»
Frankreich »
»

Rückzug der sozialdemokratischen Oberflasche François Hollande – Eingeständnis der Totalniederlage seiner sozialen Verkleisterungspolitik

Artikel von Bernard Schmid vom 4.12.2016

Plakat der CGT zu den Protesten gegen die Arbeitsrechts-„Reform“ in Frankreich am 14.6.2016Es kam für die meisten Beobachter/innen überraschend, als der amtierende französische Staatspräsident François Hollande am Donnerstag, den 1. Dezember 16 in den Abendnachrichten verkündete, er werde in nunmehr knapp fünf Monaten nicht für seine Wiederwahl kandidieren. Mehrere Medien hatten in ihren Alert-Aussendungen noch per e-Mail angekündigt, wahrscheinlich werde der 62jährige Präsident um zwanzig Uhr seine Kandidatur bekanntgeben. Tatsächlich hatte der Mann, der von 1997 bis 2008 Parteichef des französischen Parti Socialiste (PS) war und bei einer élection primaire – einer Vorwahl nach dem Muster der US-amerikanischen primaries – im Oktober 2011 zum Präsidentschaftskandidaten gekürt worden war, bis zuletzt gezögert, ob er nicht doch wieder antreten solle.

Seine Entscheidung erscheint jedoch in gewissem Sinne als rational. Denn eine Bewerbung seinerseits bei der Wahl vom 23. April und 07. Mai kommenden Jahres kündigte sich als ein pures Desaster an. Nur noch sieben Prozent Stimmabsichten verzeichnete er (vgl. http://www.lesechos.fr/elections/presidentielle-2017/0211548242074-hollande-credite-de-7-des-voix-avant-de-se-decider-pour-la-presidentielle-2046950.php externer Link) am Vormittag, bevor er seinen Entschluss bekannt gab. Auch in den Reihen des innersten Führungszirkels der französischen Sozialdemokratie hatte er zum Schluss enorm an Unterstützung eingebüßt. Ursächlich dafür war in diesem Falle nicht seine rein kapitalfreundliche Politik, sondern der Autoritätsverlust, den Hollande auch in den Augen vieler Berater und naher Verbündeter selbst verursacht hatte, als er zwei Journalisten der linksliberalen Pariser Abendzeitung Le Monde insgesamt sechzig Mal an seinem Amtssitz empfing und ihnen gegenüber frei aus dem Nähkästchen plauderte. Das Ergebnis erschien am 12. Oktober d.J. in Buchform unter dem Titel Un président ne devrait pas dire ça („Das sollte ein Präsident nicht sagen“). Der Amtsinhaber im Elysée-Palast lässt sich darin u.a. freimütig darüber aus, wie er das Töten von „Terroristen“ etwa durch Drohnenangriffe anordnete, was normalerweise ein Staatsgeheimnis bleibt. Diese Episode trug Hollande nicht nur Strafanzeigen wegen außergesetzlicher Tötungen ein, sondern auch wachsende Zweifel in seiner Umgebung an seiner Amtsfähigkeit.

Die Hauptfrage, die sich aus diesem angekündigten Rückzug Hollandes ergibt – welcher zugleich ein Eingeständnis des totalen Scheiterns seiner vorgeblichen sozialen „Aussöhnungspolitik“ darstellt –, ist die nach der nunmehr einzuschlagenden Strategie seiner Partei. Zwei gewichtige Optionen für die französische Sozialdemokratie liegen dabei auf dem Tisch. Die angeschlagene Partei, die laut Le Monde derzeit nur noch über 80.000 Mitglieder verfügt, während andere Quellen gar von nur 42.300 Mitgliedern ohne Beitragsrückstand sprechen (vgl. http://www.rtl.fr/actu/politique/parti-socialiste-42-300-adherents-seraient-a-jour-de-cotisation-7786053599 externer Link – zum Vergleich: beim Parteitag in Reims im Herbst 2008 wurden ihrer noch 232.500 verzeichnet, vgl. http://www.leparisien.fr/une/congres-mode-d-emploi-26-10-2008-289481.php externer Link und später http://www.huffingtonpost.fr/2014/10/30/les-adherents-en-chute-libre-au-ps-le-parti-socialiste-relativi/ externer Link) wird nun am 22. und 29. Januar 17 über ihre Präsidentschaftskandidatur abstimmen. Bei der „offenen Vorwahl“ wollen auch Vertreter des rechten Flügels der tief gespaltenen französischen Grünen teilnehmen, doch andere Linkskräfte (von der KP und der Linkspartei Jean-Luc Mélenchons einerseits bis zu den Linksliberalen unter Sylvia Pinel auf dem anderen Ufer) haben sich bereits aus dem Prozess verabschiedet und ihre eigenen Präsidentschaftsbewerber/innen nomiert.

