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Achtung, Achtung, hier demonstriert die Polizei

 Artikel von Bernard Schmid vom 28.10.2016, Langfassung eines Beitrags, welcher in gekürzter Form am Donnerstag, den 27. Oktober d.J. in der Wochenzeitung Jungle World erschien

Calais: Teilräumung des „Jungle“-Camps von Migranten am ÄrmelkanalDie Demonstrantinnen und Demonstranten dringen nächtlich auf dem Pariser Prachtboulevard Champs-Elysées vor. Dort, wo Protestzüge immer oder so gut wie immer verboten bleiben und lediglich die Militärparade am 14. Juli eines jeden Jahres genehmigt wird. Und so geht das seit Tagen, oder eher, seit mehreren Nächten. Viele von ihnen sind vermummt, haben Schals und Tücher vor das Gesicht gezogen. Einer, den die Blitzlichter der Kameras besonders ins Visier nehmen, trägt eine Totenkopfmaske mit dem Punisher-Emblem. Doch die Behörden schreiten nicht energisch ein. Zwar wird eine polizeiliche Untersuchung über die Vorkommnisse eingeleitet, doch die Regierung und der nationale Polizeidirektor – Jean-Marc Falcone – geben schnell beruhigende Erklärungen ab, was eventuelle Folgen betrifft. Premierminister Manuel Valls, der vor dem Antritt seines jetzigen Amts 2014 zwei Jahre lang Innenminister war und sich gern als „starker Mann“ aufführt, sprach den Demonstranten gar seine „volle Unterstützung“ aus.

Verkehrte Welt, also? Und, könnte man mit einem  feststehenden Ausdruck fragen, que fait la police? Doch, nein: Nichts tut sie dagegen, die Polizei. Das allerdings ist keineswegs verwunderlich. Denn seit dem Montag vergangener Woche gilt in Paris und anderen französischen Großstädten allabendlich: Achtung, Achtung, hier demonstriert die Polizei.

Es ist zwar ein Verstoss gegen geltende Berufsregeln, denn französische Polizeibeamte dürfen sich zwar gewerkschaftlich organisieren, müssen ein devoir de réserve – eine politische und soziale Zurückhaltungspflicht – einhalten. Ihre aktuelle Protestbewegung ging vom südlichen Pariser Umland aus, dem Verwaltungsbezirk Essonne. Dort wurden am zweiten Samstag im Oktober an einer Straßenkreuzung in der berüchtigten Hochhaussiedlung La Grande-Borne, die an der Grenze der beiden Kommunen Grigny und Viry-Chatillon liegt, vier Beamtinnen und Beamte in einem Streifenwagen angegriffen. An jenem Nachmittag befanden sie sich auf einer Kreuzung, an der eine riesige Überwachungskamera installiert wurde, die den zuvor an der Ecke florierenden Drogenhandel stört. Die rund fünfzehn vermummten Angreifer setzten Molotow-Cocktails ein. Alle vier Polizisten zogen sich Verbrennungswunden zu, ein 29jähriger und eine 38jährige wurden dabei schwer verletzt.

Der hässliche Vorfall gab den Anlass zu einer Protestbewegung, in deren Verlauf Teile der Polizei – an ihren als zu zahm empfundenen Gewerkschaften vorbei – mal mehr Personal, mal eine bessere Bewaffnung fordern, sich oft aber auch gegen eine als „zu lasch“ betrachtete Justiz wettern. Letzterer wird vorgeworfen, sie spreche Delinquenten frei oder lasse sie auf Bewährung laufen, die man soeben selber festgenommen habe. Unvermeidlich ist dabei, dass der Beamtenprotest zum Teil rechts aufgeladen wird. Einer der selbsternannten Wortführer entpuppte sich infolge eines Berichts des konservativen Wochenmagazins Le Point als ein Nichtpolizist, der 30jährige Rodolphe Schwartz. Er verließ die Polizei, nachdem er mehrfach bei Offiziersprüfungen durchgefallen war, und arbeitet inzwischen für die private Security der Supermarktkette Carrefour. Zwischendurch kandidierte er bei Kommunalwahlen für den neofaschistischen Front National (FN). Laut einer vor anderthalb Wochen publizierten Umfrage wollen angeblich 57 Prozent der Polizisten und Gendarmen für die Chefin der rechtsextremen Partei, Marine Le Pen, stimmen.

Inzwischen haben auch linke Protestierende die Freiheiten, die sich die Polizei jüngst heraus nehmen konnte, in ironischer Form aufgegriffen. „Wir wollen auch auf den Champs Elysées demonstrieren!“ wurde am Montag Abend aus der Menge von einigen Hundert Demonstranten gerufen, die in Paris gegen die am Morgen begonnene Auflösung des Migrantencamps in der Nähe von Calais protestierten. Diese begann zunächst planmäßig, und Innenminister Bernard Cazeneuve verkündete am Montag: „Alles verläuft ruhig.“ Dies dürfte jedoch täuschen. Denn zunächst werden diejenigen Migranten aus Calais abtransportiert, die sich mehr oder minder freiwillig für eine Unterbringung – die nur für drei Monate garantiert ist – in einer der Aufnahmeeinrichtungen im übrigen Frankreich entschieden. Doch „2.000 Migranten weigern sich, aus Calais zu gehen“, und werden Widerstand leisten, kündigte Christian Salomé von der NGO L’auberge des migrants (Die Herberge für Migranten) am Montag früh vor Ort an. Die Auseinandersetzungen dürften erst noch bevor stehen.

