letzte Änderung am 19. Mai 2003

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Der 13. Mai und die Folgen :

STREIK GEGEN DIE RENTEN IN FRANKREICH

ÜBERSICHT:

 

Es klopft von innen am Sarg. “Lasst mich raus, ich habe meine Rentenbeiträge noch nicht fertig bezahlt!” Die Zeichnung hätte vielleicht den Preis für das beste Transparent verdient, das am Dienstag auf der Pariser Demonstration gegen die Regierungspläne zur Renten”reform” gezeigt wurde. Der Zuschlag für die beste Parole hingegen würde eindeutig an die streikenden LehrerInnen aus dem Bezirk Seine-Saint-Denis gehen: “Raffarin fliegt höher - höher als Juppé!” Andere hingegen zeigten sich noch mitleidvoll mit dem Premierminister: “Wenn wir Dich aus dem Amt geworfen haben, dann kriegst Du auch 75 Prozent des SMIC” - des gesetzlichen Mindestlohns -, war irgendwo in der langen Schlange der CGT auf ein Schild geschrieben. Dem amtierenden Premierminister wird damit ein ähnliches Schicksal angedroht wie seinem Amtsvorgänger Alain Juppé, der 1995 versucht hatte, eine Reihe sozialer Errungenschaften - das betraf unter anderem die Renten im öffentlichen Dienst und die Krankenversicherung - zurückzudrehen. Das führte zu der Streikwelle im November und Dezember 1995, die wiederum einer Reihe gesellschaftlicher Protestbewegungen - vo den “illegalen” Immigranten bis zu den Arbeitslosen - neuen Rückenwind gab. Nach kaum anderthalb Jahren im Amt war Juppé damals nahezu auf der ganzen Linie gescheitert. (Er versuchte die Flucht nach vorn in Neuwahlen, und fiel damit durch.) Nicht nur die Demonstrierenden denken an die Parallele zum damaligen Streikherbst. Eine kleine geflügelte Figur begleitet seit drei Wochen den französischen Regierungschef Jean-Pierre Raffarin täglich, jedenfalls in den Karikaturen der Pariser Abendzeitung Le Monde. Was wie ein Schutzengel aussieht, trägt die Gesichtszüge von Alain Juppé, und die Aufschrift “Das Gespenst von 1995”. Dieses sitzt den Bürgerlichen tatsächlich schwer im Nacken. Als der neogaullistische Sozialminister François Fillon am 24. April seinen Gesetzentwurf dem Fernsehpublikum präsentierte, hatte er darauf insistiert: “Wir sind nicht im Jahr 1995, denn jetzt haben wir keine Zeit mehr”. Durch Panikmache und das Schüren sozialer Ängste versuchte er, die Zuschauer zu beeindrucken: Ohne seine “Reform” seien die Rentenkasse bereits in zwei oder drei Jahren pleite, dann gebe es überhaupt nichts mehr zu fordern. Merkwürdig nur, dass zu keinem Zeitpunkt an eine Erhöhung der Arbeitgeber-Anteile an den Sozialbeiträgen gedacht wurde, wenn die Situation angeblich so dramatisch ist.

Kleiner Demobericht

Insgesamt fanden am 13. Mai frankreichweit 115 Demonstrationen statt. Daran nahmen zwischen einer Million (laut Polizeiangaben) und zwei Millionen (den Gewerkschaften zufolge) Menschen teil. Damit ist bereits das Mobilisierungsniveau des Streikherbsts 1995 erreicht. Lediglich einer der damaligen Demonstrationstage - der 12. Dezember 1995 - hatte, mit gut zwei Millionen Demonstrierenden landesweit, eine noch (etwas) stärkere Mobilisierung gesehen. An jenen 12. Dezember musste ich auch bereits am frühen Morgen denken. Beim Einschalten des Radios und dem Gang zur nahe liegenden Metrostation - der das Gehörte bestätigte - ereilten mich die gute und die schlechte Nachricht in einem: Meine Metro-Linie sei völlig lahmgelegt, hieß es zunächst, wie auch drei Viertel der anderen Linien. Im Anschluss wurde in der Metrostation per Lautsprecher verkündet, ein Zug verkehre alle 40 Minuten. Die Nachricht war gut, denn sie verhieß einen durchschlagenden Erfolg des Streiks. Gleichzeitig war sie “schlecht”, denn nun musste ich anders zur Demo kommen. Also mobilisierte ich mein uraltes Klapperfahrrad, das im weiteren Verlauf des Tages dann auch noch geklaut werden sollte. Der nächste Weg zum Demoauftakt führte mich dem Canal Saint-Martin im Pariser Osten entlang. Auf genau der gleichen Route hatte ich auch zu jener Demo auf dem Höhepunkt des Dezember 1995 gefunden, damals allerdings im Schneegestöber. Und wirklich war die Ambiance genau wie 1995: Zu Zehntausenden strömten die Teilnehmer in Menschentrauben von den Vorstädten aus zur Place de la Répulique - auf Fahrrädern, mit Bussen oder zu Fuß. Die erste Radfahrerin, die mich nach dem Weg zur Demo fragte, war vom Bezirk Seine-et-Marne aus losgefahren, der rund 20 Kilometer östlich von Paris beginnt.

