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Die ZADisten kommen! Frankreich: Umweltproteste als neue soziale Bewegung

Artikel von Bernard Schmid vom 11.1.2015

Protest gegen das Flughafenprojekt von Notre-Dame-des-Landes„Dümmer als die Polizei erlaubt?“ Der Ausdruck erweist sich als falsch, denn die dümmsten oder schrägsten Ideen hat die Polizei selbst. Vor nunmehr zwei Jahren taufte die Einsatzleitung der Bereitschaftspolizei auf dem Gelände des Flughafenprojekts von Notre-Dame-des-Landes, einige Kilometer von der westfranzösischen Großstadt Nantes entfernt, ihren geplanten Ordnungseinsatz auf den Namen „Operation Cäsar“. Die Anspielung auf den altrömischen Machthaber war gewollt und sollte intendieren, dass man nun dem Dorf der widerspenstigen Gallier in Form der ZAD – zone à défendre oder „Zu verteidigende Zone“ -, also des Hüttendorfs der Flughafengegner, zu Leibe rücken werde. In der französischen Öffentlichkeit konnte dies jedoch nur überwiegende Sympathie hervorrufen, oder die Opponenten des Großbauprojekts zumindest in einem heiteren Licht erscheinen lassen. Prompt antworteten diese daraufhin im November 2012 mit einer „Operation Asterix“.

Das Flughafenprojekt von Notre-Dame-des-Landes, in der Protestszene meist mit den Initialen „NDDL“ abgekürzt, kam diese Woche erneut ins Gerede. Momentan ruhen dort die Bauarbeiten, seit etwa einem halben Jahr, weil noch neue Klagen der Projektgegner auf umweltrechtlicher Grundlage anhängig sind. Eine vorangegangene Rechtsbeschwerde war zuletzt im November 2013 abgelehnt worden. Doch als sich an diesem Montag Vormittag (05. Januar 15) Staatspräsident François Hollande in einem zweistündigen Rundfunkinterview an die Nation wandte – ein Bestandteil seines mehr oder minder verzweifelten Versuchs, wieder in die Kommunikationsoffensive zu kommen und seine extrem schlechten Popularitätswerte zu überwinden -, kam die Sprache auch auf das Bauvorhaben von NDDL. Hollande stellte dabei klar, man werde die ausstehenden Gerichtsverfahren noch zu Ende bringen, und danach werde gebaut, punktum. Ein Scheitern des Projekts aufgrund gerichtlicher Urteile scheint er gar nicht ins Auge zu fassen. Ähnlich äußerte sich wenige Wochen zuvor auch sein Premierminister Manuel Valls, der ebenfalls keinerlei Zweifel am Ausgang aufkommen lassen wollte – oder durfte, allein schon um sein durch die Medien aufgebautes „Macher“image nicht zu gefährden.

NDDL zählt jedoch in den Augen eines nicht geringen Teils der französischen Öffentlichkeit zu einer Serie von „unnötigen Großprojekten“, die im Kern nutzlos seien und im Ergebnis nur die Umwelt zerstörten. Im Falle des Flughafenprojekts, das am 15. Oktober 2003 durch die damalige Rechtsregierung von Jean-Pierre Raffarin offiziell genehmigt worden war, gibt es dafür sehr reale Anhaltspunkte. Die Pläne für den Flughafenneubau, der den bereits vorhandenen Flughafen von Nantes ersetzen soll, datieren bereits aus den 1960er Jahren. Dabei ging es zwar auch darum, die Flugbewegungen weiter von den Wohngebieten der Stadt zu entfernen, aber vor allem um den Wunsch nach fast exponentieller Steigerung des Fluggastaufkommens im Rahmen eines „Entwicklungsprojekts Großer Westen“. Nur haben sich die damals angestellten Berechnungen nicht erfüllt, und bei dem neuen Projekt würde die Lärmbelästigung der Bevölkerung eher noch erhöht. Denn nach derzeitigen Planungen würden fünfzig Prozent der Stadt- und Landebewegungen weiterhin über Nantes gehen und in weniger als 500 Meter Höhe über Wohngebieten stattfinden.

