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Der erfolgreiche Streiktag bei der Eisenbahn in Frankreich – und die politische Situation im Land

Frankreich: Streikbewegung der Bahn im April 2018Hintergrund dafür ist, dass der Streiktag unter dem Titel „Tag ohne Eisenbahner“an diesem Montag, den 14. Mai 18 unter dem Strich einen guten Erfolg darstellte; sich nun jedoch die Frage nach dem „Danach“ umso stärker stellt. Auch wenn die Direktion der französischen Bahngesellschaft eifrig bemüht ist, das Gegenteil zu behaupten, war doch auch laut ihren Angaben eine Streikbeteiligung von 74,4 % bei den Lokführer/inne/n und 74,3 % bei den Schaffner/inne/n zu verzeichnen. Die Idee hinter dem Aufruf zu einem „Tag ganz ohne Eisenbahner(innen)“ an diesem Montag war es, die Streikenergien an diesem Tag zu bündeln, indem die – ansonsten ungleich befolgte – Arbeitsniederlegung an diesem Tag auch auf die Teilstreikenden und die Zögerlichen ausgedehnt wird“ – aus dem Beitrag „Frankreich: Bahnstreik und andere Sozialproteste“ von Bernard Schmid am 16. Mai 2018 (wir danken)

Frankreich: Bahnstreik und andere Sozialproteste

„Tag ohne Eisenbahner“ am Montag war ein Erfolg / Beginn der Urabstimmung unter den Bahnbeschäftigten – inspiriert durch jene unter den Air France-Beschäftigten, welche der dortigen Direktion in schlechter Erinnerung bleibt // An einigenHochschulen konnten Proteste die Durchführung von Abschlussprüfungen verhindern; doch insgesamt bleibt die universitäre Protestbewegung minoritär / Vorläufige Bilanz einer Periode, die die soziale Protestbewegung zwischen die Klippen von hooligan-anarchistischer Kleingruppengewalt (1. Mai) einerseits und der linkssozialdemokratischen Vereinnahmung (05.05.) andererseits führte / Nächstes wichtiges Datum wird die Mobilisierung am 26. Mai d.J./ Eine der entscheidenden Fragen wird die eventuelle – derzeit noch nicht offiziell beschlossene – Teilnahme, oder Nichtteilnahme, der CGT daran bilden / Aktueller Stand: 78 (gegen zwölf) Mitgliedsverbände der CGT unterstützen eine Beteiligung

„Was tun?“, sprach Lenin. „Was nun?“ fragt die libertär-kommunistische, antiautoritäre französische Vereinigung Alternative Liberataire – welche insbesondere in der linksalternativen Schienengewerkschaft SUD Rail stark verankert ist – zu Anfang dieser Woche. (Vgl.: http://leraildechaine.org/post/173902222340/et-maintenant externer Link) Hintergrund dafür ist, dass der Streiktag unter dem Titel „Tag ohne Eisenbahner“an diesem Montag, den 14. Mai 18 unter dem Strich einen guten Erfolg darstellte; sich nun jedoch die Frage nach dem „Danach“ umso stärker stellt. (Vgl. etwa https://www.lutte-ouvriere.org/editoriaux/journee-sans-cheminots-un-succes-pour-tous-les-travailleurs-qui-veulent-relever-la-tete-107740.html externer Link) Auch wenn die Direktion der französischen Bahngesellschaft eifrig bemüht ist, das Gegenteil zu behaupten (vgl. http://www.europe1.fr/economie/sncf-la-journee-de-mobilisation-de-lundi-loin-detre-un-succes-selon-pepy-3652973 externer Link), war doch auch laut ihren Angaben eine Streikbeteiligung von 74,4 % bei den Lokführer/inne/n und 74,3 % bei den Schaffner/inne/n zu verzeichnen. Die Idee hinter dem Aufruf zu einem „Tag ganz ohne Eisenbahner(innen)“ an diesem Montag war es, die Streikenergien an diesem Tag zu bündeln, indem die – ansonsten ungleich befolgte – Arbeitsniederlegung an diesem Tag auch auf die Teilstreikenden und die Zögerlichen ausgedehnt wird.

