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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich, Konflikt um die Renten«reform»: Die Gewerkschaften gehen zu einer härteren Gangart über

Unbefristete Streiks in Aussicht - <<Grève reconductible>> kündigt sich an: ein Gefühl, als wennze fliechst…

Nun werden andere Saiten aufgezogen: Unbefristete Streiks sind, erstmals von breiterer gewerkschaftlicher Unterstützung getragen, ab dem Dienstag kommender Woche u.a. in den Transportbetrieben (Bahn, Pariser Métro, Buslinien)  angekündigt. Auch die Erdölraffinerien werden voraussichtlich wieder bestreikt werden. Nach dem abermaligen Erfolg der Straßendemonstrationen vom vergangenen Wochenende - drei Millionen Teilnehmer/innen laut gewerkschaftlichen Angaben, knapp 900.000 laut offenkundig frisierten Zahlen des französischen Innenministeriums - hatte die Regierung darauf beharrt, ein Einknicken bei der zu 85 bis 92 % durch die Lohnabhängigen finanzierten Renten„reform“ komme nicht in Frage. Angesichts der Perspektive, dass eine weitere quantitative Ausdehnung der Teilnehmerzahlen vorerst kaum möglich erscheint (sondern bei weiteren Latschdemonstrationen ab jetzt eher ein Abbröckeln droht), wählten die Gewerkschaften die einzige gangbare Strategie, die ihnen zur Verfügung blieb. Nunmehr wird klar erkennbar die Kraftprobe eingeläutet

Am vergangenen Samstag (o2. Oktober) kamen ein weiteres Mal zahlreiche Menschen zu Demonstrationen gegen die Renten„reform“, deren drohende Verabschiedung in beiden Kammern des französischen Parlaments nun unmittelbar bevorsteht, zusammen. Gesamtgesellschaftlich bleibt die Opposition gegen diese „Reform“ außerordentlich stark: 71 % erklären, laut Ergebnissen einer Umfrage für die linke Tageszeitung ,L’Humanité’ (KP-nahe), ihre Unterstützung für die Proteste dagegen. Die „Reform“ bleibt wesentlich unpopulärer, als sie es noch bei ihrer Verkündung im Juni dieses Jahres gewesen war: Damals überwog noch Resignation, inzwischen - trotz der normalerweise Abflauen von Protesten bewirkenden Sommerlochpause - hat die Wut zugenommen. Auch die Enthüllungen über das korrupte Schwein, pardon: den amtierenden Arbeits- & Sozialminister, Eric Woerth und seine lukrativen Sonderbeziehungen zu Milliardären (wie der L’Oréal-Erbin Liliance Bettencourt) trugen dazu sicherlich bei. Diese Enthüllungen hielten den ganzen Juli und August sowie einen Teil des September 2010 hindurch an, wochenlang kamen täglich neue hinzu.

Eric Woerth ist der politische Repräsentant jener „Reform“ der Renten, deren Kosten - je nach Angaben - zu 85 % bis 92 % durch die Lohnabhängigen zu tragen sein werden. Die Reichen werden nur marginal, durch eine Ausklammerung des künftigen erhöhten Rentenbeitrags aus der nach oben hin gedeckelten Spitzensteuersatz-Pauschale (die 2005 vom Premierminister Dominique de Villepin eingeführt und 2007 durch Präsident Nicolas Sarkozy abgesenkt wurde), berührt werden.

Das Datum der letzten Demonstrationen war durch die ,Intersyndicale’ (den Zusammenschluss der acht Richtungs-Gewerkschaftsdachverbände, um den Protest zu organisierten) dieses Mal bewusst auf einen Wochenendtermin gelegt wurden. Dahinter stand die Absicht, dadurch noch einmal zu einer quantitativen Ausdehnung und Verbreiterung der Straßenproteste beizutragen. Solche Lohnabhängige, die es sich nicht erlauben können, an einem Wochentag zu kommen - weil sie dafür einen Streiktag einlegen müssten, den sie sich entweder finanziell oder aufgrund der Angst vor Ärger mit dem Chef und drohenden Arbeitsplatzverlustes „nicht leisten können“ - oder Familienangehörige von abhängig Beschäftigten sollten nun ebenfalls dazu stoßen können. Allerdings hatte CFDT-Generalsekretär François Chérèque schon am Freitag verkündet, er erwarte die Teilnahme von zwei bis drei Millionen Demonstrierenden am kommenden Tag ; also eine ähnlich hohe Beteiligung, wie sie (laut gewerkschaftlichen Angaben) bereits bei den beiden vorausgehenden „Aktionstagen“ an Werktagen vom 07. und 23. September verzeichnet worden war.