Wird der neue Flughafen gebaut, soll er bis zum Ende des Jahrzehnts vier Millionen und in späterer Zeit dann bis zu zehn Millionen Fluggäste pro Jahr aufnehmen können. Der derzeit bestehende Flughafen ist auf 3,5 Millionen Fluggäste pro Jahr ausgelegt und lag im vergangenen Jahr knapp darüber, könnte mit einigen unwesentlichen baulichen Veränderungen jedoch locker auch vier Millionen aufnehmen. Abgesehen von der Frage, ob eine glatte Verdreifachung der Flugbewegungen in Anbetracht von Kerosinverbrauch und Luftverschmutzung sowie CO2-Ausstoß überhaupt wünschenswert sein könnte, ist sie jedenfalls derzeit auch nicht in Sicht. Zudem liegen die Pariser internationalen Großflughäfen Orly und Roissy in nur rund 400 Kilometern Entfernung oder, im ersteren Falle, zweieinhalb TGV-Stunden von Nantes entfernt.

Dennoch hielten die Regierenden an dem Projekt eisern fest, das laut offiziellen Zahlen – denen selten zu vertrauen ist, wie Berliner Erfahrungen zeigen – rund 600 Millionen Euro kosten und zu 44 Prozent durch die öffentliche Hand subventioniert werden soll. Einige der Gründe dafür liegen in Prestigewünschen – der frühere regierende Bürgermeister von Nantes, Jean-Marc Ayrault, war von 2012 bis 2014 Premierminister und verhinderte damals ein Kippen des Projekts – und im Willen nach Wirtschaftsförderung. Die Gegner machen dagegen geltend, dass seltene Feuchtweisen aus schlecht nachvollziehbaren Gründen geopfert und ein nur ein Kilometer vom künftigen Flughafen entferntes Seen- und Vogelschutzgebiet bedroht würden. Aber auch einige Landwirte wollen ihre umliegenden Felder nicht dafür preisgeben.

Seit nunmehr zwei Jahren eskalieren die Proteste darum. An mehreren Aktionswochenenden wie im Mai, im August und nochmals im Herbst 2013 reisten jeweils auch mehrere Zehntausend Menschen aus nahezu ganz Frankreich, darunter dem Großraum Paris, zur Unterstützung der örtlichen Aktivisten an. Auch Jungle World war dabei. Bei Konzerten auf dem künftigen Baugelände und zu protestorientierten „Spaziergängen“ konnten bis zu 40.000 Menschen mobilisiert werden.

Dabei ist auch ausschlaggebend, dass die seitdem vielerorts in Frankreich aufkeimenden Umweltprotestbewegungen derzeit fast die einzige greifbare Opposition im Lande darstellen. Jedenfalls, was offene soziale Bewegungen außerhalb von fest strukturierten politischen Gruppen betrifft. Anders als in Westdeutschland, wo Ökologiebewegungen, aber vor allem der Anti-Atomkraft-Protest in den 1970er Jahren viel frei flottierendes Protestpotenzial auf der Linken anzogen – nachdem die Mehrzahl ihrer Strömungen zuvor beim Versuch eines Aufbaus von Betriebspolitik gescheitert waren -, konzentrierte sich radikale Politik in Frankreich umgekehrt noch bis wenigen Jahren stark auf Arbeitskämpfe, Konflikte um Verteilungsfragen zuzüglich Antirassismus und Antifaschismus. Auf dieser Ebene findet jedoch derzeit ein Umbruch statt.

Seit dem, durch die Gewerkschaft verlorenen, Massenprotest gegen die mittlerweile vorletzte „Rentenreform“ im Jahr 2010 fand kein massiver und unterschiedliche Milieus zusammenführender Sozialprotest mehr statt. Der letzte gewonnene soziale Kampf liegt nunmehr acht Jahre zurück, mit dem Kampf gegen verringerten Kündigungsschutz für unter 26 bzw. unter 30jährigen Neubeschäftigte. Zu den Ursachen zählen die tiefe Lähmung der Gewerkschaften, die notorisch über die Frage gespalten sind, ob man auch unter einer sozialdemokratischen Regierung ähnlich wie unter einer konservativ-wirtschaftsliberalen „rücksichtslos“ protestieren dürfe – oder aber ihre vermeintlichen Bemühungen unterstützen oder jedenfalls gegen mit der Rechten drohende Verschlimmerungen abschirmen müsse. Umgekehrt tun sich auch die Gewerkschaften schwer mit dem Umweltprotest. Denn zwar nehmen viele ihrer Mitglieder an der Basis daran teil, am stärksten die Angehörigen von Lehrergewerkschaften. Doch gleichzeitig zieht auch das „Arbeitsplätze“-Argument bei einem Teil der Beschäftigtenverbände. Im Oktober 2014 gründete sich in Nantes nun erstmals ein, vorwiegend von libertären Gewerkschaftern getragenes, „Kollektiv von CGT-Mitgliedern gegen NDDL“. Nantes ist seit jeher Hochburg anarcho-syndikalistischer Traditionen, die auch heute in manche der bestehenden Gewerkschaften hineinwirken.