Die größten Demos ereigneten sich in Paris mit mindestens 150.000 DemonstrantInnen (die Polizei spricht von 70.000 und die Gewerkschaften von 250.000) und in Marseille mit ebenfalls über 100.000 (Polizei : 45.000, Veranstalter: 200.000) , gefolgt von Toulouse, wo je nach Angaben zwischen 60.000 und 100.000 demonstrierten.

Von den Berufsgruppen her stachen in Paris vor allem zwei Gruppen von öffentlich Bediensteten durch ihre massive Teilnahme hervor: Die Krankenhausbediensteten in ihren weißen Kitteln, und die LehrerInnen. Daneben machten auch die Eisenbahner mit ihren üblichen roten Signalfackeln auf sich aufmerksam, allerdings ist ihre Teilnahme - im Vergleich zu 1995 - prozentual schwächer. Oder jedenfalls nehmen sie nicht die Spitze der Mobilisierungen ein. Das ist normal: Theoretisch sind die EisenbahnerInnen im Moment gar nicht von der “Reform” betroffen, denn sie verfügen über eine eigene spezifische Rentenkasse. Die Regierung betont derzeit händeringend, dass es heute gar nicht um die gesonderten Rentenkassen gehe - über diese werde “erst im Jahr 2004” diskutiert. Diese Ankündigung für das kommende Jahr allerdings verstanden die EisenbahnerInnen denn doch eher als Drohung, und es scheint, dass sie Recht daran tun... Daher trifft man in den Demos dennoch an vielen Stellen auf größere Pulks von Bahnbeschäftigten.

Dieses Mal war auch der privatwirtschaftliche Sektor auf der Straße, anders als im Herbst 1995, als man noch allgemein von der grève par procuration (dem Stellvertreter-Streik) sprach. So traf man in Paris auf Beschäftigte der Chemiefirma Aventis, der Mobiltelefon-Anbieter Bouygues und Ericsson, de Stahlfirma Thales, des Metallwaren- (darunter Telefon-)Herstellers Alcatel, auf Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft AXA und von Banken wie BNP-Paribas und Crédit Lyonnais... Auch die Drucker (und teilweise auch Journalisten) verschiedener Tageszeitungen, wie Le Monde oder der Sportzeitung L’Equipe, waren zu sehen. Infolge des Streiks war am Dienstag keine einzige Zeitung erschienen - und wenn, dann wäre sie nicht ausgeliefert worden.

Noch ein paar Worte zur gewerkschaftlichen Zusammensetzung: Diese steht auch dieses Mal tendenziell im Zeichen der CGT. In Paris dauerte allein der Vorbeizug der langen Schlange der CGT-Demonstranten 3 Stunden und 30 Minuten. Unter sie hatten sich einige Angehörige anderer Gewerkschaften gemischt, da viele Sektoren sich nach Départements - alle Bezirke des Pariser Umlands waren vertreten - aufgestellt hatten. Die CGT, die neben der CFDT einen der beiden größten Dachverbände darstellt, machte damit erneut rund 60 Prozent der Mobilisierung aus. Allerdings fehlte es ihren Blöcken mitunter ziemlich an Animation: Es ging oft schweigend zu, was auch mit daran gelegen haben mag, dass es in den ersten anderthalb Stunden - als die CGT vorbeizog - regnete. Daneben mobilisierte der populistische Dachverband FO etwa 4.000 (lautstarke) Demonstrierende, die sozialdemokratische CFDT rund 2.000 (davon entfiel der größere Teil auf die interne Linksopposition wie die Transportsektion FGTE, und die Mitte-Links-Opposition wie die Pariser Metallsektion und die Bildungs-Branchengewerkschaft SGEN-CFDT). Die reformistisch-unpolitische UNSA, die katholische CFTC und die Gewerkschaft CFE-CGC stellten jeweils nur wenige hundert Teilnehmer - damit waren diese theoretisch mächtigen Verbände kaum stärker vertreten als die (kleinere) anarcho-syndikalistische CNT. Auch die linken Basisgewerkschaften SUD hatten einige hundert Personen in ihrem Block, doch waren zahlreiche SUD-Mitglieder über viele verschiedene Demoblöcke verstreut - vor allem dort, wo es gemeinsame Streikausschüsse verschiedener Gewerkschaften gibt. Der mit Abstand aktivste, am stärkste animierte und motivierte, und am meisten Hoffnung ausstrahlende Demoblock - mit wohl an die 10.000 Mitlaufenden - aber zog zwischen der CFDT und den kleineren Gewerkschaften (UNSA, ...) mit: Es handelte sich um die LehrerInnen. Zuerst kamen die Blöcke der streikenden Lehrer, geordnet nach mehreren hundert Schulen aus dem Großraum Paris - im Altersdurchschnitt sehr jung, daneben sehr entschlossen und sehr organisiert. Bereits beim Auftakt auf der Place de la République glaubte man, einem Wettbewerb beizuwohnen, bei dem ein Rekord aufgestellt werden soll: “Im Streik seit dem 6. Mai “ war auf dem Rücken dieses Demonstranten zu lesen, “Im Streik seit dem 21. April” bei jener Lehrerin, häufig übertroffen von “Im Streik seit dem 27. März”. Danach kamen die verschiedenen Mitgliedsorganisationen des Lehrer-Dachverbands FSU (...die Mehrheit der FSU steht historisch eher der KP nahe, während eine starke Minderheit - die Strömung Ecole émancipée - weiter links steht).

