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Kapitaloffensive auf sozialdemokratisch und erste Manifestationen von Widerständen

Artikel von Bernard Schmid, 17.04.2014

Einpeitscher Manuel Valls macht Ernst mit der ,Spar‘politik (erste Runde). Selbst viele sozialdemokratische Abgeordneten wollen nicht mehr mitspielen und drohen an, den Gehorsam zu verweigern. Um nicht an allen Fronten gleichzeitig mit Widerständen korrigiert zu werden, lässt Valls‘ Kulturministerin Aurélie Fileppetti unterdessen Ballast ab, was die gegen die Kulturprekären gerichtete „Reform“ betrifft. Geopfert werden dabei besonders die Leiharbeiter/innen, die noch stärker durch diese „Reform“ geopfert werden. 

„Ich habe mir ein echtes Kinderherz bewahrt. Doch, wirklich! In einem Behältnis auf meinem Schreibtisch, in Spiritus eingelegt.“Dies legt das anonym gehaltene Plakat dem vormaligen Innen- und jetzigen Premierminister Manuel Valls in den Mund. Ein anderes, ebenfalls anonymes Plakat lässt Staatspräsident François Hollande und Arbeitgeberchef Pierre Gattaz ausrufen: „Was soll nur aus und werden, ab Samstag 14 Uhr…?“ Es folgen genaue Ortsangaben zur Demonstration, die um diese Uhrzeit in Paris losgehen sollte (und auch tatsächlich losging).

Solche ungewöhnliche Demoaufrufe wurden Ende vergangener Woche in manchen nördlichen Stadtteilen von Paris verklebt. Ihre innovative Form hängt mutmaßlich  damit zusammen, dass durch den aktuellen Kampf der intermittents du spectacleoder prekär Beschäftigten im Kulturbetrieb (vgl. https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2014/03/kulturprekaer2014.pdf  ) – bei dem es für viele von ihnen um ihre soziale Existenz geht – auch eine künstlerische, kreative Komponente in den allgemeinen Sozialprotest gebracht hat. Der Protestzug, um den es dabei ging, war jener vom vergangenen Samstag, den 12. April in der französischen Hauptstadt.

Protest endlich auch von links?

Er sollte erstmals eine größere Anzahl von Menschen zum Protest von links gegen den aktuellen Regierungskurs zusammenkommen lassen. Zuvor hatten Rechtsextreme und militante Faschisten anderthalb Jahre lang Frankreichs Straßen quasi dauerbesetzt. Zuerst mit ihrem Massenprotest gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare,  und dann auch mit dem von Antisemiten und reaktionären Mittelständlern dominierten „Tag des Zorns“ am 26. Januar 14.

Ein Versuch zur Neuauflage dieser rechten Protestform mit regionalen Demonstrationen am ersten Samstag und Sonntag dieses Monats, 05. und 06. April, scheiterte allerdings kläglich: Dieses Mal kamen zum „Tag des Zorns“ nur weniger als zwanzig Menschen in Paris – wo der Auflauf verboten war -,  und rund 100 in Toulouse oder ebenso viele in Montpellier, wo er erlaubt war. Der erste Anlauf vom 26. Januar d.J. war so extrem ausgefallen, dass die Allianz aus eher wirtschaftlich motiviertem „Mittelstands“- und Anti-Steuer-Protest, primär politisch motivierten Neofaschisten sowie sich auf diffuse Weise „rebellisch“ wähnenden Anhängern der Antisemiten Dieudonné und Alain Soral sich im Nachhinein entmischt hatte. Zudem fand im konservativen Lager, wo in ersten Reaktionen noch für „Verständnis“ für die rechten Demonstranten plädiert worden war, kurz darauf ein massiver Distanzierungsdruck statt. Der Front National als stärkste rechtsextreme Wahlpartei hatte sich von vornherein vom „Tag des Zorns“ ferngehalten – ein wohlfeiles Mittel, um sich selbst als „moderat“ zu präsentieren. An Mobilisierung von rechts weiter existiert hat allerdings der Schulboykott-Aufruf gegen einen angeblichen Unterricht in „Gendertheorie“ (vgl. https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2014/03/schulboykott_bs.pdf ), mit einem neuen Boykotttag am 31. März 14. Dieses Mal schloss sich das berüchtigte rechtskatholisch-fundamentalistische ,Institut Civitas‘ der Boykottinitiative an, die zudem mit einer auf böswillig verbreiteten Gerüchten unterfütterten persönlichen Hetzkampagne gegen eine Lehrerin im Raum Chartres einherging.