Neben Lohnabhängigen sind aber auch andere Milieus in den frankreichweit aufsprießenden ZADs oder zones à défendre aktiv – der Name kommt von einer Abwandlung des offiziellen Kürzels, ZAD für zone à aménagement différé (ungefähr „Zone für längerfristige Erschließung“). Dieses rechtliche Instrument erlaubt es staatlichen Stellen oder Unternehmen, Bauvorhaben über einen sechsjährigen Zeitraum mit einem Vorkaufsrecht für alle potenziell in Frage kommenden Grundstücke durchzuführen. Der zu Protestzwecken abgewandelte Name wurde unterdessen ebenso Hüttendörfern in Notre-Dame-des-Landes gegeben wie Protestcamps in der Nähe des Staudammprojekts von Sivens in Südwestfrankreich, rund dreißig Kilometer von Toulouse entfernt, oder auch in Roybon in der Nähe von Grenoble. Dort soll ein geschütztes Waldgrundstück einem Center Parc, also einer Freizeiteinrichtung, weichen. Seit dem vergangenen Herbst laufen auch dort heftige Proteste. Zwei Tage vor Weihnachten stoppte ein Gericht das Bauvorhaben aufgrund der Nichtbeachtung wasserrechtlicher Vorschriften. Der Bauherr, der Club Pierre & Vacances, ging in Berufung und bot zugleich Gespräche über Abwandlungen an den bisherigen Plänen an.

Neben städtischen Linken und Gewerkschaftern, die aus Toulouse nach Sivens, aus Grenoble nach Roybon oder auch aus Städten von Nantes bis Paris zum Großprotest gegen „NDDL“ anreisen, leben in den ZAD auch Baugegner tagaus, tagein direkt vor Ort. Den bürgerlichen Journalisten fällt es schwer, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, da sie gegenüber den Medien mehrheitlich grundsätzlich misstrauisch sind. Und ihnen gegenüber beispielsweise stets nur unter einem einheitlichen, geschlechtsneutralen Vornamen – „Camille“ – zu reden bereit sind.

Zu ihnen zählen junge Menschen, die aus der unmittelbaren Umgebung stammen, aber auch jüngere und ältere Menschen von weiter außerhalb, die den Aufenthalt dort zum Anlass nehmen, mit ihrem bisherigen Leben zu brechen. Manche von ihnen führen eine Art Aussteigerleben, das sie damit begründen, bisher stets in prekären Beschäftigungsverhältnisse gearbeitet zu haben – aber auch gar keine Motivation zu verspüren, in eine dauerhaft gefestigte und auf Erwerbsarbeit ausgerichtete Existenz tiefer einsteigen zu wollen. Aber auch organisierte Autonome, die meinen, hier über neuen einen Hebelpunkt zum Umkippen des verhassten Systems zu verfügen, machen mit.

Als Trittbrettfahrer versuchten vor allem in Sivens in der zweiten Jahreshälfte 2014, auch organisierte Rechtsextreme mitzumischen. Nach ihrer Enttarnung wurden sie jedoch von ortsansässigen Protestaktivisten entfernt. Sie zählen vor allem zu einer außerparlamentarischen Aktivistengruppe namens MAS (Mouvement d’action sociale), die ähnlich der italienischen Casapound-Bewegung auf vordergründig innovative Weise in verschiedene gesellschaftliche Bereiche einzudringen versucht. Die etablierte und parteiförmige extreme Rechte hat sich jedoch, nach einigem Herumeiern, gegen eine demagogische Unterstützung für die Proteste entschieden. Beim Front National forderte der Vizevorsitzende Louis Aliot im Herbst zunächst „örtliche Referenden“ über Bauprojekte und glaubte, mittels der Abstimmungsforderung Befürworter wie Gegner ruhigstellen zu können. Doch dann wuchs der Druck der konservativ-reaktionären Landwirtelobby in Gestalt des auf „Produktivismus“, also auf Produzieren-um-jeden-Preis ausgelegten Bauernverbands FNSEA. Dessen Mitglieder schwanken oft zwischen einer Stimmabgabe für Konservative oder für die extreme Rechte. In Sivens etwa marschierte die FNSEA auf und forderte die Fertigstellung des umstrittenen Staudammprojekts. Daraufhin schwenkte der Front National auf einen harten Kurs ein. Seine Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen forderte ein „Verbot gewalttätiger linksradikaler Protestgruppen“.

