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Updated: 18.12.2012 15:51
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Einmal ist keinmal: Unten stehender Artikel, der einen netten (und realistischen) Eindruck auf die soziale Polarisierung im Zusammenhang mit dem französischen Referendum vom vorigen Sonntag vermittelt, stammt aus "Le Monde".

Die linksliberale Pariser Abendzeitung, ansonsten die mit Abstand seriöseste unter den überregionalen bürgerlichen Zeitungen, hat in den letzten Wochen vor der Abstimmung häufig manipulierend und offen tendenziös zugunsten des Ja-Lagers berichtet. Am Mittwoch vor der Abstimmung machte die Zeitung etwa ihre Titelseite mit der Überschrift auf: "Der Aufruf der europäischen Gewerkschaften für das Ja". Statt eines kollektiven Aufrufs auch nur einer einzigen (!) Organisation findet sich im Blattinneren aber lediglich ein Interview mit drei leitenden italienischen Gewerkschaftsfunktionären, die sich über die Vorzüge (und, sehr viel verhaltener, auch die Nachteile) des Verfassungsvertrags auslassen. Und ein kurzer, zusammenfassender Bericht über ein Gespräch, das ein "Le Monde"-Journalist mit dem Ver.di-Vorsitzenden führte, der "persönlich" auch mit Ja gestimmt hätte. Und am Donnerstag, drei Tage vor der Abstimmung, berichtete "Le Monde" auf einer vollen Zeitungsseite über die Wählerschaft der extremen Rechten. Der Artikel beginnt mit der Behauptung, "über 50 Prozent" der Nein-Stimmenden kämen aus dieser Ecke, was schon rein mathematisch blanker Unsinn war und ist.

Doch da "Le Monde" auch eine eher pluralistische Zeitung ist, finden sich ab und zu auch journalistische Perlen. Dieser Artikel ist eine davon.

Bernard Schmid


La Défense: Die Bitterkeit der "Entscheidungsträger", die Heiterkeit der "Leute von unten"

- Aus: "Le Monde" vom o1. 06. 2005. Titel und Zwischenüberschriften sind dem Original entnommen. -

Mit seinen Hochhaustürmen aus Glas und Stahl nimmt (Anm. B.S.: das in den 80er Jahren erbaute und vor den nordwestlichen Toren von Paris gelegene Banken- und Geschäftsviertel, Sitz zahlreicher Konzernzentralen) La Défense immer mehr Züge eines Manhattan-sur-Seine an, dort, wo früher Baracken, Werkstätten und Beizen standen. Weniger "inhuman", als man gemeinhin annimmt, aber schrecklich gegensatzreich. Wenn man sich an diesem Montag nach der Abstimmung zur Mittagessenszeit hierher begibt, dann erscheint es einem offenkundig, dass sich zwei Welten hier berühren ohne sich wirklich zu begegnen. So sehr, dass man versucht sein könnte, darin einen Mikrokosmos zu erblicken, der treffend die "beiden Frankreichs" verkörpert, die aus Anlass des Referendums über die EU-Verfassung so häufig unterschieden worden sind.

An der Spitze der Wolkenkratzer findet man die "Entscheidungsträger", deren ein reiches Panorama bietende Direktorenbüros man sich vorstellen kann, aber die man kaum trifft. Auf dem zentralen Platz des Bezirks ­ wo auf einer Riesenleinwand die Tennisspiele von Roland-Garros live übertragen werden ­ und im Inneren des Einkaufszentrums Quatre-Temps findet man "die Leute von unten", deren ununterbrochenes Kommen und Gehen (Anm.: die Comiczeichner) Tati oder Sempé inspiriert hätte. Vertikal oder horizontal sind ihre Welten. Nicht leicht, mit ihnen Kreuzworträtsel zu spielen.