Die eine Option besteht darin, die bisher eingeschlagenen Kurs der erklärten Totalkapitulation vor den Imperativen des nationalen und internationalen Kapitals fortzusetzen und noch zu verschärfen. An dieser Orientierung besteht kein Zweifel, spätestens seit dem 06. November 2012 – auf den Tag genau ein halbes Jahr nach der Wahl Hollandes -, als der vormalige Bahnchef Louis Gallois einen Untersuchungsbericht vorlegte, dessen Thema die Forderung nach einem „Schock zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft“ (choc de compétitivité) bildete. Ein ähnlicher Bericht war auch dem rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy 2008 durch den früheren Mitterrand-Berater Jacques Attali vorgestellt worden (vgl. http://archiv.labournet.de/internationales/fr/attali.html), doch Sarkozy hatte ihn danach nur zum Teil umgesetzt und zum anderen Teil in den Schubladen versauern lassen. Nicht so die sozialdemokratische Regierung. Ihr damaliger Chef, Jean-Marc Ayrault, der jetzige Außenminister, machte sich die Schlussfolgerungen Gallois’ explizit zu eigen und übernahm sie weitgehend kritiklos. Und setzte mehrere davon, etwa eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Allgemeinheit zwecks Finanzierung von Abgabenreduktionen für die Unternehmen, auch alsbald um. (Vgl. dazu unseren Artikel vom November 2012: http://archiv.labournet.de/internationales/fr/pack.html) Ebenfalls Ende 2012 wurde die Tatsache, dass das bedrohte Stahlwerk im lothringischen Florange entgegen einem im Wahlkampf abgegeben, ausdrücklichen Versprechen François Hollandes doch dichtgemacht wurde, als wichtige Weichenstellung betrachtet. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1212/t431212.html externer Link) In den folgenden Jahren wurde dieser Kurs ohne Brüche und Linienschwenks fortgesetzt. (Vgl. u.a. http://www.trend.infopartisan.net/trd0314/t460314.html externer Link und http://www.trend.infopartisan.net/trd1014/t491014.html externer Link)

Dafür, dass ein solcher Kurs fortgeführt wird, steht insbesondere Manuel Valls: Hollandes amtierender Premierminister seit April 2014, zuvor Innenminister. Als Rechtsaußen unter den insgesamt sechs Bewerber/inne/n bei der Vorwahl vor fünf Jahren (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1011/t561011.html externer Link) erhielt er seinerzeit nur fünf Prozent der Stimmen. Dennoch erhob ihn Hollande bereits kurz darauf zu seinem damaligen Wahlkampfleiter.