Die Straße hätte also nunmehr weitgehend für den progressiven Protest frei sein können. Die Initiative zu einem „Wochenende der Revolte von links“ hatten Anfang Februar dieses Jahres die beiden linken Politiker Olivier Besancenot, einer der Sprecher der „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (NPA), und Jean-Luc Mélenchon – Co-Vorsitzender der 2008/09 aus einer Abspaltung von der Sozialdemokratie enstandenen „Linkspartei“ (PG) – ergriffen. Aufgeschreckt durch die Vereinnahmung der Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung durch rechte und rechtsextreme Kräfte.

Aber begünstigt wurde ihre gemeinsame Initiative auch dadurch, dass die Partei Mélenchons damals mit ihrem festen Partner, der Französischen kommunistischen Partei (PCF), zerstritten war. Beide Formationen sind seit 2009, neben einigen kleineren Verbänden, in der „Linksfront“ (FdG) zusammengeschlossen. Doch vor den Rathauswahlen von Ende März dieses Jahres schlug das Linksbündnis mächtig mit den Flügeln: Die KP verzichtete in rund einem Drittel der Kommunen, wo sie zu den Kommunalwahlen antrat, auf die Aufstellung eigener Listen. Stattdessen trat sie von vornherein auf gemeinsamen Listen mit der Sozialdemokratie, bereits im ersten Wahlgang, an. Darunter in symbolisch wichtigen Städten wie in Paris. Die KP, die glaubte, sie habe bei den Rathauswahlen sehr viel mehr zu verlieren als andere linke Kräfte – mehrere hundert Kommunalregierungen -, wollte diese Positionen nicht durch Wahlkonkurrenz mit den sozialdemokratischen und grünen Regierungsparteien gefährden. Dies erzürnte ihre Verbündeten, da Mélenchon sich gerade durch verbalradikale Abgrenzung von der Sozialdemokratie zu profilieren versucht. Dessen Linkspartei schielte deswegen nun mehr auch auf Verbündete in der außerparlamentarischen radikalen Linken, darunter den NPA.

CGT gespalten

Inzwischen hat das Linksbündnis aus Mélenchons Partei und der KP seine  Spaltungen überwunden und bereitet gemeinsame Listen zur Europaparlamentswahl vor – einige Details waren zu Anfang der Woche noch ungeklärt -, und die KP schloss sich ihrerseits der Initiative zur Demonstration an. Auch Teile der Gewerkschaften kamen dazu, auch wenn die CGT als stärkster Gewerkschaftsdachverband diesbezüglich gespalten war. Ihr Apparat ist dermaßen darauf bedacht, seine „Unabhängigkeit von der KP“ unter Beweis zu stellen – bis 1996 waren die CGT und die Partei quasi organisch miteinander verbunden, durch gegenseitige Vertretung im Vorstand, bevor die Nabelschnur gekappt wurde -, dass die Spitze des Verbands jeglichen offiziellen Aufruf zur Demo ablehnte. Dabei mischen sich bei manchen Vorständlern sicherlich Bemühen um Unabhängigkeit von der KP, um „Seriosität“ und manchmal auch eine gewisse Annäherung an die Sozialdemokratie.

Aber viele ihrer Mitgliedsgewerkschaften drängten energisch auf Teilnahme, und waren auch auf der Demo sichtbar vertreten. Auch die oft linkeren Basisgewerkschaften SUD/Solidaires und die FSU (Zusammenschluss von Gewerkschaften im Bildungssektor) mobilisierten. Letztlich fiel die gewerkschaftliche Präsenz, vor allem jene von CGT und Solidaires, optisch durchaus zufriedenstellend aus.

Auf quantitativer Ebene: mäßiger Erfolg

Die Mobilisierung wurde jedoch alles in allem nur ein mäßiger Erfolg, jedenfalls wenn man die quantitative Ebene betrachtet. Im Nachhinein sprachen Polizei und Innenministerium von 25.000, die Veranstalter/innen von 100.000 Teilnehmerinnen. Üblicherweise liegt bei solchen Zahlendifferenzen die Wahrheit ziemlich genau in der Mitte. Nach Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen entsprechen allerdings bei diesem Mal eindeutig eher die behördlichen Angaben der Realität. Über 25.000 ging die Teilnehmerzahl auf keinen Fall hinaus, auch wenn viele Demonstrant/inn/en neben dem Pariser Raum auch aus der Region von Orléans, aus der Normandie oder Burgund angereist waren.