Um die Bilder aus Calais zu kontrollieren, möchte die Staatsmacht ab jetzt nur noch akkreditierte Medien-, aber auch NGO in das bisherige Camp lassen, das dem Abriss zugeführt werden soll. Bei den NGOs und Initiativen geht es dabei vor allem darum, aus ihrer Sicht zu radikale Gruppen – wie die „No borders“ – auszugrenzen und fern zu halten. Institutionell ausgerichtete NGOs, die die Zerschlagung des „Jungle“ begleiteten und von denen elf jüngst sogar einen beschleunigten Abriss „vor der Winterpause im November“ forderten, sind dagegen wohl gelitten.

Um die weniger gut angesehenen Kräfte draußen zu halten, greifen die Behörden dabei auch auf das Notstandsgesetz zurück. Die Zufahrtsstraßen und –wege zwischen „Jungle“ und Hafengelände wurden auf der Grundlage der derzeit in Kraft stehenden Bestimmungen zum Ausnahmezustand zum „besonderen Gefahrengebiet“ erklärt. Dies erlaubt, „widerrechtlich Eindringende“ strafrechtlich zu verfolgen und mit Strafen bis zu sechs Monaten Haft zu bedrohen.

Gegen das Aussieben der vor Ort zugelassenen MedienvertreterInnen protestierten die Journalistengewerkschaften CGT-SNJ, CFDT-Journalisten und SNJ zusammen in einem  Pressekommuniqué vom Samstag. Protestiert haben auch die Sprachlehrerinnen und Übersetzer, welche die Behörden einspannen wollten, um durch Übersetzungsdienste einen reibungslosen Ablauf der geplanten Operation zu gewährleisten. In einer gemeinsamen Erklärung verwandten sich mehrere Gewerkschaften im Bildungssektor (CGT Educ’action, FSU, SNFOLC, Sundep Solidaires und CNT) dagegen und kündigten an, das Personal lasse sich nicht für Dienste als Polizeibüttel instrumentalisieren.

Ein gewisser Trost für die protestorientierten Kräfte in Frankreich – nicht jedoch für die hauptbetroffenen Migranten – liegt unterdessen darin, dass der Abriss des Migrantencamp in Calais dermaßen viele Polizisten mobilisiert, dass die ebenfalls geplante Räumung des späteren Flughafengeländes von Notre-Dame-des-Landes (NDDL) in der Nähe von Nantes vorläufig zurückgestellt werden muss.

Dort protestieren zahlreiche Menschen gegen ein Umwelt zerstörendes und in breiten Kreisen – bis hin zur amtierenden rechtssozialdemokratischen Umweltministerin Ségolène Royal, die das Projekt noch Anfang dieser Woche als „unhaltbar“ bezeichnete – als unsinnig betrachtetes Großprojekt. Erst am zweiten Oktoberwochenende demonstrierten 40.000 Menschen dagegen. In der darauf folgenden Woche hätte die Räumung des als ZAD – zone à défendre, „zu verteidigende Zone“ – bekannt gewordenen Hüttendorfs, das seit etwa drei Jahren ständig bewohnt ist, beginnen sollen. Dafür hätten bis zu 10.000 Polizisten und Gendarmen im Einsatz sein sollen. Ein Rundschreiben von Justizminister Jean-Jacques Urvoas vom September sah parallel dazu die Einrichtung von Sondergerichten vor, die in Eilverfahren über „Straftäter“ in dem Zusammenhang urteilen sollten. Doch zwei Einsätze vom Typ Calais und NDDL kann der französische Staat derzeit nicht gleichzeitig stemmen, während die Polizei über Überlastung klagt und gleichzeitig Objektschutz wegen der potenziellen Attentatsgefahr durchgeführt wird.

Premierminister Manuel Valls, der Rechtsaußen der französischen Sozialdemokratie – und ihr möglicher Präsidentschaftskandidat, falls François Hollande aus seiner akuten wie chronischen politischen Schwächephase nicht herauskommt – braucht aus seiner Sicht derzeit dringend einen Autoritätsbeweis. Er wollte ihn sich in NDDL selbst liefern. Doch darauf wird er noch warten müssen. Vielleicht kommt es an dem Ort auch gar nicht dazu, denn die EU beanstandet einige Untersuchungen zu Umweltfolgen des Flughafenprojekts, die neu aufgerollt werden müssen.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=106320
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