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Frankreich: Protestmobilisierung ist (erstmals? vorerst?) rückläufig, die Debatte um politische „Angebote“ an die Gelbwesten-Bewegung beginnt

Artikel von Bernard Schmid vom 17.12.2018 – wir danken!

Einige Träger/innen „gelber Westen“, zumindest, haben in den vergangenen Wochen tatsächlich durch diese Bewegung ihr Glück gefunden. Eine Reihe von Facebookgruppen haben sich mittlerweile zum Zwecke der Partner/innen/suche speziell unter „Gelben Westen“ herausgebildet. Mehrere von ihnen zählen rund 3.000 Mitglieder. „Schnauze voll davon, allein zu demonstrieren? Auf dieser Seite können Sie die Liebe für das Leben oder für eine Nacht finden, mit einem gemeinsamen Interesse für soziale Gerechtigkeit und den Respekt des Volkes“, verkündet etwa eine entsprechende Gruppe für die ostfranzösischen Départements Savoyen und Hochsavoyen. Es sei den Betreffenden wohl gegönnt.

Auch ansonsten passiert in dieser derzeitigen Protestbewegung so manches, was auch in früheren sozialen Bewegungen (unabhängig von ihren konkreten Inhalten) passierte, doch in neuen Formen. Eine Feststellung, die – vergleichbar dem Gravitationsgesetz, wonach sich die Erdanziehung auf jeden Körper mit Gewicht auswirkt – jede soziale Bewegung früher oder später betrifft, findet nun auch auf die „Gelben Westen“ Anwendung: Nach circa drei oder (oft) vier Wochen findet ein gewisser Rückgang der Mobilisierung statt. Denn dann treten die ersten, unvermeidlichen Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen ein: Leute mit familiärem Anhang, Unterhaltspflichten, Job oder geregeltem Erwerbsleben können über einen gewissen Zeitraum hinaus nur mehr begrenzt einen Hauptteil ihrer Lebenszeit der Mobilisierung widmen. Es kristallisiert sich ein härterer Kern von „Aktivist/inn/en“ heraus. Diese trifft man dann oft (je nach Form und Inhalt der Bewegung) entweder wenige Monate später in neuen Mobilisierungsschüben derselben sozialen Bewegung wieder, oder – für einen Teil unter ihnen – in Gewerkschaften, Parteien oder Sozialvereinigungen, die (tatsächlich oder vermeintlich) dieselben Ziele in einem weitergesteckten Rahmen verfolgen.

Nun war auch die Mobilisierung der „Gelben Westen“ erstmals zahlenmäßig rückläufig, und dies nach fünf Samstagen hintereinander, an denen intensiv mobilisiert wurde: 17. November (eher dezentral), 24. November (ab diesem Datum mit einem Aufruf zum zentralen Zusammenkommen in Paris neben dezentralen Aktivitäten), 1. Dezember, 8. Dezember und nun 15. Dezember. Dies schien kaum vermeidlich. Unabhängig von Methode, Form und Inhalt des jeweiligen Inhalts gingen sowohl Streikbewegungen – wie die Massenstreiks in Frankreichs öffentlichen Diensten vom 24. November bis 21./22. Dezember 1995 – als auch städteübergreifende Riots in den Banlieues (vom 27. Oktober bis Mitte November 2005) nach einem vergleichbaren Zeitraum zahlenmäßig zurück.

Konkret wurden an diesem Samstag, den 15. Dezember d.J.laut innenministeriellen Angaben 66.000 Teilnehmer/innen an Protestaktionen (Verkehrsblockaden oder Straßenversammlungen/Demonstrationen/Kundgebungen verzeichnet (vgl. http://www.leparisien.fr/economie/gilets-jaunes-avec-33-500-manifestants-en-france-la-mobilisation-recule-15-12-2018-7969554.php externer Link); am Samstag zuvor, 08. Dezember 18 war von 125.000 bzw. 136.000 die Rede. (Vgl. auch https://www.europe1.fr/societe/gilets-jaunes-66000-manifestants-dans-toute-la-france-3821513 externer Link) In Paris lautete die Beobachtung, dass jedenfalls viele Straßen außerhalb des Großraums Champs-Elysées, wo sich genau sieben Tagen zuvor um die Mittagszeit „Gelbe Westen“ tummelten – wie etwa zwischen Ostbahnhof und place de la République – dieses Mal gähnende Leere anzeigten.