(Am festen Standort, auf dem sich der Autor dieser Zeilen aufhielt, dauerte das Vorbeiziehen des Protestzugs eine Stunde und zwanzig Minuten. Dabei ließ die Straßenbreite zu, dass fünfzehn Personen neben einander gehen konnten, aber i.d.R. gingen durchschnittlich 10 bis 11 Personen nebeneinander. Das Ergebnis kann sich im Prinzip sehen lassen, aber dass im fraglichen Zeitraum einhunderttausend Personen hätten durchgehen können, soll – wer will – seiner Großmutter erzählen.)

Protest der Kulturprekären

Den kreativsten Beitrag leisteten eindeutig die intermittents, die mitten in der Demo auf fahrenden Wagen Zirkusaufführungen darboten und oft auch mit die radikalsten Parolen hatten. Im Anschluss an die Demonstration versuchten sie am Samstag Spätnachmittag noch ein öffentliches Gebäude im 12. Pariser Bezirk zu besetzen, das aber innerhalb von zwei Stunden am frühen Abend geräumt war. Dabei kam es zu polizeilichen Brutalitäten, allerdings wurden keine Festnahme vorgenommen, sondern lediglich Personalienaufnahmen.

Valls, das (Spar)schwein

Anlass für progressiven, sozialen und/oder gewerkschaftlichen Protest gibt es unterdessen mehr als genug. Premier Manuel Valls kündigte etwa in seiner Regierungserklärung vom vorletzten Dienstag, den 08. April an, etwa Sozialbeiträge der Unternehmen für die unteren Lohngruppen bis 2017 vollständig abschaffen – die CGT sieht deswegen „Millionen von Arbeitslosen dauerhaft am Mindestlohnniveau festhängen“, damit die Arbeitgeber in den Genuss der maximalen Vergünstigung kommen, weil diese mit fortschreitender Lohnhöhe abnehmen.

Als Zuckerstückchen für die Lohnabhängigen soll es, ebenfalls auf Mindestlohnniveau, eine Verringerung auch der Sozialabgaben der abhängig Beschäftigten kommen. Dies wird allerdings die Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme weiter erschweren und zum Teil deren – vielleicht beabsichtigten – Kollaps beschleunigen. Auf Mindestlohnniveau soll die Abschaffung von ,Arbeitnehmer‘- und ,Arbeitgeber‘-Sozialbeiträgen angeblich den Nettolohn um 40 Euro monatlich erhöhen, wobei nichts auf der Welt allerdings die Unternehmen dazu zwingen kann, ihre Einsparungen auch wirklich auf die Löhne umzulegen.

Ferner will Valls die französische Verwaltungsstruktur radikal vereinfachen, was ebenfalls Sparpotenziale erschließen soll. So sollen bis 2021 die gewählten Bezirksparlamente (conseils généraux) abgeschafft werden. Die Départements würden dann also ihre demokratische Vertretung verlieren, während die Präfekten – die unter Napoléon I., unter Anlehnung an die Struktur des Römischen Imperiums, eingeführten Repräsentanten des Zentralstaats auf der Ebene der Départements – bestehen bleiben werden. Die Regionen, die ungefähr mit den deutschen Bundesländern vergleichbar sind, aber bislang wesentlich weniger eigene Macht besitzen, sollen hingegen aufgewertet werden. Allerdings soll ihre Zahl, derzeit 22, auf eine knappe Hälfte reduziert werden (und einige von ihnen legten bereits Fusions-Angebot vor, bspw. wollen die Bourgougne/Region Burgund und die Region Franche-Comté – rund um den französischen Jura – in Ostfrankreich sich künftig zusammenschließen).