 

Die politischen Parteien

Die politischen Parteien stellten keine eigenen Demoblöcke, aber die mit den Anliegen solidarischen Organisationen hatten Stände an den Rändern der Demoroute aufgebaut: die französische KP, die Grünen und die beiden trotzkistischen Parteien LCR und LO. Sie unterstützen die gewerkschaftlichen Forderungen im Wesentlichen; vor allem die Grünen und die LCR sind derzeit im öffentlichen Raum deutlich hörbar mit der Forderung nach Bewahrung der bzw. Rückkehr zur Beitragsdauer von 37,5 Jahren. Die KP äußert sich teilweise direkt - in ähnlichem Sinne -, teils indirekt durch Unterstützun der CGT. Hingegen geht LO ihrerseits stärker in der Streikbewegung auf, denn trotz ihrer theoretisch eher traditionalistisch-proletarischen Orientierung hat die Organisation faktisch eine führende Rolle im LehrerInnenstreik des Départements Seine-Saint-Denis gespielt. Dagegen war von der Sozialdemokratie auf der Straße nichts zu sehen. Ihre Abgeordneten versuchten am Dienstag, sich im Parlament als Opposition zum Regierungsentwurf zu profilieren - wo sie sich allerdings vom Sozialminister Fillon (übrigens zu Recht) die Frage vorhalten lassen mussten, was sie denn anders gemacht hatten. Tatsächlich gingen die Vorplanungen der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin bereits in eine ganz ähnliche Richtung, wie die jetzigen Vorhaben der Regierung (wenngleich man damals nicht so weit gegangen wäre). Erinnert sei daran, dass die ersten gewerkschaftlichen Demonstrationen zur Verteidigung der Rentenansprüche am 25. Januar 2001 stattfanden - unter der Jospin-Regierung. (Damals ging es bereits gegen in der Schublade lauernde Pläne der Regierung, aber vor allem auch unmittelbar gegen den Arbeitgeberverband MEDEF, der seinerzeit Druck machte und damit drohte, seine Beitragsabführungen in die Rentenkasse einzustellen. Heute hingegen stellt sich der MEDEF hauptsächlich hinter die Regierung.) Im Wahlkampf 2002 hatte die Sozialdemokratie mit einer Null-Aussage geglänzt: Präsidentschaftskandidat Jospin wollte ihre Vorstellungen zur Entwicklung des Rentensystems nicht auf den Tisch legen, sondern plädierte lediglich für eine “Konzertierung”, um dann “im ersten Halbjahr 2003” die Entscheidungen zu treffen. Das hat ihm nicht viel Vertrauen eingebracht - das Ergebnis hat Jospin ja dann im ersten Wahlgang gesehen... Vorige Woche hatte die sozialdemokratische Parlamentsfraktion nunmehr ihre eigenen Vorschläge zur Renten”reform” vorgelegt. In vielen Punkten weist er Verschlechterungen, die im Vorhaben der jetzigen Regierung enthalten sind, zurück. Doch es gibt ein großes Aber: Die derzeitigen Pläne der Sozialisten haben bereits als Voraussetzung integriert, dass die Beitragszeiten für alle Beschäftigten (also auch die öffentlich Bediensteten) auf 40 Jahre verlängert wurde. D.h. ein Teil der “Reform” - die zweite Stufe dessen, was die Neokonservativen zwischen 1993 und 1995 durchgezogen hatten - ist demnach bereits “geschluckt”. Das sehen freilich nicht alle derzeitige Akteure so.