Die Erstgenannten sind nicht sonderlich gesprächig. Bevor er in einem Restaurant verschwindet, das treffend auf den Namen Les Communautés (Anm.: ungefähr "Die geschlossene Gemeinschaft") getauft ist und wo das Mittagsmenü 53 Euro kostet, ist ein leitender Angestellter, Anfang/Mitte 50, dennoch geneigt anzumerken: "Dieses Non ist eine Katastrophe! Aber jetzt, wo das Übel einmal angerichtet ist, teile ich voll die Forderungen des Medef-Vorsitzenden. (Anm.: Der Kapitalistenverband Medef fordert jetzt eine starke "Beschleunigung der Reformen in Frankreich". Sein alsbald scheidender Chef ist der Baron Erneste-Antoine de Seillière, der demnächst an die Spitze des europäischen Arbeitgeberverbands Unice in Brüssel wechseln wird. Sein Nachfolger wird in den nächsten Tagen gewählt.) Man muss sich für einen komplexfreien (Anm.: d.h. ungehemmten) Wirtschaftsliberalismus entscheiden. Für mich verkörpert Sarkozy diesen politischen Willen, aber Chirac ist inkonsequent genug, Villepin (Anm.: als neuen Premierminister) auszuwählen."

Patrick, um die 40, Berater in einer Finanzgesellschaft, teilt diese Bitterkeit: "Ich bin seit 10 Jahren in einer pro-europäischen Bewegung aktiv, und mich packt die Wut wegen dieser verpassten Gelegenheit, das politische Europa aufzubauen. Mein einziger Trost ist, dass die Debatte leidenschaftlich geführt wurde."

Die Letztgenannten (Anm.: die "Leute von unten") sind gesprächiger und sogar, aus gegebenem Anlass, ausgesprochen heiter. "Ich fühle mich zutiefst als Europäer und ich habe Freunde in Italien, in Spanien und in Polen. Doch ich bin stolz auf mein Land, das sich getraut hat, Nein zu sagen und sich dabei der Dampfwalze der Medien und der selbsternannten Eliten zu widersetzen". Jean-Claude, ein 28jähriger Informatiker, ist Feuer und Flamme. "Gegenüber einer solchen Propaganda: Was für ein Triumph! Das Unerträglichste für mich sind diese ehemaligen Linksradikalen, die auf die andere Seite übergewechselt sind und die jetzt den Anspruch erheben, Lehren zu erteilen. Wenn man sie bei allem und jedem ’den Populismus`denunzieren hört, dann ahnt man, welchen Widerwillen sie gegenüber den Unterschichten hegen."

(Anm. B.S.: Mit den "ehemaligen Linksradikalen" dürften insbesondere Daniel Cohn-Bendit oder Toni Negri gemeint sein. Ersterer machte einen fanatisch "pro-europäischen und liberalen" Wahlkampf, zum Teil an der Seite des Christdemokraten François Bayrou. Letzterer kombinierte seine Zustimmung zum Verfassungsvertrag und zu einer stärkeren EU als "Gegenpol zu den USA" mit etwas verbalradikalem Beiwerk gegen "den Scheißnationalstaat", dem es jetzt an den Kragen gehe . Ende der Anm.)

Demokratischer Elan

"Heute morgen war die Atmosphäre eher verkrampft" vertraut Antoine an, 32 Jahre, Angestellter in einer großen Versicherungsgesellschaft. "Mehrere Vorgesetzte zogen eine lange Fresse, aber keiner hat verraten, wie er gestimmt hat. Ich habe meine Freude verborgen, aber an der Kaffeemaschine reagierten wir uns unter Kollegen ab, indem wir die Fernsehdebatten nachspielten. Wie schade, dass Giscard (Anm.: Ex-Präsident Valéry Giscard d`Estaing, der auch Vorsitzender des EU-Verfassungskonvents war) nicht aufgetaucht ist, schließlich hat er die heftigste Ohrfeige abbekommen!"