Es stimmt, dass diese hohe Beteiligung nicht für alle Berufsgruppen zutrifft – manche Beschäftigtengruppen bei der Eisenbahn ruhen sich derzeit ein bisschen auf den, für das Verkehren von Zügen entscheidenden, Kategorien wie Lokführer/inne/n, Schaffner/inne/n bzw. „Bordpersonal“ und Mechaniker/inne/n aus. Es stimmt auch, dass durchaus eine gewisse Anzahl von Zügen verkehrten, wie der Verf. dieser Zielen (aus beruflichen Gründen am Montag zur Nutzung des Nahverkehrs gezwungen) bestätigen kann, denn bei den RER (ungefähr: S-Bahnen) im Raum Paris verkehrten je nach Linie zwischen einem Viertel und einem Drittel. Dennoch war laut einem Teilnehmer, der auch den mittlerweile „historischen“ Bahnstreik von November und Dezember 1995 erlebt hat, die Beteiligung an diesem Montag, den 14.05.2018 stärker als während des Streikherbsts 1995. Allerdings: Verändert hat sich seitdem die Technologie – damals konnte etwa ein Streik von Bahnbeschäftigten im Stellwerk den Verkehr relativ leicht komplett lahmlegen. Aufgrund der Automatisierung genügen jedoch heute zwei Bahnbeschäftigte, um ein Stellwerk am Funktionieren zu halten. Im Raum Paris etwa existiert eine, durch andere Bahnkolleg/inn/en als „Söldnertruppe“ bezeichnete Beschäftigtengruppe unter der Bezeichnung „Pool FAC“, die (in ihrem Falle tatsächlich zutreffend) „fett“ bezahlt wird – Prämien inbegriffen, rund 5.000 Euro monatlich – und jeweils dort als Lückenfüller einspringt, wo beispielsweise streikbedingte Ausfälle auftreten. Zwar hat es in jüngster Zeit einige kaputte Autoreifen und neu gestrichene Spinds in diesem Zusammenhang gegeben, doch funktionieren diese Streikbrechertrupps weiterhin ziemlich gut.

Insgesamt ist der Bahnstreik, wie alle Sozialproteste in diesem Moment, von Ungleichzeitigkeiten geprägt. Da die gewählten Streikmodalitäten (wir berichteten wiederholt: je zwei Tage Arbeitsniederlegung im fünftägigen Zyklus, unterbrochen durch Arbeitstage) die Basisversammlungen ihres Inhalts berauben – der Kalender der Streiktage ist vorab festgelegt, in Fällen früherer Bahnstreiks wurde hingegen voR Ort alle 24 Stunden über die Streikfortsetzung oder den Abbruch entscheiden -, nehmen viele Bahnbeschäftigte an den Versammlungen nicht teil. Nicht wenige wählen sich ihre Streiktage ein bisschen à la carte aus; fällt ein Streiktag etwa auf einen Wochenendtag, wird er genommen, um ihn dann jedoch oft im Kreise der Familie statt auf einer Streikversammlung zu verbringen. An einem anderen Wochentag (Werktag) hingegen wird dann oft trotz Streikkalenders gearbeitet, um die Verdienstausfälle einzudämmen.

Übrigens: Ja, es gibt eine manifeste Solidarität, auch wenn die öffentliche Meinung insgesamt den Bahnstreik laut Umfragen (ja, demoskopische Erhebungen sind prinzipiell manipuliert oder manipulierend, das waren sie jedoch immer schon) nur zu rund 40 Prozent unterstützt, während es etwa im Streikherbst 1995 dagegen rund 70 Prozent waren. Auf Aufruf von prominenten Intellektuellen wurde eine Spendensammlung begonnen, um Gelder in spontan eingerichtete Solidaritätskassen einzubezahlen. (In Frankreich gibt es traditionell keine gewerkschaftlichen Streikkassen, dafür hätten die Gewerkschaften wohl auch nicht die finanziellen Mittel. In aller Regel bezahlen Lohnabhängige ihre Verdienstausfälle aus eigener Tasche, können ihr Streikrecht jedoch zugleich unabhängig von Gewerkschaftsvorständen und Apparaten ausüben.) Dabei – das war die Big News aus der ersten Maiwoche – kamen bereits über eine Million Euro zusammen. (Vgl. etwa http://www.francesoir.fr/societe-transport/greve-sncf-un-cagnotte-dun-million-deuros-offerte-aux-grevistes externer Link und https://www.ledauphine.com/france-monde/2018/05/03/sncf-un-cheque-d-un-million-d-euros-pour-les-cheminots-en-greve externer Link oder http://www.revolutionpermanente.fr/Greve-SNCF-une-cagnotte-d-1-million-d-euros-a-ete-remise-aux-grevistes externer Link). Allerdings dämpfe ein Streikteilnehmer aus den Reihen von SUD Rail am gestrigen Dienstag die diesbezügliche, bisherige Euphorie des Verf. dieser Zeilen: Rechne man insgesamt rund 50.000 Bahnbeschäftigten, die sich zumindest in Teilen am Streik beteiligt hätten – die SNCF beschäftigt derzeit rund 150.000 Personen (vgl. https://ressources.data.sncf.com/explore/dataset/effectifs-disponibles-sncf-depuis-1851/?sort=date externer Link), wobei ein Prozess der Auslagerung von Filialen seit Jahren begonnen hat -, so mache dies zwanzig Euro pro Person aus. Mathematisch unwiderlegbar.

