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Updated: 18.12.2012 15:51
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Nach den Streiks, ist vor der Zukunft

Eine Premiere: Erstmals haben französische Gewerkschaftsverbände jetzt angekündigt, dass sie ihren (im Laufe des Oktober streikenden) Mitgliedern nachträglich einen Lohnersatz bezahlen, um ihre finanziellen Verluste auszugleichen. Eine freilich zweischneidige Ankündigung. Unterdessen flog der Mann der Renten,reform', Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth, bei der teilweise Regierungsumbildung vom gestrigen Sonntag aus dem Kabinett...

Der soziale Konflikt um die Renten,reform' in Frankreich scheint vorläufig entschieden. Das Gesetz, das beide Parlamentskammern (Nationalversammlung und Senat) in letzter Lesung am 27. Oktober 2010 in einer definitiven Fassung verabschiedet hatten, wurde inzwischen durch Präsident Nicolas Sarkozy unterzeichnet. Und nachdem es in der Nacht zum vergangenen Mittwoch, den 10. November 2010 im Journal Officiel - Amtsblatt, Gesetzesanzeiger - publiziert wurde, ist es inzwischen auch in Kraft getreten.

Dennoch herrscht keine Stimmung bleierner Resignation unter den Teilnehmer/innen/n der sozialen Protestbewegung, die monatelang Millionen Menschen auf den Straßen mobilisieren konnte: Nicht weniger als zehn gewerkschaftliche "Aktionstage" haben zwischen dem 27. Mai und dem 06. November dieses Jahres gegen die "Reform" stattgefunden, acht davon zwischen Anfang September und Anfang November. Und ein weiterer ist bereits, trotz Inkrafttretens des "Reform"gesetzes, für den 23. November geplant.

Wichtiger noch als das Fortdauern dieses Protests, der durch die Gewerkschaftsapparate mobilisiert, aber auch - in Form der 24stündigen "Aktionstage" mit vornherein begrenzter Dauer und Aktionsformen - in enge Bahnen kanalisiert wird, ist die fortwährende Gärung an der "Basis". Vielerorts hatten sich während des mehrmonatigen Sozialprotests gewerkschafts- und berufsgruppenübergreifende, " interprofessionnelle " Aktionskomitees gebildet. Auf Stadtteilebene oder auch als gemeinsame Aktionsgruppen verschiedener Sektoren (etwa: Studierende, LehrerInnen, Eisenbahner einer Stadt, eines Bezirks, eines Orts). Während solche unterschiedliche Sektoren übergreifenden Ausschüsse oder Komitees aber beim Streik der öffentlichen Dienste in Frankreich im November/Dezember 1995 einen der Schrittmacher bei den Arbeitskämpfen selbst darstellten - die Ausständischen besuchten sich gegenseitig bei ihren Vollversammlungen in den bestreikten öffentlichen Betrieben: Post, Bahn, Müllabfuhr -, organisierten sie dieses Mal in aller Regel Aktivitäten außerhalb der Arbeitsstätten. Beispielsweise Blockaden von Treibstoffdepots (als der Raffineriestreik zwischen dem 12. und dem 29. Oktober für eine Verknappung des Kraftstoffs an den Tankstellen und Flughäfen sorgte und die Regierung bestrebt war, diese durch Öffnen der 219 Depots zu überbrücken), von Autobahnzubringern oder örtlichen Niederlassungen des Arbeitgeberverbands MEDEF. Am Wochenende des 06./07. November kam es im westfranzösischen Tours zu einem frankreichweiten Zusammentreffen von Vertreter/inne/n dieser Aktionskomitees, um über weitere Schritte in der nahen Zukunft zu beraten.

Eines der spezifischen Charaktermerkmale der Bewegung im Herbst 2010 war, dass sie sich insgesamt wesentlich stärker über Demonstrationen und diese begleitende Aktionen - Blockaden, Besetzungen - als durch Streiks an den Arbeitsplätzen organisierte. Eine der Ursachen dafür, dass der Rückgang der Reallöhne in den letzten 10 bis 15 Jahren sowie die (realökonomischen wie psychologischen) Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 dazu beitrugen, dass ein länger anhaltender Streik für viele Lohnabhängigen derzeit nur noch schwer durchzuhalten ist. Aufgrund der finanziellen Auswirkungen mehrtägiger oder gar -wöchiger Streik scheint diese Perspektive auch für abhängig Beschäftigte, die den Sozialprotest aktiv unterstützen, nur schwer ins Auge zu fassen. Hinzu kam der Anstieg des Anteils an prekärer Beschäftigten. Hinzugefügt werden muss, dass es bislang in Frankreich in aller Regel keine Streikkassen gibt, aus denen die Lohneinbußen für streikende Beschäftigte ausgeglichen und teilweise erstattet würde, sondern dass streikende Lohnabhängige ihren finanziellen Verlust aus eigener Tasche tragen. Dies war seit langem so und hatte - neben dem manifesten materiellen Nachteil - gleichzeitig auch den Vorzug, dass es verhinderte, dass die Gewerkschaftsapparate in irgendeiner Weise die Ausübung des Streiksrechts durch die Beschäftigten in Frankreich kontrollieren, indem sie etwa den Finger am "Geldhahn" haben. Das Streikrecht in Frankreich (als Ausdruck und Widerspiegelung der Sozialgeschichte des Landes) ist eine tatsächliche individuelle Garantie für alle Lohnabhängigen: ein individuelles Grundrecht jedes einzelnen von ihnen, das lediglich kollektiv - zu mehreren - ausgeübt werden muss. Es ist keinesfalls ein "organisches Recht" wie in Deutschland, wo ein Streik durch die anerkannten Gewerkschaften organisiert werden muss, um mit positivem Recht, also bestehenden Gesetzen, vereinbar zu sein.