Real kamen am letzten Samstag frankreichweit wiederum rund zwei Millionen Menschen zusammen. Die Gewerkschaften - die es sich natürlich gar nicht leisten konnten, geringere Zahlen als bei den „Aktionstagen“ zuvor zu verkünden, die einen Anschein des Rückgangs der Mobilisierung erweckt hätte - sprachen erneut von drei Millionen Teilnehmer/inne/n. Die Regierung hingegen übte sich (wie schon zuvor am 23. September) wiederum in dem Spiel, ein Abflauen der Mobilisierung zu suggerieren: Das Innenministerium verkündete, am 07. September hätten frankreichweit 1,12 Millionen Menschen demonstriert ; am 23. September dann „997.000“ ; und dieses Mal dann „899.000“. Dies sollte den Eindruck erwecken, die Teilnahme würde allmählich schwächer.

Das freilich stimmte mit der Realität nicht überein. Zwar war aus meteorologischen Gründen - im westfranzösischen Rennes und in Lille, Nordostfrankreich, schüttete es am Samstag kräftig - die Beteiligung in einigen Städten wirklich rückläufig. Hingegen nahm sie in anderen Städten dafür sichtbar zu. Vor allem in kleineren und mittleren Städten lässt sich dies optisch relativ einfach ablesen. In der Hauptstadt Paris ist dies etwas schwieriger. Die Polizei suggerierte hier einen sukzessiven Rückgang der Teilnehmerzahlen: „70.000“ am 07. September, dann „65.000“ am 23. des vergangnen Monats, und jetzt „63.000“. Dagegen sprachen die Gewerkschaften am ersten Datum von „270.000“, am zweiten von „300.000“ und beim dritten Mal nun (am letzten Samstag) von „310.000“ Demonstrierenden. Aus gewöhnlich gut unterrichteten Gewerkschafterkreisen verlautbar, dass - jenseits der für gewöhnlich aufgeblasenen „offiziellen“ Teilnehmerzahlen - auch in der Wirklichkeit jedenfalls kein Rückgang zu verzeichnen gewesen sei. Vielmehr sei von einer Stabilität auf relativ hohem Niveau zu sprechen.

Auch Jugend- und Studierendenorganisation, besonders die Studierendengewerkschaft UNEF und die Oberschüler/innen-Verbände UNL und FIDL, hatten am Samstag zur Teilnahme aufgerufen. Auch am 23. September hatten sie schon eigene Blöcke gestellt. In ihrem Falle war jedoch, jedenfalls in Paris, die Teilnahme vom vorletzten zum letzten Demodatum eher erkennbar rückläufig. Dies widerspiegelt ein politisches Problem, denn die jüngsten Generationen - in denen zum Teil die Rente als „weit entfernt liegendes“, abstraktes Problem aufgefasst wird (begleitet von Resignation: „Bis wir dran kommen, gibt es ohnehin keine Renten mehr“) - sind noch in ungenügendem Ausmaß gewinnen. Allerdings könnte ihre Beteiligung bei fortschreitender Politisierung der Proteste, im Sinne eines zunehmend klaren Anti-Sarkozy-Profils, künftig eher steigen: Nicolas Sarkozy ist in ziemlich breiten Kreisen der Jugend eine Hassfigur, und falls die Streiks ihn in naher Zukunft in Schwierigkeit bringen können, dann dürfte dies eher positive Aufnahme finden.