Um die passiven Widerstände und Schwierigkeiten zu überwinden, probieren die Bahngewerkschaften nun ein neues Mittel aus: Seit Montag, den 14.05.18 organisieren sie ein „Referendum“ (eine Urabstimmung) unter den Bahnbeschäftigten, um aufzuzeigen, wie massiv dort die Ablehnung der geplanten Bahn„reform“ ausfällt. Und eben nicht nur unter den, laut Angaben der Direktion rund 25 Prozent direkt am Streik Teilnehmenden. Zwar gibt es daran, dies sei nicht verschwiegen, aus der radikalen Linken auch Kritik: Der Abstimmungsmodus stelle eine Demobilisierung dar, eine Abwendung von der aktiven Streikmobilisierung. (Vgl. https://npa2009.org/actualite/entreprises/referendum-la-sncf-mais-quallaient-ils-donc-faire-dans-cette-galere externer Link) Andere, ebenso antikapitalistische, Bahnbeschäftigte widersprechen dieser Einschätzung jedoch und sehen beide nicht als Widerspruch zueinander, eher als Ergänzung. (So auch unser Diskussionspartner von SUD Rail am gestrigen Dienstag.)

Die Bahndirektion ihrerseits reagierte darauf, indem sie von vornherein ankündigte, eine solche Abstimmung habe keinerlei Legitimität und werde nichts ändern. (Vgl. http://www.liberation.fr/direct/element/guillaume-pepy-naccorde-aucune-legitimite-a-la-consultation-des-cheminots_81603/ externer Link) Ihrerseits versucht sie nun, in der öffentlichen Meinung in die Charme-Offensive zu kommen, indem sie – als „Ausgleich“ für die Ungemach des Streiks für die Nutzer/innen – drei Millionen Fahrkarten für die Sommermonate zu sehr vergünstigten Preisen auf den Markt wirft. (Vgl. etwa http://www.leparisien.fr/economie/guillaume-pepy-la-sncf-va-proposer-trois-millions-de-billets-de-tgv-a-moins-de-40-eur-10-05-2018-7709442.php externer Link)

Vorbild Air France?

Inspiriert worden ist die Abstimmungsinitiative zweifellos durch jene bei der Luftfahrtgesellschaft Air France. Die dortige Urabstimmung unter den Lohnabhängigen wurde ursprünglich durch die Direktion anberaumt, nachdem deren Verhandlungen mit den Gewerkschaften gescheitert waren. Sie würde dann jedoch im Endeffekt aufzeigen, dass die Ablehnung der Pläne der Direktion – und vor allem ihres Verhaltens während der Verhandlungen zu den Lohnforderungen und zu dem Streik, welcher seit Mitte Februar in mehreren Wellen (von jeweils zwei-drei Tagen) andauert – weite Teile des Personals erfasst. Und eben keineswegs nur „die Piloten“, während die Medienberichterstattung (welche am schlimmsten und einseitigsten in den stärksten Fernsehsendern wie TV1 ausfällt) stets und ständig nur von diesen Piloten und ihren „Gehältern von 12.000 bis 15.000 Euro“ spricht, um beim Publikum den Eindruck zu erwecken, hier streikten eine Handvoll von Privilegierten für Luxusforderungen. Dabei hatten die Pilotengewerkschaften den Streik bereits hinschmeißen wollen, und Stewards und Stewardessen sorgten zu dem Zeitpunkt für dessen Fortsetzung…