Zu den Hauptforderungen Valls’ in seiner damaligen Vorwahlkampagne zählte eine Namensänderung, die das Adjektiv „sozialistisch“ im Namen des PS streichen und durch eine Vokabel wie „demokratisch“ ersetzen sollte. Sofern Manuel Valls überhaupt als Sozialdemokrat einzustufen ist, dann als einer vom Schlage eines Gustav Noske. Er selbst kürte den Regierungschef zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Georges Clemenceau, zu seinem erklärten historischen Vorbild, während Sozialdemokrat/inn/en in Frankreich sonst in Sonntagsreden auf den Urvater Jean Jaurès schwören – den Valls flugs zum naiven „Idealisten“ erklärte. Clemenceau ließ mindestens zwei mal, 1906 als Innen- und 1909 dann als Premierminister, auf streikende Arbeiter schießen. Solches konnte Manuel Valls zwar in seinen bisherigen Ämtern nicht anordnen, doch sein Umgang mit den Protesten gegen das von ihm maßgeblich entworfene und durchgeprügelte „Arbeitsgesetz“ – es ist seit dem 08.08.2016 in Kraft (vgl. https://www.legifrance.gouv.fr/affichLoiPubliee.do?idDocument=JORFDOLE000032291025&type=general&legislature=14 externer Link) – spricht in jedem Falle Bände. Als fast frischgebackener Premierminister machte Valls unterdessen im Hochsommer 2014 seinen Einstand beim Arbeitgeberverband MEDEF mit dem berühmt gewordenen Satz: J’aime l’entreprise, seiner Liebeserklärung an die so genannten Unternehmer. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr/economie/manuel-valls-j-aime-l-entreprise_1697575.html externer Link und http://www.lejdd.fr/Politique/Valls-au-Medef-J-aime-l-entreprise-682890 externer Link, oder imVideo: http://www.lexpress.fr/actualite/politique/video-manuel-valls-au-medef-j-aime-l-entreprise_1570946.html externer Link )

Anders als 2011 hat Valls dieses Mal bei der Vorwahl realistische Chancen. Denn einerseits versammelt sich nunmehr der rechten Parteiflügel großtenteils hinter ihm – vor fünf Jahren unterstütze er mehrheitlich noch Hollande gegen Valls, dessen proklamierte Absichten taktisch zu weit gingen -, sofern er nicht zum außerhalb aller Parteistrukturen kandidierenden Ex-Wirtschaftsminister Hollandes und Ex-Geschäftsbanker Emmanuel Macron überläuft. (Auch Letzterer, den die französische Yellow Press nun seit Wochen eifrig als den idealen Schwiegersohn des Landes präsentiert, dürfte seine Chancen haben.) Und zum Anderen hat die vormalige Parteibasis mittlerweile in weiten Teile mit den Füßen abgestimmt und dem PS den Rücken gekehrt. Die Beteiligung an der „offenen Vorwahl“ dürfte wohl auf keinen Fall erneut die drei Millionen, die beim letzten Mal verzeichnet wurde, erreichen.

Die gegenläufige Option verkörpert derzeit, mit den stärksten Aussichten auf Erfolg, der vormalige Industrieminister Arnaud Montebourg. Er trat 2014 aufgrund kaum überbrückbarer Differenzen mit Valls zurück. Allerdings hatte sich Montebourg zuvor, im April 2014, noch mit Valls verbündet und geholfen, ihn ins Amt des Premierministers zu hieven. (Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2014/04/03/valls-montebourg-hamon-le-pacte-des-ambitieux_4395225_823448.html externer Link) Beide Herren hatten sich, zusammen mit dem damaligen Bildungsminister Benoît Hamon als dem etwas linkeren, doch uncharismatischen Dritten, gegen den vormaligen Premier Jean-Marc Ayrault verbündet. In ähnlicher Weise hatte Montebourg im Jahr 2006 zwar inhaltlich die Rechtssozialdemokratin und damals gekürte Präsidentschaftsbewerberin Ségolène Royal kritisiert… und diese dann prompt bei ihrer Bewerbung um die Kandidatur zu unterstützen. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1206/t261206.html externer Link) Arnaud Montebourg ist jedenfalls nicht der französische Politiker mit dem am geringsten ausgeprägten Sinn für Opportunismus.

Er steht, zusammen mit mehreren anderen, weniger aussichtsreichen Bewerber/inne/n auf die Präsidentschaftskandidatur wie dem erwähnten Ex-Bildungsminister Benoît Hamon oder der Linkssozialdemokratin Marie-Noëlle Lienemann, für die Forderung nach etwas stärkerer staatlicher Regulierung des kapitalistischen Ökonomiebetriebs. Verbal versucht Montebourg sich, ähnlich wie bereits vor der sozialdemokratischen „Vorwahl“ 2011, zum Vorreiter einer „Ent-Globalisierung“ aufzuschwingen. (Vgl. dazu http://www.challenges.fr/sommet-de-l-economie/arnaud-montebourg-plus-que-jamais-chantre-de-la-demondialisation_440949 externer Link sowie https://www.welt.de/debatte/kommentare/article13645228/Frankreich-und-der-Ruf-nach-Entglobalisierung.html externer Link und eine kritische Würdigung im unteren Drittel unseres damaligen Artikels von 2011: http://www.trend.infopartisan.net/trd0112/420112.html externer Link; vgl. zu Montebourg ferner auch: http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2017/article/2016/12/01/cinq-choses-a-savoir-sur-arnaud-montebourg_5041334_4854003.html externer Link)