Dies öffnet einem gewissen Zentralismus auf Ebene der künftigen Großregionen Tür und Tor. Bislang waren die in den 1970er und 1980er Jahren geschaffenen Regionen im französischen Staatsaufbau vor allem für „Wirtschaftsförderung“ zuständig. Die Départements, die unter der Französischen Revolution erstmals gebildet wurden und etwa für den Bau und z.T. den Unterhalt von Schulen und Krankenhäusern zuständig sind, stehen bislang für einen gleichzeitig zentralistischen, aber auch einen gewissen sozialen Egalitarismus garantierenden Staatsaufbau. Dieser fällt nun weg, während die von oben her funktionierende Präfektoralstruktur (die Präfekten befehligen u.a. die Polizei in den Départements) bestehen bleiben wird. Man könnte den bestehenden, in einigen Grundzügen von der Französischen Revolution ererbten Staatsaufbau sicherlich zugunsten direkter und dezentraler Demokratie in Frage stellen. Was allerdings real passieren soll, steht allein im Zeichen von Sparimperativen und dem Willen nach Einführung neuer regionaler Zentralismen, in möglichst engem Verbund mit Wirtschaftsinteressen.

Valls: im Augenblick erstaunlich populär

Die öffentliche Wahrnehmung dieser Politik, die auf der festen Überzeugung der totalen Alternativlosigkeit von Sparpolitik, „solidem Haushalten“ und deutschlandfreundlicher Orientierung in der EU beruht, ist von einem Paradoxon geprägt. Einerseits sind die realen Auswirkungen solcher Strategien unpopulär. Andererseits genießt Valls, jedenfalls derzeit, kurz nach seinem Antritt als Regierungschef, einen erheblichen Beliebtheitsvorschuss. Es mag sein, dass es sich um einen Anfängerbonus handelt. Dennoch ist bemerkenswert, dass es sich um den populärsten Premierminister der letzten zwanzig Jahre überhaupt handelt – während sein Vorgesetzter, Präsident François Hollande, das unbeliebteste Staatsoberhaupt in der Fünften Republik überhaupt ist. Ende vergangener Woche genoss Valls eine Beliebtheitswert von 58 Prozent, Hollande hingegen von 18 Prozent. Der neue Premierminister wird von bis zu 90 Prozent der Wähler der Sozialdemokratie, aber auch (je nach Umfrage) von einem Drittel bis zur Hälfte jener der konservativ-wirtschaftsliberalen und oppositionellen UMP als „glaubwürdig“ eingestuft.

Vor dem Anfang vergangener Woche erfolgten Teilaustausch der Regierung – bei dem allerdings lediglich zwei Minister und der Premier – ausgewechselt wurden, war das Resultat noch frappierender. Sowohl Präsident Hollande als auch der damalige Premierminister Jean-Marc Ayrault klebten, mit 17 respektive 16 Prozent, an Rekordwerten der Unbeliebtheit fest. Dass Valls dieser Wahrnehmung der auf Regierungsebene verfolgten Politik scheinbar völlig entfliehen kann, hängt mit dem durch die führenden Medien induzierten „Macher“image zusammen. Unter Verweis auf Sprüche gegen Roma, Valls’ Beliebtheit unter Polizisten – etwa weil er als Innenminister die Einführung individueller Kennziffern für Polizeibeamte ablehnte, und die Justizreform der zuständigen Ministerin Christiane Taubira als „Verweichlung“ geißelte – und seine Selbstdarstellung als starker Mann wurde er zum „starken Typen“ stilisiert. Dies kommt ihm in einer öffentlicher Meinung zugute, die zugleich unzufrieden und resigniert erscheint, die über die konkreten Politikinhalte oder jedenfalls ihre sozialen Auswirkungen empört ist und gleichzeitig heute nicht an die Chancen der Durchsetzung solidarischen Protests glaubt.

Wie lange dies anhält, ist fraglich. Denn Valls kündigte zwar – unter Beifall der öffentlichen Meinung – an, dass er jährlich fünfzig Milliarden Euro einsparen will. Aber bislang nicht, wo er sie holen möchte, welche Bereiche also betroffen sein werden. Erfolgen dazu konkrete Ankündigungen auf den Tisch, könnte de Wind schnell umschlagen. Es fragt sich nur, in welche Richtung.

Sparpolitik durchdekliniert

In einer Grundsatzrede am gestrigen Mittwoch, den 16. April d.J. deklinierte Premierminister Valls einige der Konkretisierungen dieser angeblichen „Sparzwänge“ nun durch. Demnach soll der französische Zentralstaat insgesamt 18 Milliarden einsparen, die übrigen 32 Milliarden sollen von den Gebietskörperschaften (Bezirke, Kommunen…) sowie im staatlichen Gesundheitswesen hereinkommen.