Der damalige Generaldirektor von Air France, Jean-Marc Janallaic, verknüpfte seine eigene politische Zukunft mit dem positiven Ausgang des „Referendums“ verknüpft. (Vgl. https://www.20minutes.fr/societe/2265791-20180504-air-france-sort-pdg-lie-vote-salaries-13e-jour-greve-couteuse externer Link) Zur Abstimmung gestellt wurde ein „Kompromiss“, den die Gewerkschaften zuvor in dieser Form abgelehnt hatten. Er sieht eine über vier Jahre gestreckte Lohnerhöhung um insgesamt sieben Prozent gegenüber heute vor. Die Beschäftigten fordern zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt 6 % mehr Lohn (OK OK, die Pilotengewerkschaften warfen ihrerseits die Zahl von 10,7 % für ihre spezielle Berufsgruppe in den Raum), nachdem die Einkommen jetzt sechs Jahre stagnierten. Und dies, während die Führungskräfte sich selbst 2016/17, mitten in einer Welle von Arbeitsplatz-Streichungen, ihre Gehälter um 18 Prozent erhöht hatten… (Vgl. https://www.marianne.net/economie/air-france-les-dirigeants-s-augmentent-de-presque-20-en-plein-plan-de-departs externer Link)

Am 04. Mai d.J. folgte dann das Ergebnis, und es platzte eine kleine Bombe: Über 55 Prozent der Beschäftigten bei Air France insgesamt lehnten den Vorschlag der Direktion eiskalt ab. (Vgl. bspw. http://www.lemonde.fr/economie/article/2018/05/05/le-vote-sanction-des-salaries-pousse-le-pdg-d-air-france-klm-a-la-demission_5294658_3234.html externer Link) Der bisherige Generaldirektor fraß, pardon: nahm daraufhin seinen Hut. Seitdem erfolgt allerdings ein wahres mediales Trommelfeuer, mit dem darauf hingewiesen werden soll, die Luftfahrtgesellschaft – 1993 privatisiert, zuvor staatlich – könne „untergehen“, durch die Konkurrenz alle gemacht werden, pleite machen, bankrott gehen, verschwinden. (Vgl. http://www.leparisien.fr/economie/air-france-peut-elle-vraiment-disparaitre-08-05-2018-7704492.php externer Link und http://bfmbusiness.bfmtv.com/entreprise/air-france-peut-elle-vraiment-disparaitre-1439565.html externer Link und http://video.lefigaro.fr/figaro/video/air-france-peut-elle-disparaitre/5785096385001/ externer Link und…) Auch die Regierung bläst eifrig in dieses Horn…

Auch bei der französischen Bahn wird, selbstredend, mit klaren Ergebnissen gegen die geplante Bahn„reform“ gerechnet. Zumal zwar die Regierung stetig beschwört, selbige solle nicht auf eine Privatisierung der französischen Eisenbahn hinauslaufen (vgl. http://www.lefigaro.fr/social/2018/05/14/20011-20180514ARTFIG00032-sncf-les-cheminots-appeles-aux-urnes.php externer Link) – jedoch durch die Medien durchgesickerte Gesprächsprotokolle ziemlich genau das Gegenteil beweisen. (Vgl. http://www.leparisien.fr/economie/reforme-de-la-sncf-le-document-qui-seme-le-trouble-13-05-2018-7713093.php externer Link und http://www.lemonde.fr/entreprises/article/2018/05/14/sncf-la-polemique-sur-un-projet-cache-de-privatisation-refait-surface_5298391_1656994.html externer Link sowie https://francais.rt.com/economie/50629-sncf-note-interne-evoquerait-privatisation-supression-lignes externer Link)

Dennoch stellt sich nun die Frage, wie es weitergeht. Denn zwar hält der Bahnstreik insgesamt relativ gut, trotz einer unvermeidlichen Abnutzung, denn dieser Montag (14.05.18) bildete bereits den 18. Streiktag in einem vorab festgelegten, am 03. April d.J. begonnen Streikkalender. (Notwendig Spekulation bleiben muss die Fragestellung, ob der Streik eine andere – möglicherweise erfolgreiche? – Dynamik entwickelt hätte, wäre er ohne Befristung und ohne von vornherein festgelegten Kalender begonnen worden, wie etwa SUD Rail dies wünschte. Oder hätte er bereits eine Niederlage markiert? Diese Frage muss notwendig offen bleiben.) Doch rund um den Bahnstreik darum herum bleibt bislang die allgemeine convergence des luttes oder das „Zusammengehen der sozialen Kämpfe“ in unterschiedlichen Sektoren, das die kämpferischen Kräfte wünschen, in Wirklichkeit weitgehend aus. Zwar gibt es wichtige Teilbereichskämpfe, derzeit etwa im Fastfood-Sektor (ein McDo-Restaurants unweit des Pariser Ostbahnhofs ist seit vergangenem Freitag, den 11. Mai durch Streikende besetzt, und just am heutigen Mittwoch, den 16.05. sind dort heftige Spannungen zu verzeichnen, weil die Direktion eine Wiedereröffnung durchzusetzen versucht). Auch die Studierenden regen sich nach wie vor, mit sehr starken örtlichen Ungleichzeitigkeiten.