Historisch war es also ein immenser Vorteil, dass die Gewerkschaften auch durch finanzielle Aspekte keinerlei Kontrolle über die Entscheidung der Lohnabhängigen zu Aufnahme oder Abbruch eines Streiks ausüben konnten. Die Lohnverluste wurden in der Vergangenheit, zu Zeiten eines besseren sozialen Kräfteverhältnisses als heute, oftmals durch Unterstützung aus "kommunistisch" regierten Rathäusern oder aber durch "Nachstreiks" - die Streiks nach dem "Haupt"streik dienten dazu, die Arbeitgeber zur Bezahlung eines Teils der vorausgegangenen Streiktage zu zwingen - ausgeglichen. Das ist heute schwerer als in der Vergangenheit. Doch fanden, auch dies ein besonderes Charaktermerkmal des Sozialprotests von 2010, bei diesem Mal massive Solidaritäts-Spendensammlungen für die Streikenden in diversen Zusammenhängen statt.

Lohnverlust wird erstmals durch Gewerkschaften für ihre Mitglieder ausgeglichen

Eine der Neuheiten ist, dass am Samstag, den 13. November nunmehr die CFDT (zweitstärkster Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, an der Spitze rechtssozialdemokratisch) verkündet hat, sie werde denjenigen unter ihren Mitgliedern, die im September/Oktober 2010 an Streiks gegen die Renten"reform" teilnahm, nachträglich einen Lohnausgleich bezahlen. Anders als bei den "Reformen" zu Renten und Gesundheitswesen von November 1995 und Mai bzw. Juli 2003 - bei denen die CFDT-Führung die Regierungspositionen gegen die Streikbewegungen unterstützt hatte - rief ihr Dachverband in diesem Jahr zur Teilnahme an der Sozialprotestbewegung auf, auch wenn sie stets "mäßigend" auf deren Aktionen Einfluss zu nehmen versuchte. Dazu trug sicherlich bei, dass die Regierung in diesem Jahr nicht gewillt war, ihm auch nur das leiseste substanzielle "Zugeständnis" zu machen, um sich seine Zustimmung zu erkaufen. Kurz nach dem Beschluss der CFDT wurde auch seitens der CGT beim französischen Erdölkonzern TOTAL - die CGT bildet den stärksten gewerkschaftlichen Dachverband in Frankreich, und der Streik in den Raffinerien bei TOTAL hatte zu den zentralen Arbeitskämpfen während des Kampfs gegen die Renten,reform' im Oktober 2010 gezählt - bekannt gegeben, sie bezahle ihrerseits den vormals Streikenden einen Lohnausgleich. Dies werde ihr, fügte die CGT TOTAL hinzu, durch das massive Aufkommen an Spenden, die ihr überreicht worden seien, ermöglicht.

Abzuwarten bleibt also, inwiefern diese jüngsten Beschlüsse auf Dauer Änderungen in der französischen "Streikkultur" oder im gewerkschaftlichen Kampfverhalten anbahnen. Sicher ist allerdings, dass jedenfalls im Falle der CFDT - deren Apparat seit Jahren vom "Modell" des deutschen Gewerkschaftswesens, seiner "Effizienz" und der angeblichen "Sozialpartnerschaft" träumt - das Angebot materieller Unterstützung gleichzeitig mit dem Wunsch nach verstärkter Kontrolle der Aktivitäten an der Basis und des Eindämmens ihrer Radikalität einher geht.

Eric Woerth fliegt

Unterdessen hat Nicolas Sarkozy am Samstag/Sonntag, wie seit Monaten angekündigt und seit Wochen durch die öffentliche Meinung erwartet, seine Regierung umgebildet. Spektakuläre Neuerungen gab es dabei nicht. Doch der politische Repräsentant der Renten,reform' in den vergangenen Wochen - das korrupte Schwein, pardon: der bisherige Arbeits- & Sozialminister Eric Woerth, einer breiteren Öffentlichkeit im Sommer 2010 bekannt geworden durch seine geldwerten Beziehungen zu Multimilliärden wie Liliale Bettencourt und Guy Wildenstrein - flog dabei aus dem Kabinett. Seine politische Karriere dürfte nunmehr weitestgehend besiegelt sein. Sein Amtsnachfolger wird Xavier Bertrand, der denselben Posten bereits als Vorgängers Woerths bis Anfang 2010 bekleidet hatte, bevor er vorübergehend den Parteivorsitz der regierenden UMP übernommen hatte.

Artikel von Bernard Schmid vom 15.11.2010


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