Alle öffentlichen Dienste sollen erklärtermaßen einen Personal, „mit Ausnahme des Pôle emploi (Anm.: Entsprechung zur deutschen Arbeitsagentur – welch ein Symbol…) und des Schulwesens“. Alle anderen öffentlichen Dienste, unter ihnen das öffentliche Krankenhauswesen, solle bluten.

Die Arbeitsvermittlungsmaschinerie wird ausgenommen, weil weiterhin mit hohen Arbeitslosenzahlen gerechnet wird und weil sie „Arbeits(un)willige“ in iiiiiirgendwelche Jobs „vermitteln“ oder hineinzwingen soll… sofern vorhanden. Und das Schulwesen soll möglichst verschont bleiben, erstens weil die Wiedereinstellung von 60.000 Lehrkräften und anderen Beschäftigten im Bildungssektor – nachdem die zuvor amtierende Rechtsregierung in den Jahren 2007 bis 12 in dem Bereich über 80.000 Stellen abbaute – ein besonders symbolträchtiges Wahlversprechen François Hollandes war. Zum Anderen, weil die aktuellen Regierungs- wie viele andere bürgerliche Politiker davon ausgehen, dass künftige Lohnabhängige gefälligst ihre ,employabilité‘ (Einstellbarkeit) zu steigern haben, u.a. indem sie ihr Ausbildungsniveau anheben. (Nichtsdestotrotz, und trotz der Knüpfung an den Terror des Verwertungsimperativs, lässt sich grundsätzlich natürlich nichts gegen eine Verbesserung oder jedenfalls Nicht-Verschlechterung des Schulwesens einwenden. Bildungsinhalte im Kopf lassen sich ja, einmal erhalten, nicht NUR im Sinne des Kapitals einsetzen.)

Renten/Pensionen, Kindergeld und Familienunterstützung, Wohngeld sollen vorläufig bis im Oktober 2015 eingefroren bleiben, also nicht einmal auf Höhe des Inflationsausgleichs angehoben werden (so dass sie im Zuge der Preissteigerung leicht an Kaufkraft verlieren werden). Danach sollen sie im Rhythmus der Inflation, aber nicht darüber hinaus, angepasst werden. – Ferner sollen zehn Milliarden Euro aus dem Krankenkassensystem herausgepresst werden. Zum Teil durch im Grundsatz akzeptable Kosteneinsparungen (etwa durch billigere/kostengünstigere ,generische Medikamente‘ oder No-Name-Arzneimittel, also auf Kosten der Ultraprofite von Pharmakonzerne), aber im Wesentlichen durch Rationalisierungsmaßnahmen wie das Zusammenlegen von Einrichtungen des Gesundheitssystems.

Aufmucken bis hinein ins Regierungslager: nur symbolisch, oder reale Risse?

Daraufhin begannen selbst viele Abgeordnete der französischen Sozialdemokratie hörbar aufzumucken. In der linksliberalen Tageszeitung Libération vom heutigen Donnerstag, den 17. April erklärt etwa ihr Parlamentarier Christian Paul: „Für eine solche Politik sind wir nicht 2012 gewählt worden!“ Und im morgendlichen Rundfunkprogramm bei Radio France Inter spekulierten manche Kommentatoren bereits, falls Manuel Valls nicht ausreichende Gefolgschaft finde, könnte auch eventuell eine Parlamentsauflösung anvisiert werden, welche vorgezogene Neuwahlen zur Folge hätte. (Regulär finden Parlamentswahlen sonst erst wieder im Juni 2017 statt.) Manche Beobachter/innen glauben tatsächlich, François Hollande könnte im Sinne eines zynischen Kalküls an einer solchen Idee Gefallen finden – dann würde die bürgerliche Rechte die angeblich alternativlose „Sparpolitik“ durchexerzieren und die unausweichliche Unpopularität auf sich ziehen.