Hochschulblockaden

An rund zehn Universitäten (von insgesamt etwa siebzig, mit 100 Standorten, oder mit ausgelagerte Fakultäten usw. mitgezählt bis zu 400) wurden in den letzten Tagen ausgelagerte Prüfungen, mit denen die Streikbewegungen umgangen werden sollten, blockiert. Am spektakulärsten war die Blockade der von der Universität Nanterre ausgelagerten Abschlussprüfungen am „Nationalen Examensstandort“ in Arcueil-Cachan südlich von Paris am Montag. (Vgl. etwa http://www.leparisien.fr/nanterre-92000/arcueil-les-etudiants-de-nanterre-bloquent-la-maison-des-examens-11-05-2018-7710012.php externer Link und https://www.francetvinfo.fr/societe/education/parcoursup/universite-de-nanterre-des-examens-suspendus-apres-un-blocage_2747849.html externer Link) Allerdings: Zwar gibt es in Nanterre offensichtlich eine gewisse Massenbasis für die aktuelle Protest- und Blockadebewegung. Insgesamt, und im Kontext verbreiterer beruflicher Zukunftsangst (vulgo: „Zwang zur Konzentration aufs Studium“), ist diese Tendenz jedoch in der Studierendenschaft allem Anschein nach minoritär. (Vgl. eine durch die CFDT-ähnliche, also in bürgerlichem Jargon „moderate“, Studierendengewerkschaft FAGE publizierte Umfrage dazu: http://www.lemonde.fr/campus/article/2018/05/10/universites-que-pensent-les-etudiants-de-la-mobilisation_5297185_4401467.html externer Link oder http://etudiant.lefigaro.fr/article/72-des-etudiants-sont-opposes-aux-blocages-selon-un-sondage-de-la-fage_0e52716e-54db-11e8-8b46-974776ed5324/ externer Link) Und die Universitätsleitungen umgehen die Hindernisse, etwa indem nun an der Hochschule v. Nanterre individualisierte Prüfungen im Internet – on-line – abgelegt werden. (Vgl. http://www.lemonde.fr/campus/article/2018/05/15/l-universite-de-nanterre-fera-passer-des-examens-en-ligne-une-ag-etudiante-s-y-oppose_5299468_4401467.html externer Link) Staatspräsident Emmanuel Macron verkündete bereits vor Wochen, es werde auch in diesem frühjahr „keine geschenkten Prüfungen“ geben; vgl. https://www.marianne.net/politique/il-n-y-aura-pas-d-examen-en-chocolat-lance-macron-aux-etudiants-grevistes-sur-tf1 externer Link EEin Teil der Protestbewegung antwortete darauf bspw. an der Hochschule Paris-VIII in Saint-Denis mit der – laut Auffassung des Autors dieser Zeilen infantilen – Forderung, alle Studierenden sollten automatisch eine Note „von mindestens 15 auf 20“ (entspricht im Deutschen Gut/Vollbefriedigend) erhalten. Dies dürfte jenseits der unmittelbar Betroffenen wohl kaum als legitim erachtet werden. Im Mai 1968 wurden die Abitursprüfungen und andere Examen etwa um mehrere Wochen verschoben (auf Juli 68) und auch erleichtert, aber eben auch nicht vollkommen „geschenkt“.

Zurück zur Bahn: Aufgrund der jedenfalls sehr realen Widersprüche, die mit der offiziellen Streikstrategie der Gewerkschaftsverbände CGT / CFDT / UNSA zusammenhängen, zeigt sich ein Teil der Protestaktiven geneigt, der Versuchung von Kleingruppenaktionen und etwa unangemeldeten Schienenblockaden zu unterliegen. (Vgl. in der bürgerlichen Presse: http://www.liberation.fr/france/2018/05/06/a-la-gare-du-nord-des-envies-d-actions-musclees_1648230 externer Link) Dies birgt allerdings die Gefahr in sich, relativ schnell unpopulär zu werden und / oder Disziplinarstrafen bis hin zur Kündigung nach sich zu ziehen.

Generell läuft die soziale Protestbewegung derzeit Gefahr, auf zwei Klippen (oder eine von beiden) aufzulaufen, da die Arbeitskampfbewegung als ihr zentraler Bestandteil derzeit nicht so durchschlagende Ergebnisse erzielt, dass das Land oder auch nur der Transportsektor dadurch komplett lahmgelegt würde.