Montebourgs Anliegen stärkerer Staatseingriffe – die jedoch letztlich alle dazu dienen sollen, das Markenzeichen Made in France gegenüber konkurrierender Industrieproduktion zu stärken (vgl. http://www.lexpress.fr/actualite/politique/arnaud-montebourg-ex-ministre-et-defenseur-du-made-in-france_1804634.html externer Link), wie er es in seiner Amtszeit als Industrieminister 2012-2014 mit eher geringerem Gesamterfolg versuchte – genügt heute in breiten Kreisen bereits, um als „links“ eingestuft zu werden. Dabei ist Montebourg in Wirklichkeit jedoch ungefähr so „links“, wie der westdeutsche Kanzler Helmut Schmidt es in den 1970er Jahren einmal war. Wie er tritt Montebourg besonders dafür ein, dass die Schornsteine ordentlich rauchen und vor allem die Atomkraftwerke laufen (er zählt zu den nachgerade fanatischen Befürwortern ihres Weiterbetriebs und gar des AKW-Neubaus), was jedoch schon mit der Erwartung verbunden wird, dass dafür am Monatsende für die tüchtig rackernden Beschäftigten in materieller Hinsicht auch etwas abfällt.

Als Gastredner zum französischen KP-Pressefest Fête de l’Humanité eingeladen, hatte Montebourg sich dort am 11. September dieses Jahres bemüht, auch die Französische Kommunistische Partei als künftige Bündnispartnerin zu umgarnen. Während er sich dortselbst (der Verf. dieser Zeilen war zugegen) für die Erhaltung von bedrohten Arbeitsplätzen etwa beim Industrieunternehmen Alstom aussprach, führte er jedoch fortlaufend nur den Begriff vom „nationalen Interesse“ im Munde – ein Wort wie „Klasse“ kam ihm nicht über die Lippen. Der Empfang beim Publikum der Fête de l’Huma fiel deswegen auch eher lauwarm aus. Dennoch zog ein Teil der Parteiführung es einige Wochen lang in Erwähnung, eine sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatur im Falle der Nominierung Montebourgs zu unterstützen. Dies wurde inzwischen zugunsten einer Unterstützung des Linkssozialisten Jean-Muc Mélenchon aufgegeben.

Valls rechnet sich derzeit bessere Chancen auf die Nominierung aus, und in den bürgerlichen Medien sind „aller Augen auf ihn gerichtet“ (vgl. für diese Formulierung: http://www.lesechos.fr/elections/primaire-a-gauche/0211556573527-au-lendemain-du-renoncement-de-hollande-tous-les-regards-braques-sur-valls-2047572.php externer Link). Von ihm kam am Donnerstag Abend, 01.12.16 auch die erste Reaktion auf die Ansprache Hollandes: Er begrüßte lautstark eine „staatsmännische Entscheidung“ seines Vorgesetzten – mit dem er sich noch am Wochenende des 26./27. November 16 heftig stritt, weil Valls den Präsidenten mittlerweile für amtsuntauglich hielt und jener noch nicht von seinen urprünglichen Kandidaturabsichten lassen mochte.

Auch Montebourg hieß Hollandes „hellsichtigen“ Entschluss zum Rückzug kurz darauf willkommen. Allerdings macht die Zersplitterung des politischen Felds in Gestalt von vierzehn erklärten Kandidaturen, darunter rund zehn aus dem sozialdemokratischen und drei aus dem rechtsgrünen Spektrum, weitaus eher Montebourg als Valls zu schaffen. Die Mehrheit der Bewerber/innen positioniert sich mehr oder weniger deutlich links von der bisherigen Regierungslinie.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=108121
nach oben