Eine Gruppe von fünf Angestellten einer Mobiltelefon-Gesellschaft belegt ihre Fähigkeit, abweichende Meinungen auszuhalten. Drei von ihnen sind Anhänger des Non, und zwei stimmten mit "Ja", scheinen aber im Endeffekt ganz zufrieden zu sein. "Wir sind alle für das Europa der Leute und alle dafür, dass die Sozialpolitik eine wichtigere Rolle spielen muss" fasst Chloé zusammen. "Also, rund um eine Pizza und bei deutschem Bier müsste man Mittel und Wege finden können, dahin zu gelangen. Diejenigen, die jetzt die Katastrophe beschwören, haben nichts verstanden von dem neuen demokratischen Elan, der soeben aufgekommen ist."

Pierre-Yves gibt seinerseits zu, ein bisschen verlegen zu sein: "Ich habe eine Schwäche für François Hollande und Ségolène Royal (Anm.: der sozialdemokratische Parteivorsitzende und seine Frau, die seit einem Jahr Regionalpräsidentin in Poitiers ist). Aber dieses Mal haben sie sich geirrt, und ich befürchte, dass es ihnen politisch schadet. Ich hatte vorher keinerlei Sympathie für Mélenchon und Emmanueli. (Anm. B.S.: der Erste ist ein ausgewiesener Parteilinker, der zweite ein ehemaliger Parteivorsitzender und eher "Traditionssozialdemokrat" aus dem Apparat. Beide setzten sich, auf getrennten Wegen, für die Ablehnung des Verfassungsvertrags ein und waren die Wortführer des "sozialistischen Non".) Aber sie haben mich beeindruckt, indem sie sich angestrengt und etwas getraut haben. (Anm.: Beiden drohte vor zwei Monaten der Ausschluss aus allen Parteiämtern, die Parteiführung musste dann aber auf Sanktionen verzichten.) Sogar Laurent Fabius ist mir nunmehr erträglich geworden. (Anm. B.S.: Fabius war Premierminister von 1984 bis 86 und Wirtschaftsminister von 2000 bis 02. Er gehört zur Parteirechten und ist eher ein Wirtschaftsliberaler, zudem galt er lange Zeit als arrogant und elitär, wenngleich er seit einiger Zeit intensiv an seinem Image arbeitet. Fabius war als einziger Parteirechter einer der Wortführer des "Non", wohl auch, um sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2007 zu platzieren, indem er sich auf diesem Wege von fast allen anderen Ex-Ministern seiner Partei unterschied. Für die ehemalige Ministerriege und die Parteirechte ist Fabius nunmehr die schlimmste Hassperson, als "Verräter", über den auch in linksliberalen Medien wie "Le Monde" offen hasserfüllt berichtet wird.) Dennoch sollten beim Parti Socialiste, dem ich nahe stehe, die alten Funktionäre die Führung abgeben. Der Mann der Situation ist Montebourg (Anm.: Arnaud Montebourg, ein smarter Anwalt aus der linken Mitte der Partei, der ebenfalls zum Non-Stimmen aufrief und noch jünger ist). Er zeigte sich fair und kämpft ernsthaft gegen die Korruption."

"Ich habe Besancenot entdeckt", fügt eine seiner jungen Kolleginnen hinzu. (Anm. B.S.: Olivier Besancenot, 30jähriger Briefträger und ehemaliger Präsidentschaftskandidat der undogmatisch-trotzkistischen LCR. Jüngst erkannte der Rechte Nicolas Sarkozy an, dass er im Feindeslager "einer der besten Redner für das Non war".) "Er kehrt ein bisschen zu sehr seine jugendliche Seite hervor, aber man kann sich in dem wiedererkennen, was er sagt. Und er kommt im Pullover ins Fernsehstudio, das gefällt mir. Ich habe nicht den Mumm gehabt, an der Bastille mit zu feiern (Anm. B.S.: am späten Sonntag abend, bei der Kundgebung der Anhänger des "Non von links"), aber mit dem Herzen war ich dabei. Ach ja, die Journalisten haben einen Begriff für die Non-Anhänger ausgegraben, der mir gefällt: Rebellen."

Robert Belleret


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