Zwei Klippen: Kleingruppengewalt von politischen Abenteurern oder linkssozialdemokratische Vereinnahmung

Auf der einen Seite steht das Abdriften in eine politisch zunehmend unkontrollierte Kleingruppengewalt, die auch eine Reihe erlebnisdurstiger Heranwachsender, Adrenalinsteigerungen suchender anpolitisierter Protest-Hooligans und politischer Abenteurer vom Schlage „Insurrektionalisten“ anzieht. Am 1. Mai dieses Jahres wurde dies auf der Pariser Demonstration zum internationalen Arbeiter(kampf/feier)tag deutlicher denn je. Zwar hätte man zunächst als Erfolg verbuchen können, dass der sich vor die Gewerkschaftsvorstände und ihren offiziellen Spitzenblock setzende Demo-Teil – seit Frühjahr 2016 offiziell als cortège de tête (Demoblock am Kopf) bezeichnet – größer denn je ausfiel: Die Polizeipräfektur schätzte ihn offiziell auf 14.500 Personen an jenem Tag, und die dahinter laufende Gewerkschaftsdemo auf 20.000. (Die CGT sprach für Letztere von „55.000“, was manifest übertrieben schien.) Das ist zwar insofern grundsätzlich positiv, als viele Menschen, die der Kontrolle durch etablierte politische und gewerkschaftliche Apparate zu entgehen versuchen, unter ihnen auch viele empörte oder sich radikalisierende junge Gewerkschafter/innen, ebenfalls in diesen „Spitzenblöcken“ laufen. Doch die Schattenseite zeigte sich ebenfalls sehr schnell, denn in den Reihen dieser Demo vor der Demo (in welcher der gewerkschaftliche Ordnerdienst nicht hinreicht, zum Guten wie zum Schlechten) agierten vermummte und behelmte Kleingruppen, und dies keineswegs nur zum Guten. Deren Anzahl wiederum wurde durch die Polizeipräfektur schnell auf „1.200“ beziffert.

Die weitgehend von politisch definierten Zielsetzungen entkoppelte Gewalt, einmal entfesselt, richtete sich auf Bau- und Personenkraftzeuge, die in Brand gesteckt wurden, aber auch ein McDonalds-Restaurants in der Nähe des Austerlitz-Bahnhofs wurde angezündet. Die Gewalt zeigte dabei ihre, pardon – aber nennen wir die Dinge beim Namen – asoziale Seite, denn darüber liegen Wohnungen, um die die Akteure sich offensichtlich unbekümmert zeigten. Die Gewalt (in ihrer manifesten Form; klar, im Kontext eines bereits strukturell auf Gewalt, d.h. Ausbeutung von Mensch und Umwelt basierenden Gesamtsystems) ging an jenem Tag tatsächlich nicht zuerst von der Polizei aus.

Diese wartete vielmehr zunächst 45 Minuten lang in Ruhe ab, bis die – für gesamtgesellschaftliche Legitimation des Polizeieinsatzes günstigen – Fernsehbilder produziert waren, und griff erst danach ein. Dies sorgte für einige Polemiken und Unterstellungen, wonach etwa Provokateure oder (wie der Linkssozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon behauptete, bevor er es öffentlich zurücknahm, vgl. etwa http://www.leparisien.fr/faits-divers/violences-du-1er-mai-melenchon-accuse-des-bandes-d-extreme-droite-01-05-2018-7692582.php externer Link und die Rücknahme: https://www.francetvinfo.fr/politique/la-france-insoumise/violences-a-la-manifestation-du-1er-mai-melenchon-reconnait-avoir-accuse-l-extreme-droite-a-tort_2733249.html externer Link) „rechtsextreme Banden“ marodiert hätten und nicht Demo-Teilnehmer/innen. Die Wirklichkeit war jedoch eine andere.