Die Idee dahinter wäre, dass dann zumindest Hollande bei der nächsten Präsidentschaftswahl seinen Kopf aus der Schlinge ziehen könnte: Er würde diesem Kalkül zufolge eine Neuwahl schaffen, wenn die bürgerlich-konservative Rechte (statt der Sozialdemokratie) bis dahin drei Jahre lang durch den Schlamm gewatet ist. Zur Zeit steht fest: Falls am kommenden Sonntag Präsidentschaftswahlen stattfänden, dann wäre François Hollande bzw. die Sozialdemokratie generell nicht mehr im zweiten Wahlgang vertreten. In die Stichwahl würden laut einer vorgestern publizierten Umfrage Nicolas Sarkozy für die bürgerliche Rechte (10 Prozentpunkte vor Hollande in der ersten Runde) und Marine Le Pen für die Neofaschisten (mit 6 % vor Hollande im ersten Durchgang) einziehen. Allerdings kann dies nicht im Interesse von Marine Le Pen sein: Die extreme Rechte würde viel lieber die Stichwahl gegen die Sozialdemokratie austragen, weil sich dann das konservative Wählerpotenzial zwischen der Sozialdemokratie und dem Front National aufspalten müsste.

Aber vielleicht bleibt es auch bei nur symbolischem und verbalem Aufmucken im Lager der sozialdemokratischen Regierungsfraktion (die Grünen bzw. ihre linksliberale Bündnisformation EE-LV, Europe Ecologie-Les Verts, verließen Anfang April d.J. das Kabinett). Protest gegen die Ankündigungen des Regierungschefs kommt unterdessen auch von einem Teil der Gewerkschaften. CGT-Chef Thierry Lepaon attackierte ihn am gestrigen Mittwoch, den 16.04.14 beim Fernsehsender BFM TV: „Wir haben Anfang der Woche mit Manuel Valls diskutiert und ihm Vorschläge unterbreitet. Nichts davon finden wir in seinen Ankündigungen wieder. In seiner brutalen Politik hört er nicht einmal auf Vorschläge, die ihm gemacht werden!“

Frontbegradigungen

Um nicht an allen Fronten gleichzeitig mit Widerständen konfrontiert zu werden, lässt Valls‘ Kulturministerin Aurélie Fileppetti unterdessen Ballast ab, was die gegen die Kulturprekären gerichtete „Reform“ betrifft. Die jüngst, in der Nacht vom 21. zum 22. März 14, durch das Arbeitgeberlager und drei Gewerkschaften (CFDT / rechtssozialdemokratisch geführter und so genannt „moderater“ Dachverband, FO /oft verbalradikal auftretender antikommunistischer Gewerkschaftsverband, CFTC / rechtslastige Christenheinis) vereinbarte „Reform“ der Arbeitslosenversicherung für das laufende Jahr 2014 sieht mehrere Verschlechterungen für die intermittents du spectacle vor. Darunter das Anwachsen ihrer Sozialbeiträge um rund zweieinhalb Prozent. Aber auch die zeitliche Hinausschieben der Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung, welche diese diskontinuierlich Beschäftigten – nach einer Auftrittsphase – beantragen können, um mehrere Wochen. Dem Abkommen in seiner bestehenden Form, das u.a. durch die Gewerkschaften CGT und SUD/Solidaires sowie durch die „Koordination der intermittents und Prekären“ abgelehnt und bekämpft wird, zufolge dürfen die Kulturprekären in diesen Zeiträumen ihre Ersparnisse aufbrauchen. Sofern vorhanden. Das Abkommen benötigt allerdings, wie alljährlich, eine Zustimmung der Regierung zum Inkrafttreten.

Kulturministerin Aurélie Filippetti erklärte nun am gestrigen Mittwoch, den 16. April, die Regel über die zeitliche Verzögerung der Ansprüche sei „skandalös“. Und ihr Ministerium (das allerdings keine Entscheidungsvollmacht hat, Letztere liegt beim Arbeitsministerium unter nunmehriger Führung von François Rebsamen) wolle, dass zumindest diese Regel „korrigiert“ werde; vgl.  http://www.lemonde.fr/culture/article/2014/04/16/aurelie-filippetti-intervient-en-faveur-des-intermittents_4402546_3246.html externer Link

Darauf reagierte die rechtssozialdemokratisch geführte „Gewerkschaft“ CFDT – der definitiv überhaupt nichts zu blöde ist -, indem sie die Ministerin von rechts her angriff. Die CFDT behauptete und beklagte, die amtierende sozialdemokratische Kulturministerin stünde „unter Einfluss der Koordination der intermittents und der Prekären“, also des (eher linken) Protestkollektivs, das sich beim letzten Kulturstreik 2003 gegründet hatte und seitdem weiter funktioniert hat. Die Zeit, als die CFDT sich noch „Gewerkschaft“ schimpfen durfte, scheint allmählich abzulaufen…