Auf eine weitere rein quantitative Ausdehnung und weitere Latschdemonstrationen (im französischen Gewerkschafterjargon: << manifestations saute-mouton >>, also Demos zum Schäfchenzählen) zu setzen, wäre in dieser Phase also kaum Erfolg versprechend gewesen. Früher oder später, und zwar eher beim nächsten denn beim übernächsten Mal, würde die Beteiligung nun wirklich definitiv zurückzugehen drohen. Diese Karte dürfte dann fürs Erste ausgereizt sein.

Transportwesen, Chemie/Ölraffinerien, Häfen

Am Montag dieser Woche machte die CGT-RATP, also die CGT bei den Pariser Transportbetrieben (Régie autonome des transports parisiens), den Anfang: Die stärkste Einzelgewerkschaft bei dem Bus-, Métro- und Vorortzug-Betreiber der Hauptstadtregion, die bei den letzten Personalratswahlen im Juni 2009 dort genau 34,18 % der Stimmen erhielt, rief zum unbefristeten Streik ab dem 12. Oktober auf. Ihrem Aufruf folgt auch FO, also der Ableger des verbalradikal auftretenden und politisch sehr schillernden Gewerkschaftsbunds ,Force Ouvrière’, bei den Transportbetrieben von Paris und Umland. Die linke Basisgewerkschaft SUD, die bei der RATP eher noch relativ schwach ist, und die ansonsten eher „unpolitisch“-moderate Gewerkschaft UNSA schlossen sich ebenfalls an. Am Mittwoch früh kam nun auch die, eher sozialdemokratisch ausgerichtete, CFDT bei der RATP ebenfalls noch hinzu. Dies macht bereits fünf Gewerkschaften. Bleibt nur noch vor allem die Frage übrig, wie sich die ,Autonomes’ (= nicht in einem Dachverband organisierte, eher berufsgruppenegoistische Einzelgewerkschaft) verhalten werden, die bei der RATP relativ stark sind.

Anders als im privaten Wirtschaftssektor müssen in den öffentlichen Diensten (seit einem denkwürdigen Transportstreik im Jahr 1963, der den Pariser Raum überraschend total lahmlegte) Streiks mindestens fünf Tage vorher angemeldet werden. Ab dem 12. Oktober wurden nun durch die CGT für den Zeitraum bis hin zum 30. Oktober solche obligatorischen „Streik-Vorwarnungen“ hinterlegt. Das bedeutet nicht, dass alle Tage in diesem Zeitraum auch durchgestreikt werden wird: Die ,Préavis de grève’ dienen dazu, jene Lohnabhängigen, die auch wirklich ihre Arbeit niederlegen, von vornherein rechtlich abzusichern. Allerdings verpflichtet ein neues Gesetz von 2008, das einen Notbetrieb oder ,Service minimum’ gewährleisten soll, nun auch die einzelnen Lohnabhängigen dazu, sich individuell streik- oder arbeitswillig zu erklären. Welche Auswirkungen das haben wird, bleibt noch abzuwarten. Am 23. September hatten nur 16 Prozent des Personals der RATP (laut Angaben der Direktion, die der Gewerkschaften liegen höher) gestreikt - wobei die Streikbeteiligung damals gegenüber dem 07. September in quasi allen öffentlichen Diensten rückläufig war, hingegen die Demobeteiligung vom 23. 09. im Allgemeinen als etwas besser gegenüber dem 07. September bewertet wird.

Bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF treffen sich am heutigen Tag die vier Gewerkschaften, die dort (nach dem Gesetz vom 20. August 2008 zur Neuregelung der „Repräsentativität“ = Tariffähigkeit der Gewerkschaften und den darauf folgenden Personalratswahlen im Frühjahr 2009) noch als „repräsentativ“ gelten. Vormals waren es einmal acht „tariffähige“ Gewerkschaften unter den Eisenbahner/inne/n gewesen. Unter den vieren (als da wären: die CGT, die CFDT, die radikalere SUD Rail und die allgemein eher „moderate“ UNSA) trat bis heute früh noch allein die linke Basisgewerkschaft SUD Rail für einen unbefristeten Streik in Form einer << grève reconductible >>, über deren Fortführung alle 24 Stunden in Vollversammlungen abgestimmt wird, ein. Doch seit heute um 12.30 Uhr steht nun fest, dass auch die CGT bei der SNCF als stärkste Einzelgewerkschaft ebenfalls dazu aufruft. Zu den weiteren Positionen der anderen Gewerkschaften bei den Eisenbahner/inne/n werden wir dann noch berichten.