Inzwischen gibt es auch aus dem linksradikal-antiautoritären Lager eine dezidierte, scharfe Selbstkritik an dem Vorgehen von Kleingruppen an diesem 1. Mai, das als „autoritär“ gegenüber den übrigen Protestierenden und Demo-Teilnehmer/inne/n charakterisiert wird. (Vgl. https://paris-luttes.info/appel-aux-convaincu-e-s-une-10146 externer Link)

Nachdem sie eine Weile lang – von Seiten der politischen Einsatzleitung: taktisch motiviert – abwartete und zusah, griff die Polizei dann doch noch ein, umkesselte rund 200 Menschen und nahm rund 150 fest. Angeblich, so verlautbarte die Polizeipräfektur zunächst, handele es sich dabei um den „harten Kern“. In Wirklichkeit wurden, man ist versucht zu schreiben: „natürlich“, nicht die unmittelbaren Urheber von tatsächlich problematischen Aktionen festgenommen, sondern vielmehr wahllos alle, die sich zur falschen Zeit in der falschen Zone befanden. (Vgl. in der bürgerlichen Presse u.a.: http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2018/05/04/violences-du-1er-mai-amende-et-relaxes-pour-les-premiers-manifestants-juges-a-paris_5294609_1653578.html externer Link) Zu ihnen zählten auch sehr „gewaltferne“ Menschen, die einfach der Demonstration von ihrem Ankunftsort her entgegenlaufen wollten, um sich unterwegs irgendwo einzureihen. Prozesse in diesem Zusammenhang haben bereits begonnen, die ersten drei endeten jedoch mit Freisprüchen respektive einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro. (Vgl. https://www.20minutes.fr/societe/2266483-20180505-violences-1er-mai-amende-relaxes-premiers-manifestants-juges-paris externer Link und http://www.leparisien.fr/faits-divers/violences-du-1er-mai-une-premiere-condamnation-a-1-000-eur-d-amende-04-05-2018-7699203.php externer Link) Ende Mai und Anfang Juni dieses Jahres folgt nun die nächste Welle von Prozessen in diesem Zusammenhang.

Die zweite Klippe ist jene der (links)sozialdemokratischen Vereinnahmung. Vor allem, nachdem sich die linkssozialistische und in Teilen linksnationale Wahlplattform La France insoumise (abgekürzt LFI oder FI; ungefähr: „Das aufsässige Frankreich“) von Jean-Luc Mélenchon im Zusammenhang mit der sehr erfolgreichen Demonstration vom Samstag, den 05. Mai 18 auf Profilsuche sehr auf dem Fenster hängte. Diese fête à Macron (doppeldeutig; ungefähr: „eine Party für Macron“, aber eben auch: „Emmanuel Macron kann was erleben“!) war ursprünglich – wir berichteten – durch ein Initiativentreffen am Abend des 04. April d.J. im Pariser Gewerkschaftshaus anberaumt worden. Doch an jenem Samstag war die Wahlpartei LFI äußerst sichtbar präsent und verteilte Pappschilder mit Slogans und Sprüche, die durch Teile des Publikums dankbar aufgegriffen und auf den Weg (die Demoroute) mitgenommen wurden. Dies erweckte den Eindruck, die Wahlplattform LFI sei in der Demonstration omnipräsent, was jedoch so nicht zutraf: Diese war heterogen zusammengesetzt, wobei jedoch die organisierte gewerkschaftliche Komponente relativ schwach ausfiel. Der Protestzug kennzeichnete durchaus einen Erfolg: Ein „Kollektiv“ von Medienunternehmen sprach von 39.500 Teilnehmenden, zählte jedoch laut eigenem Bekunden nur die Menschen auf dem Platz der Auftaktkundgebung (place de l’Opéra) und nicht die unterwegs Hinzukommenden oder die Menschen am Abschlussort (place de la Bastille). LFI ihrerseits sprach von „160.000“. Die zahlenmäßige Wahrheit dürfte laut Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen, an dem die Demonstration ziemlich genau 120 Minuten lang vorbeizog, bei rund 70.000 gelegen haben. Die Mobilisierung war dabei frankreichweiter, nicht nur regionaler, Natur, wie die mitgeführten Schildern mit ihren Ortsbezeichnungen (für die Herkunft der Demonstrierenden) bezeugten. Insgesamt war der Aufzug von guter Stimmung und viel fantasievollen Darbietungen gekennzeichnet.