Geopfert werden dabei – in jedem Falle – besonders die Leiharbeiter/innen, die noch stärker durch diese „Reform“ geopfert werden. Von ihnen war bei den Ankündigungen von Kulturministerin Fileppetti nicht die Rede (welche fachlich nicht für deren Belange zuständig ist, aber sich sicherlich nicht ohne Rückendeckung durch die übrige Regierung zu Wort meldete). Den Leiharbeiter/inne/n drohen Einbußen in Höhe v. monatlich 200 bis 400 Euro bei ihren Ansprüchen auf Arbeitslosenunterstützung in beschäftigungslosen Perioden.

Mindestlohn: (Vorläufig?) kein Zugeständnis an „Sklaventreiber“ Gattaz

Auf wohlfeile Weise „sozial“ profilieren konnte sich Valls unterdessen, indem er proklamierte, es komme nicht in Frage, den gesetzlichen Mindestlohn SMIC anzutasten. Arbeitgeberpräsident Pierre Gattaz (Chef des Kapitalverbands MEDEF) hatte zu Anfang der Woche hinausposaunt, für junge Lohnabhängige könnte man den SMIC ja „vorläufig“ absenken, etwa im ersten Einstellungsjahr. An solchen Plänen, für die junge Generation am Mindestlohn herumzuschrauben, hat sich allerdings schon manche Regierung vor ihm die Zähne ausgebissen. Etwa Premierminister Edouard Balladur, dessen Plan für einen auf 80 Prozent abgesenkten „Jugend-Mindestlohn“ (CIP) im Frühjahr 1994 – nach einer Scherbendemonstration durch den 6. Pariser Bezirk im März – überstürzt zurückgezogen wurde.

Arbeitgeberpräsident Gattaz ist allerdings nicht der Erste in der allerjüngsten Periode, der auf solche Ideen kommt. In diesem Monat hörte man bereits davon. Der französische „Sozialdemokrat“ Pascal Lamy (noch immer Parteifreund von Valls und Co.!), ehemaliger Mann an der Spitze der Welthandelsorganisation/WTO, hatte sich zu Anfang April mit einer verwandten Idee zu Wort gemeldet, vgl.  http://www.lemonde.fr/politique/article/2014/04/02/pascal-lamy-evoque-des-boulots-pas-forcement-payes-au-smic_4394559_823448.html externer Link

Scheinbare Unterstützung für die Lohnabhängigen, in Gestalt von Querfeuer gegen Gattaz, kam ausgerechnet von dessen Vorgängerin im Amt als Arbeitgeberpräsident/in: Laurence Parisot. Die Dame kritisierte Mitte dieser Woche lautstark die „Sklaventreiber / Sklavenhalter-Mentalität“ ihres Nachfolgers. Vgl. dazu u.a. http://www.lemonde.fr/politique/article/2014/04/15/smic-parisot-denonce-la-logique-esclavagiste-de-gattaz_4402060_823448.html externer Link – Sicherlich hat Madame Parisot besonders auch deswegen einen dicken Hals gegen Pierre Gattaz, weil ihr eigener Wunsch, eine dritte Amtszeit absolvieren zu können, im Vorfeld von dessen Wahl abgeschmettert worden war. Dafür hätten die Statuten des MEDEF geändert werden müssen. Einflussreiche Mitgliedsverbände der Arbeitgeberzentrale lehnten dies jedoch damals ab, und Gattaz wurde daraufhin im Juni/Juni 2013 zum neuen Chef gewählt.

Auf Regierungsebene ist bislang noch keine Weiche zugunsten einer Infragestellung des gesetzlichen Mindestlohns (lt. Arbeitgeber-Darstellung angeblich ein „Einstellungshindernis“) gestellt. Auch wenn CGT-Chef Thierry Lepaon am gestrigen Tag im oben zitierten Interview auch behauptete, dazu fänden „aktuell Gespräche in gewissen Zimmern im Elysée-Palast“ statt
Valls jedenfalls wählte das Thema als einfachen Beleg dafür, dass er doch irgendwo noch um „sozialen Ausgleich“ bemüht sei – und bisweilen dem Furor der Arbeit,geber‘ Einhalt zu gebieten wisse. Aber allenfalls nur bisweilen…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=57212
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