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Der Prozess gegen die Verantwortlichen der Selbstmordwelle bei France Telekom ist eröffnet

Dossier

»France Telecom gesteht ein: Sie sollten sich zu Tode arbeiten, nicht Selbstmord begehen«Eine Häufung von Suiziden bei dem französischen Telekommunikationsriesen France Télécom, heute Orange, hat vor knapp zehn Jahren die französische Öffentlichkeit aufgeschreckt. Nun stehen ehemalige Kadermitglieder vor Gericht. War ihr Restrukturierungsprogramm systematisches Mobbing? Sie sind von der Brücke gesprungen, haben sich erhängt oder einen Medikamenten-Alkohol-Cocktail eingenommen. Insgesamt 19 Mitarbeiter von France Télécom, heute Orange, haben sich zwischen 2007 und 2010 das Leben genommen. 12 weitere haben in demselben Zeitraum einen Selbstmordversuch unternommen, bei 8 wurden schwere Depressionen diagnostiziert. Die grausamen Details ihrer Schicksale sind alle in einer rund 670 Seiten umfassenden Anklageschrift festgehalten. Diese ist Grundlage eines Prozesses, der am Montag vor dem Pariser Strafgericht begonnen hat. Auf der Anklagebank sitzen sieben ehemalige Kadermitglieder von France Télécom. (…) Es waren schliesslich Gewerkschaften und Betriebsärzte, welche die Verschlechterung des Betriebsklimas und Suizidfälle publik machten. Die Gewerkschaft Sud-PTT reichte wegen der von einer aussergewöhnlichen Brutalität geprägten Führungsmethoden 2009 Klage gegen das Unternehmen ein, weitere folgten. Inzwischen haben sich 120 Nebenkläger gemeldet, viele von ihnen frühere Mitarbeiter. (…) Nun muss das Gericht der Frage nachgehen, ob der Zweck die Mittel heilige….“ – aus dem Beitrag „Eine Selbstmordwelle bringt Orange in Frankreich vor Gericht“ von Nina Belz am 06. Mai 2019 in der NZZ online externer Link über längst beantwortete Fragen: Ja, in dieser Gesellschaft heiligt der Profit jedes Mittel und ja, diese Männer tragen mit ihren 22.000 gestrichenen Jobs samt zugehöriger Einschüchterungswelle die Verantwortung für die Selbstmordwelle… Siehe dazu u.a. auch einen früheren Beitrag im LabourNet Germany mit genaueren Zahlen und Vorgang, einen Beitrag von SUD Solidaires zur Prozesseröffnung, sowie den Verweis auf unsere damaligen Beiträge im LabourNet-Archiv:

  • Nach 41 Verhandlungstagen ist der Prozess um die Selbstmordwelle beendet: In Erwartung des Urteils, vor allem über den Topmanager Didier Lombard – der seinen Anwälten zufolge einen Orden verdient hätte New
    Zweieinhalb Monate lang, an 41 Verhandlungstagen war die Selbstmordwelle bei der (damaligen) France Telecom und die Verantwortung der Geschäftsleitung dafür Gegenstand des Prozesses, der nach 4 Jahren Untersuchung durch die Justiz stattfand. Am letzten Prozesstag standen die Plädoyers der Verteidigung im Mittelpunkt: Die Ausführungen seiner drei Anwälte bestanden im Wesentlichen aus einer Lobeshymne. Er habe das Unternehmen „gerettet“, dafür habe er keinen Prozess, sondern eigentlich eine Auszeichnung – etwa „Manager des Jahres“ – verdient. Klares Zeichen dafür, dass der Angeklagte und seine VertreterInnen sich in einer starken Position fühlen, mit anderen Worten: Ganz schön frech. In dem Beitrag „Jour 41 – Le brave « Mr Lombard »“ von Ivan du Roy am 12. Juli 2019 bei La Petite Bao externer Link (der Sonderseite des Gewerkschaftsbundes SUD Solidaires zu diesem Prozess) wird die Sicht dieses Gastkommentators, ein Journalist unter anderem beim Basta! Magazin, auf dieses Verhalten sehr persönlich geschildert. Wobei er diese Logik, das Unternehmen zu retten – indem man die Beschäftigten bis zur Verzweiflung antreibt – in den Mittelpunkt seiner Darlegungen stellt und sie als perverse Logik bewertet. Der Abschluss dieses Prozesses „außerhalb der Normen“ (dessen Zustandekommen ja bereits ein gewerkschaftlicher Erfolg war, in erster Linie der ständig dazu aktiven SUD PTT) gebe ihm Hoffnung so der Autor: Die abschließenden Worte der Richterin über diese Haltung des Managements gingen in dieselbe Richtung, wie seine eigenen Empfindungen…
  • Wie die France Telecom-Geschäftsleitung 2008 die Beschäftigten erpresste und in den Tod trieb – wofür sie jetzt endlich vor Gericht steht 
    Es ging darum, dass die Angestellten auf eine andere Art zum Entschluss kamen, das Unternehmen zu verlassen. Eine besondere „Herausforderung“ stellten die Beamten in dem Konzern dar, die unkündbar waren, weshalb sie vor allem im Visier standen. Man sollten am Ende durch weniger Personal ersetzt werden, das leichter zu kündigen ist, noch besser durch Subunternehmer, die nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden, so gut wie nichts verdienen und für die keine Sozialabgaben fällig werden. Überlastung war ein Mittel, um den Angestellten das Arbeitsleben möglichst schwer zu machen, dazu kamen spontane Versetzungen an Orte, die weit weg von der Wohnung und damit nicht selten von der Familie liegen, neue Arbeitsgebiete, die entweder zur Überforderung führten, die in Performance-Checklisten gnadenlos Woche für Woche gnadenlos dokumentiert wurde, oder als Abstellgleis funktionierten, um den Angestellten vor Augen zu führen, dass sie nicht gebraucht würden. Die offensichtlich sehr wirksame grundlegende Methode bestand darin, die Angestellten fühlen zu lassen, dass sie „Nullen“ sind: Die Direktion ließ sie verstehen, dass die Werte, mit denen sie (die Angestellten, Anm. d. A.) verbunden sind, nichts mehr taugen, dass ihr Metier, ihr Know-How nicht mehr existieren, dass sie selbst Nullen sind, dass sie entweder gar nicht sichtbar sind oder, wie Klötze am Bein, eine Last. Der PDG Didier Lombard wollte lange Zeit keinen Zusammenhang zwischen den Suizidversuchen, von Warnungen innerhalb des Unternehmens und sogar von Krankenkassen anhand der auffällig gewordenen Fallzahlen von psychisch Erkrankten (weit über 1.000) erkennen. Er sprach angesichts der Selbsttötungen von einer „Epidemie“, ganz so als ob die Unternehmenspolitik gegenüber den Angestellten nichts damit zu tun habe, auch wenn Abschiedsbriefe einen direkten Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen herstellten…“- aus dem Beitrag „France Télécom: Die Angestellten wissen lassen, dass sie Nullen sind“ von Thomas Pany am 08. Mai 2019 bei telepolis externer Link bei dessen Lektüre die Erinnerung an den breit inszenierten Prozess gegen  Air France Beschäftigte  hochkommt – bei dem es nicht um Mord und Totschlag ging, sondern um zerissene Kleisungsstücke. Aber „natürlich“ von Managern… Siehe dazu auch ein Video vom ersten Prozesstag:

  • „Orange: Procès Lombard, que justice soit enfin rendue !“ am 11. Juli 2018 bei SUD Solidaires externer Link ist so eine Art Zusammenstellung für das „Kleine Handbuch des Agitators“ zum Prozess Lombard (benannt nach dem früheren Oberboss von France Telekom, der einer der Angeklagten ist), die nach der Bekanntgabe des endgültigen Beschlusses zur Prozesseröffnung im Juli 2018 publiziert wurde. Darin enthalten ein Überblick über die Selbstmordwelle, der „Umstrukturierungsplan“ der Geschäftsleitung in einer ausführlichen Analyse, sowie die Entlassungsbilanzen und eine Spezialausgabe der Aktivenzeitschrift „Et Voilà“ (Nummer 59, gestaltet von der SUD PTT). Siehe auch ein Video zum Prozessbeginn externer Link
  • Nach früherer Selbstmordwelle bei der französischen Telekom (seit 2013 Orange): Hochrangige Unternehmenschefs müssen sich voraussichtlich strafrechtlich verantworten  von Bernard Schmid am 08. Juli 2016 im LabourNet Germnay war unser bisher letzter Beitrag zu diesem Thema und ort hieß es zu den Vorgängen genauer: „Es war eine regelrechte Selbstmord-„Epidemie“, die in den Jahren von 2006 bis 2009 unter den abhängig Beschäftigten der früheren französischen Telekom (France Télécom) – inzwischen umbenannt in Orange – wütete. Sechzig Suizide, die mutmaßlich mit den Arbeitsbedingungen, mit Stress und „Ausgebranntfühlen“ zusammehingen, wurden verzeichnet, 35 davon in den Jahren 2008 und 2009. Im September 2009 erstattete die linke Basisgewerkschaft bei Post und Telekom, SUD-PTT, daraufhin Strafanzeige gegen das Unternehmen. Und nun geschieht, mit einigen Jahren Zeitverzögerung, das eher Unvorhergesehene: Die staatliche Justiz schickt sich nach mehrjähriger Ermittlung tatsächlich dazu an, einige (frühere) hohe und höchste Unternehmensführer vor ein Strafgericht zu schicken. Die Pariser Staatsanwaltschaft legte am 22. Juni dieses Jahres eine 193 Seiten umfassende Anklageschrift vor, die jedoch erst in dieser Woche durch die Presse besprochen wurde. Der zuständige Untersuchungsrichter muss dem noch zustimmen. Voraus gingen vier Jahre währende Untersuchungen durch dessen Amtsvorgänger, den damals zuständigen Richter Pascal Gand: Er wertete Excel-Tabellen und PowerPoint-Dateien des Managaments aus, befragte Dutzende von abhängig Beschäftigten als Zeugen und Zeuginnen, ging Tausende von E-Mails aus dem Management durch. Doch das Erdbeben hat bereits begonnen, auch wenn die untersuchungsrichterliche Anordnung zur Anklageerhebung noch aussteht. Denn was die Staatsanwaltschaft fordert, ist neu: Sieben höchste Unternehmensleiter sowie die frühere France Télécom als juristische Person sollen sich direkt und unmittebar strafrechtlich verantworten müssen. Anklage erhoben wird – sofern es dazu kommt, aber es darf als wahrscheinlich gelten – wegen des Tatbestands des Mobbing (französisch: harcèlement moral, wörtlich „moralische Belästigung“), dass eit 2001 als Straftbestand definiert ist…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=148412
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