Doch für böses Blut sorgte, dass die Führungsriege von LFI auf einem Bus neben den laufenden Demonstrationsteilnehmer/innen einherfuhr, und Parteiboss Jean-Luc Mélenchon von dessen Empore herab die Teilnehmer/innen mit Reden zudeckte. Dies sorgte für heftige Kritik – man mache nicht eine „Party“, um einem modernen König einzuheizen, damit sich ein anderer wie ein Monarch aufführe, hieß es etwa. Ein in der Linken zirkulierender Text dazu trug die Überschrift: „Steigt von Eurem Bus herunter!“ (Vgl. zur Diskussion u.a. https://www.anti-k.org/2018/05/06/2-organisateurs-de-la-manif-dhier-prennent-la-plume-pour-exprimer-colere-et-degout-face-a-lattitude-du-groupe-melenchon-et-dautres/ externer Link und http://www.regards.fr/IMG/pdf/la_reponse_de_francois_ruffin.pdf externer Link pdf) Auch waren Spannungen zwischen Mélenchon einerseits und François Ruffin andererseits bereits vor Ort zu verzeichnen. Letzterer ist einerseits selbst Abgeordneter für LFI in der Nationalversammlung, zählte andererseits jedoch zu den überwiegend aus Basisbewegungen kommenden Initiator/inn/en der Demonstration. Dies wurde, selbstverständlich, durch bürgerliche Medien begierig aufgegriffen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/2018/05/07/25001-20180507ARTFIG00239-fete-a-macron-l-echange-muscle-entre-quatennens-et-ruffin.php externer Link und http://www.bfmtv.com/politique/la-tension-monte-entre-francois-ruffin-et-melenchon-1440868.html externer Link)

Nun soll am Samstag, den 26. Mai eine erneute breite Mobilisierung – wiederum an einem Wochenende – erfolgen, zu denen unter anderem auch LFI aufruft, daneben aber auch ein wesentlich breiteres Bündnis. Die wichtige strategische Frage ist nun jene einer Beteiligung oder Nichtbeteiligung des Gewerkschaftsdachverbands CGT. An der fête à Macron vom 05.05.18 hatte dessen Leitung unter CGT-Generalsekretär Philippe Martinez dezidiert nicht teilnehmen wollen, wie er am 11. April 18 in den Spalten der Pariser Abendzeitung Le Monde erklärte. (Martinez kritisiert seit Monaten die Hegemonie- und Profilierungsversuche von Jean-Luc Mélenchon im Kontext der sozialen Protestbewegung; Hegemonieversuche sind dem Dachverband selbst sicherlich auch nicht fremd.)

Nun tauchte die CGT jedoch an Vorbereitungstreffen für die nächste geplante Mobilisierung vom 26.05., welche am 17. April und am 03. Mai stattfanden, auf (u.a. in Gestalt von Elsa Conseil, so heißt die selbst aus der antikapitalistischen Linken kommende Beraterin von Philippe Martinez). Dennoch blieb die Frage einer Beteiligung der CGT zunächst offen. (Vgl. dazu http://www.lemonde.fr/politique/article/2018/05/08/isolee-sur-le-plan-syndical-la-cgt-se-prepare-a-rejoindre-la-maree-populaire-du-26-mai_5295962_823448.html externer Link)

Nun lautet der neueste Stand dazu jedoch: Bislang wurde offizielle beim Dachverband noch „keinerlei Entscheidung getroffen“. Doch 78 Mitgliedsorganisationen der CGT (Kreisverbände und Branchengewerkschaften) sollen sich bislang für eine Teilnahme an der Mobilisierung ausgesprochen haben, sechs dagegen, sechs enthielten sich einer Pro- oder Kontra-Stellungnahme. (Vgl. http://bellaciao.org/fr/spip.php?article159751 externer Link)

Diese Mobilisierung könnte also spannend werden. Ihr offizieller Titel lautet marée populaire (hümm, „Volksflut“? Scheißübersetzung aber auch… naja, der deutsche „Volks“begriff besagt nun eben definitiv etwas Anderes als das französische peuple als Zusammenfassung der Unterklassen) oder auch marée humaine („Menschenmeer“).

Zuvor findet am Dienstag, den 22. Mai 18 ein nächster Streiktag in den öffentlichen Diensten statt, nach jenem – erfolgreichen – am Donnerstag, den 22. März dieses Jahres. Er richtet sich an Krankenhausbedienstete (diese demonstrierten auch am gestrigen Dienstag, den 15.05. und blockierten kurzzeitig die Champs-Elysées), Kommunalbedienstete, Steuerbedienstete… Bislang besteht dazu jedoch noch kein Aufruf zum Streiken an die Eisenbahner/innen, deren Streikkalender bislang den 22.05.18 nicht einschließt. Doch Kräfte wie SUD Rail versuchen, nun doch eine Streik- und Demonstrationsbeteiligung unter den Eisenbahner/inne/n an jenem Tag anzuschieben und dadurch Brücken zu schlagen. In der Hoffnung, dass dies noch zu einer breiteren Dynamik (über die SNCF hinaus) beiträgt…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=132143
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