Bei dem Bauvorhaben von Sivens geht es um ein Aufstauen des Flüsschens Tescou, das ein Feuchtgebiet mit über neunzig seltenen Arten – vor allem Pflanzen – massiv gefährdet. Auch hier sind die Planungen, die dem seit 1989 in die Wege geleiteten Projekt zugrunde liegen, großteils Makulatur. Die genutzte landwirtschaftliche Anbaufläche rund um den Stausee, deren Bewässerung das Bauvorhaben dienen soll, sind seit Beginn der Planungen insgesamt um ein Drittel geschrumpft. Doch entgegen offizieller Beteuerungen, hier gehe es um eine Begünstigung des Anbaus durch kleine Produzenten und biologischer Methoden, geht es der Agrarlobby in Wirklichkeit um Pläne für einen intensiven und umweltgefährdenen Anbau durch einige wenige Großproduzenten – es gibt in ihren Augen anscheinend noch nicht genug Mais-Monokulturen. Die Bezirksbehörden im Département Tarn sind fest in der Hand dieser konservativen Agrarlobby. Inzwischen zweifelt allerdings auch eine offizielle Expertise für das französische Umweltministerium den Nutzen des Projekts an, und die EU drohte Frankreich mit einem Verfahren wegen Verstoßes gegen Umweltvorschriften beim Genehmigungsverfahren des Projekts.

Letzteres ruht heute, um neue Prüfungen zu ermöglichen. Seine politische Durchsetzungsschwierigkeiten sind immens gewachsen, seitdem in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober ein junger Demonstrant in Sivens ums Leben kam. Der 21jährige Student der Botanik Rémi Fraisse wurde in jener Nacht durch eine so genannte Offensivgranate der Polizei tödlich getroffen. Dabei handelt es sich um mit dem Sprengstoff TNT gefüllte Schockgranaten, die zuletzt im Juli 1977 in Creys-Malville den jungen Anti-Atomkraft-Demonstranten Vital Michalon getötet hatten – seitdem war jedoch an ihrem Einsatz nichts Wesentliches geändert worden.

Zum ersten Mal seit 1986 und dem Tod des protestierenden Studenten Malik Oussekine kam damit in Frankreich ein Mensch bei einem Polizeieinsatz im Zusammenhang mit einer Demonstration ums Leben. Im Nachhinein erfuhr die Öffentlichkeit, dass die Gendarmeriekräfte in jener Nacht über vierzig solcher „Offensivgranaten“ abgefeuert hatten. Ihre Gefährlichkeit musste der französische Innenminister Bernard Cazeneuve indirekt einräumen, indem er drei Tage nach dem Tod des Demonstranten ihre Verwendung mit sofortiger Wirkung untersagte. Bis dahin war über 48 Stunden lang der gewaltsame Tod des 21jährigen zunächst verschwiegen worden – in ersten Agenturmeldungen hieß es lediglich, die Beamten hätten den Leichnam „gefunden“, als ob die Einsatzkräfte nichts damit zu tun hätten -, und wurde seine Ursache angezweifelt. Nachdem die äußere Gewalteinwirkung offensichtlich geworden war, leugneten die Behörden daraufhin den Zusammenhang und behaupteten, vielleicht sei ja der Rucksack des Getöteten, der nicht aufgefunden wurde, mit einem mysteriösen Inhalt ausgestattet gewesen und explodiert.

Cazeneuve musste jedoch die Realität eingestehen, nachdem zwei Laboranalysen TNT-Spuren auffanden, die nur aus den Beständen der Polizeigranaten stammen konnten. Rémi Fraisse war unbewaffnet gewesen und führte weder Molotow-Cocktails noch andere potenziell riskante Gegenstände bei sich. Es war die erste Demonstration seines Lebens gewesen, und in angetrunkenem Zustand am späteren Abend hatte er sich nicht erkannt, wo die Gefahrenzone während der militanten Auseinandersetzungen lag. Fraisse hatte einer bürgerlichen Umweltschutzvereinigung namens France Nature Environnement (FNE) angehört, die auch eine Komponente der Ökoproteste bildet.

Dieser erste Demonstrationstote seit Jahrzehnten führte dazu, die laufenden Umweltproteste noch stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Zudem fanden Anfang November mehrere Wochen lang Schülerproteste und Oberschulstreiks in Paris und angrenzenden Städten wie Saint-Denis statt, deren Teilnehmer allerdings oft durch betont martialische Aktionen aus der autonomen Szene am Rande von Demonstrationen abgeschreckt wurden. Der politische Preis für das Durchsetzen von unbeliebten und umweltzerstörenden Großprojekten wuchs zwischenzeitlich erheblich.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=73146
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