Zu den Erklärungsfaktoren zählen in diesem Falle:

  • hinzu kommen Eisregen, Kälte und Wintereinbruch!

Allerdings wurden keine präzisen Informationen dazu publik, dass Menschen tatsächlich stundenlang (oder gar darüber hinaus) unterwegs festgehalten worden wären. Es dürfte sich eher um Fahrzeug- und Taschenkontrollen gehandelt haben, um Atemschutzmasken, andere Formen von Tränengasschutz (oder auch Schlagwerkzeuge) aufzuspüren. Möglicherweise hat sich manche Anreise dadurch verzögert, wohl aber auch nicht tagelang.

Insgesamt kam es an diesem Samstag, den 15. Dezember im Vergleich zu den beiden vorausgehenden (1. und 08. Dezember 18) zu relativ, relativ wenigen Festnahmen zwecks Personalienfeststellung und In-Polizeigewahrsam-Nahmen. Im Raum Paris wird ihre Gesamtzahl am 15.12.18 derzeit auf 179 vorläufige Festnahmen, von denen 144 in Polizeigewahrsam verlängert wurden, beziffert. (Vgl. https://www.cnews.fr/france/2018-12-17/gilets-jaunes-en-direct-edouard-philippe-precise-les-mesures-du-gouvernement externer Link)

Bezogen auf ganz Frankreich sind die Angaben ein wenig schwieriger zu finden. Der russische Propagandasender Sputnik, welcher gerne die Finger auf die sozialen Widersprüche in Westeuropa legt (etwas weniger auf jene zu Hause bei Väterchen Wladimir) und dabei manchmal auch nützliche Informationen liefert – was die staatlichen Auftraggeber nicht besser macht -, beziffert sie auf 351 in ganz Frankreich, darunter 242 mit Verlängerung durch 24- bis 48stündigen Polizeigewahrsam. (Vgl. https://fr.sputniknews.com/france/201812161039329478-gilets-jaunes-interpellations-bilan/ externer Link) Letztlich findet man dieselbe Information, sucht man etwas genauer, dann auch beim französischen bürgerlichen Propaganda-, Manipulations- und Beriesel-Sender BFM TV. (Vgl. https://www.bfmtv.com/societe/gilets-jaunes-a-paris-179-interpellations-dont-144-gardes-a-vue-1589797.html externer Link)

Alleine für sich genommen, erklärt die Repression wohl sicherlich nicht den relativen Rückgang der Mobilisierung.

Derzeit beginnt nun auch die Strategiediskussion, wie man es auch in der Ausgangsphase anderer sozialer Bewegungen (unabhängig vom Inhalt ihrer jeweiligen Anliegen und dessen Bewertung) kennt. Im Raum Toulouse etwa berieten die „Gelben Westen“ nunmehr am Sonntag, den 16.12.18 über Fragen wie Strukturierung in Kommissionen, andere Aktionsformen (vorübergehender Boykott von Stromzahlungen und anderen Rechnungen?) und ähnliche Belange. (Vgl. https://www.ladepeche.fr/article/2018/12/17/2926229-gilets-jaunes-structurent-toulouse-envisagent-nouveau-mode-action.html?mediego_euid=35117 externer Link)

Auf Landesebene kristallisiert sich heraus, dass die Forderung nach Einführung der Mögloichkeit eines durch Bürgerbegehren anzustrengenden Referendums (RIC, für référendum d’initiative citoyenne) – zur Abschaffung eines bestehenden oder Einführung eines neuen Gesetzes – für Teile der Bewegung zum neuen Allheilmittel zu werden scheint. (Vgl. https://actu.orange.fr/france/gilets-jaunes-qu-est-ce-que-le-referendum-d-initiative-citoyenne-magic-CNT000001b5uYO.html externer Link und https://www.youtube.com/watch?v=wmTzs_cgQaA externer Link oder https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2018/12/16/six-questions-sur-le-ric-referendum-d-initiative-citoyenne-qui-seduit-les-gilets-jaunes_5398368_4355770.html externer Link) In Einzelfällen mag dies – im arbeits- oder sozialpolitischen Bereich – ein hypothetischer Hebel für progressive Anliegen sein, allerdings sei davor gewarnt, was im Falle von durch die Rechte oder extreme Rechte angestrengten Volksbegehren blühen könnte.. Auch die Schweiz, wo solche Volksbegehren alltäglich existieren, ist kein progressives Paradies..

