus Calais benannt wurde. Es liegt weit außerhalb, in der Vorstadt Le Grand Quevilly, in einem tristen Neubaugebiet. Plätze für 96 Personen befinden sich an der Adresse, finden wir heraus. Das Publikum sei gemischt: französische „Sozialfälle“, seit längerem ansässige Migranten und nun auch einzelne der Geflüchteten aus Calais. In der rue Voltaire nähern wir uns dem Gebäude. Wir stoßen auf eine scheinbar hermetisch abgeschirmte Quasi-Festung. Das fünfstöckige Haus mit mehreren Reihen gleichförmiger roter Briefkästen ist solide umzäunt und videoüberwacht. Es gibt einen einzigen Eingang, und durch den kommt nur durch, wer eine Magnetkarte besitzt. Es zeigt sich keinerlei Lebenszeichen, abgesehen davon, dass Fahrräder und einzelne Autos im Innenbereich herumstehen. Die Menschen sind entweder irgendwo draußen bei der Arbeit – oder in ihren Zimmern verkrochen. Es gibt keinen Empfang und kein Durchkommen. Bis zum Stadtzentrum sind es mit öffentlichen Verkehrsmitteln über 30 Minuten.

„Hier zeigt sich, wie sehr die Behörden um Abschottung bemüht scheinen“, meint Le Moal. Wenn den Menschen, die zuvor in Calais waren, in einigen Monaten Ablehnung oder Abschiebung drohe – wie könnten sich Solidaritätsgruppen, die sich sonst immer um Migranten kümmern, überhaupt mit ihnen in Verbindung setzen?

Am Vortag ergab sich in Bordeaux ein anderes Bild. Hier konnten wir Geflüchtete, die zuvor in Calais waren, im Außenstadtteil Talence – südlich vom Stadtzentrum – ausfindig machen. In Talence sind vièle der MigrantInnen relativ zentral untergebracht, im Château des Arts, in der nicht allzuweit von der Stadtmitte gelegenen rue Camille-Pelletan. 49 Erwachsene ohne Kinder erhielten dort eine Unterkunft bis Ende März. Das Rathaus informierte die AnwohnerInnen in einem Schreiben, das Anfang Oktober in ihren Briefkästen landete, über die einige Wochen später erfolgende Ansiedlung von Geflüchteten aus Calais.

Anfang November kamen dann 18 unbegleitete Minderjährige aus Calais hinzu. In ihrem Falle gingen die örtlichen Behörden weitaus diskreter vor, um keine öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Unterbringung wurde an eine Sozialinitiative übertragen, das Comité des œuvres sociales (COS), und in Hotelzimmern vorgenommen. Die Stadtverwaltung glaubte, so das geringst mögliche Aufsehen zu erregen. Doch seit Anfang der Woche begannen drei 16jährige afghanische Migranten dort einen Hungerstreik. Ihr Unmut lässt sich durch die Behörden nicht langer verborgen halten.

Ein laut eigenen Angaben 13jähriger mit dem Vornamen Wasilkareem erzählt, er sei von Calais aus auf eine zwölfstündige Busreise geschickt worden. Die Fahrt ins Unbekannte führte nach Südwestfrankreich, bis hierher in den Raum Bordeaux. An Bord waren 37 unbegleitete Minderjährige, die nicht wussten, wohin ihre Reise führen sollte, und die später auf die beiden Kommunen Arès und Talence verteilt wurden.

Um die Sorgen und Ängste der Heranwachsenden zu beruhigen, wurden ihrem Bus zwei Mitarbeiter des Home Office – des britischen Innenministeriums – mitgegeben, die die Fahrt begleiteten. Dies war auch bei anderen Bussen mit unbegleiteten Minderjährigen der Fall. Ihre Rolle sollte darin bestehen, die Jugendlichen an den Bestimmungsorten anzuhören und mit den britischen Heimatbehörden im Kontakt zu bleiben, um zu ermitteln, wer von ihnen über enge familiäre Beziehungen im Vereinigten Königreich verfügt. Wer dort über nahe Angehörige verfügt, dies wurde den Minderjährigen versprochen, könne auch im Laufe der kommenden Monate noch nach England gehen. Und zwar offiziell und mit einer Fahrkarte ausgestattet, nicht auf eigene Faust und „illegal“, wie die Menschen dies von Calais aus immer wieder versucht hatten.

Doch seine Anhörung habe nur acht Minuten gedauert, berichtet Wasilkareem, und es seien nur ein paar Banalitäten abgefragt worden. Er will nach Southampton, wo ein Bruder seiner Mutter wohnt. Später sei er nochmals vorgeladen worden, und es seien ihm genau dieselben Fragen gestellt worden. Auf seine Nachfrage hin erfuhr er, man habe „sein Papier verloren“. Daraufhin brach sein Vertrauen in das Prozedere zusammen. Wie er seien viele andere Heranwachsende beunruhigt darüber, wie es weitergehe.

Reportage von Bernard Schmid vom 23.11.2016 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=107499
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