In der Chemieindustrie, vor allem beim französischen Erdölkonzern TOTAL (mit Abstand stärkstes börseneingeführtes Unternehmen in Frankreich, Nummer Eins des Aktienindex CAC 40), wird die CGT ebenfalls zu unbefristeten Streiks ab dem kommenden Dienstag, den 12. Oktober aufrufen. Bei TOTAL war der Streik am „Aktionstag“ vom 23. September bereits in fünf von sechs Raffinerien auf dem französischen Staatsgebiet um jeweils 24 Stunden verlängert worden. Dafür hatten sich in Vollversammlungen je zwischen 50 und 80 % der jeweils dort beschäftigten Lohnabhängigen ausgesprochen. Dieses Mal trifft die Arbeitsniederlegung in den Raffinerien allerdings auch noch damit zusammen, dass in mehreren v.a. südfranzösischen Häfen seit nunmehr zehn Tagen gegen die „Reform“ des Status der Häfen (d.h. Öffnung für private Konkurrenz) gestreikt wird. Deswegen drohen den Anlagen nun deswegen Engpässe, da keine Versorgung über die Häfen mehr stattfindet ; vor allem der Erdölhafen von Fos-sus-Mer (wo der Rohstoff etwa aus Algerien eintrifft und der in der Nähe einer größeren Raffinerie liegt) ist dabei von Bedeutung. Bislang hat allein Korsika drohende Treibstoffknappheit an den Tankstellen gemeldet. Das könnte sich aber eventuell ab kommender Woche noch ändern.

In Marseille hingegen ist der Streik im Hafen (GPMM) nach 72 Stunden, während derer u.a. auch das Thema Renten„reform“ thematisiert wurde - die Lohnabhängigen fordern ein Recht auf frühere Verrentung wegen körperlicher Schwerarbeit - vorläufig eingestellt worden. Er soll dort aber nun an jedem Wochenende wieder aufgenommen werden.

Auch andernorts „gärt“ es. So hat die Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss v.a. der SUD-Gewerkschaften) am gestrigen Dienstag im westfranzösischen Poitiers eine ,Opération Escargot’ („Schnecken-Operation“, d.h. eine Aktion mit Verkehrsbeeinträchtigungen, -staus und Bummelstreik) veranstaltet.

Die Rolle der CGT

Bei der CGT scheint die Leitung unter Bernard Thibault ihren „radikaleren“ Regional- und Branchengewerkschaften die Zügel locker zu lassen. Thibault zeigte sich zwar in der vergangenen Woche selbst noch skeptisch gegenüber der Aussicht auf einen unbefristeten Streik und betrachtete ihn gar als potenzielles „Abenteurertum“; vor allem aber möchte er nicht den Kontakt zur CFDT beeinträchtigen. (Die rechteren Gewerkschaftsdachverbände CFDT - an der Spitze rechtssozialdemokratisch, CFTC - christlich, CFE-CGC - höhere Angestellte, sowie die Führung der „eher unpolitischen“ UNSA sind klar gegen die Perspektive eines unbefristeten Streiks, über dessen Fortführung an der Basis abgestimmt wird.)

Doch gleichzeitig droht die Leitung unter Thibault innerhalb der CGT überrannt zu werden. Dort pochen sowohl eher „altstalinistisch“ geführte Sektionen - wie der Branchenverband der CGT im Chemiesektor - als auch durch die nicht-stalinistische radikale Linke inzwischen stark beeinflusste Branchen, wie die CGT Metall, auf einen klaren Konfrontationskurs gegenüber der Regierung. Bernard Thibault möchte sich nun nicht „links überholen“ und dadurch desavouieren lassen.

Bernard Schmid, Paris, 06.10.2010


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