Zugleich hat die Debatte um eine eventuelle Betätigung in Parteienform begonnen, einige Beobachter/innen und Betroffene umzutreiben. Ein paar Protagonisten scheint es in den Fingern zu jucken, doch andererseits wird dieser Vorschlag – sich auf der Bühne der Parteienpolitik zu betätigen – oftmals auch von außerhalb der Protestbewegung an sie herangetragen.

Die Regierungspartei LREM (La République en marche) ließ etwa bei einem Umfrageinstitut eine Befragung in Auftrage geben – und selbige prompt veröffentlichen -, in welcher die Hypothese des Antretens einer „Gelbe Westen“-Liste zu den Europaparlamentswahlen vom 26.05.19 in Frankreich getestet wird. Diese würde demnach vor allem bei Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon Wähler/innen abziehen. (Vgl. hier https://www.lejdd.fr/Politique/sondage-les-gilets-jaunes-a-12-aux-europeennes-en-cas-de-candidature-3816677 externer Link) Nur dürfte dies kaum derart funktionieren, vielmehr würde das Aufstellen gemeinsamer Listen eine heterogene Protestbewegung sofort auseinander zu hauen. Nun richten diverse politische Parteien ihr jeweiliges Angebot an die „Gelben Westen“. Der designierte Spitzenkandidat der Französischen KP möchte welche auf seinen Listen zu den Europaparlamentswahlen stehen sehen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/12/17/97001-20181217FILWWW00096-europeennes-ian-brossat-pcf-veut-des-gilets-jaunes-sur-sa-liste.php externer Link) Der Linksnationalist und Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélelchon seinerseits posaunt hinaus, das Auftreten der Gelbwesten habe ihn voll und ganz „bestätigt“, diese übernähmen ja sein volles Programm. (Vgl. https://actu.orange.fr/politique/melenchon-estime-que-le-mouvement-des-gilets-jaunes-lui-donne-entierement-raison-CNT000001b6KAR.html externer Link) Mélenchons Berater und Abgeordneter Alexis Corbière hingegen sieht ihre gemeinsame Wahlplattform, La France insoumise (LFI, „Das unbeusagem Frankreich“) dagegen diesbezüglich in einem „Wettlauf mit der extremen Rechten“ stehen, erkennt also einen tobenden Hegemoniekampf. (Vgl. https://actu.orange.fr/politique/gilets-jaunes-lfi-est-dans-une-course-de-vitesse-avec-l-extreme-droite-selon-corbiere-CNT000001b8hHL.html externer Link) Auch der konservative Oppositionsführer (auf Landesebene) und Regionalpräsident in Lyon, Laurent Wauquiez, empfing an diesem Montag – 17. Dezmber 18 – soeben Vertreter der „Gelben Westen“. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2018/12/17/97001-20181217FILWWW00127-laurent-wauquiez-recoit-des-gilets-jaunes-a-lyon.php externer Link) Auch die Neofaschistin Marine Le Pen profitiert unterdessen erkennbar von der neuen innenpolitischen Situation: Fände die französische Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag statt, erhielte sie laut einer jüngsten Umfrage 27 % der Stimmen und den ersten Platz im ersten Durchgang (statt 21,3 % und den zweiten Platz vor anderthalb Jahren)(vgl. https://actu.orange.fr/politique/si-la-presidentielle-se-tenait-aujourd-hui-emmanuel-macron-serait-second-magic-CNT000001b6JMD.html externer Link)

Wohin die Reise also gehen wird, das steht zum jetzigen Zeitpunkt gewiss noch nicht fest…

Hingegen steht fest, dass die Regierung allmählich ungeduldig wird; Innenminister Christopher Castaner wollte an diesem Montag den Verkehrsblockaden nun ein definitives Ende gesetzt wissen… (Vgl. https://actu.orange.fr/politique/ca-suffit-castaner-appelle-a-lever-les-blocages-des-gilets-jaunes-CNT000001b8mJZ.html externer Link)

Artikel von Bernard Schmid vom 17.12.2018 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=141695
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