 

Die “Reform”, die Forderungen der Gewerkschaften und die öffentliche Meinung

Es sei an die Eckpunkte der jetzigen “Reform” erinnert: Zuerst sollen bis 2008 die Beitragszeiten der öffentlich Bediensteten - sie müssen derzeit 37,5 Jahre in die Rentenkasse einzahlen - an jene der Privatbeschäftigten angeglichen. Für letztere hatte die konservative Regierung unter Edouard Balladur die obligatorische Beitragsdauer im Hochsommer 1993 per Regierungsdekret auf 40 Jahre angehoben. Doch damit bei weitem nicht genug. Vier Jahre später sollen bereits alle - ob privat oder öffentlich - Beschäftigten nunmehr 41 Jahre, und bis 2020 dann 42 Jahre lang einzahlen müssen. Zwar würde die öffentliche Meinung dem ersten Punkt sogar mehrheitlich zustimmen, da die Regierung lange genug den Neid auf die öffentlich Bediensteten (“Warum die, und nicht wir anderen Beschäftigten...”) geschürt hat. Isoliert genommen, wären - einer Libération-Umfrage zufolge, die am 12. Mai in der sozialliberalen Tageszeitung erschien - angeblich 78 Prozent der Befragten mit dieser Einzelmaßnahme einverstanden. Dennoch stößt das “Reform”paket auf breite Empörung, denn weitere Verschlechterungen für alle Beschäftigten kommen hinzu. ` Der neoliberale Neiddiskurs auf die angeblichen “Privilegierten” (das sind demnach die öffentlich Bediensteten) geht nicht auf: 60 Prozent laut Libération antworten positiv auf die Frage: “Haben Sie Sympathie, wenn Sie öffentlich Bedienstete sich für das derzeitige Rentensystem mobilisieren sehen?” Und nach Zahlen der Boulevardzeitung Le Parisien (ebenfalls vom12. Mai) bezeugen 64 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen “Solidarität oder Unterstützung” für die Demonstrationen vom 13. Mai. An letzteren nahmen freilich am Dienstag - anders als im Herbst 1995 - nicht allein (überwiegend) öffentlich Bedienstete teil, sondern dieses Mal war auch der privatwirtschaftliche Sektor deutlich vertreten.

Die linkeren Gewerkschaften versuchen unterdessen, in die Offensive zu kommen und das von der Regierung im Munde geführte “Gerechtigkeits”-Erfordernis umzudrehen. Angleichung zwischen öffentlichem und privatem Sektor ja - aber durch eine Rückkehr zur 37,5 jährigen Beitragszeit im Privatsektor: So lautet die offizielle Position von SUD (linke Basisgewerkschaften), FO (populistischer Dachverband) und FSU (Dachverband der Lehrergewerkschaften). Bei der größeren CGT hält man sich offiziell etwas bedeckter. Aber in den Demonstrationen ist die Forderung, gerade auch in den CGT-Blöcken - die am Dienstag in Paris erneut 60 Prozent der Teilnehmerzahlen ausmachten - , sehr massiv vertreten.

Ein “magisches Dreieck” (so ein Transparent) dominiert, in gut 100 Prozent aller Fälle, die gewerkschaftlichen Positionen, die auf Flugblättern, Schildern oder Transparenten vorgebracht werden: “37,5 - 60 - 75“. Die drei Zahlen bedeuten:

Oftmals wurden die Forderungen und Gewerkschaften noch, in Flug- und Faltblättern, durch spezifische Forderungen oder Analysen ergänzt. So widmete sich eine Erklärung der Pariser CGT-Sektion der Situation der Immigranten, die - aufgrund von (Lohn- u.a.) Diskriminierung und oftmals aufgrund von ungeschützter, da “illegaler” Beschäftigung - besonders benachteiligt sind, das Ganze verbunden mit spezifischen Forderungen (Aufhebung der Zugangsbeschränkungen für Immigranten in einigen öffentlichen Stellen, “Legalisierung” des Status der Sans papiers). Frauengruppen, wie etwa Femmes solidaires, legten ihrerseits auf Faltblättern die besondere Situation und Benachteiligung vieler Frauen dar. Diese weisen - trotz der Anerkennung von Erziehungsjahren bei der Berechnung des Rentenanspruchs - heute oft noch höhere “Fehlbeträge” für die Rentenkasse auf als männliche Beschäftigte. Im Durchschnitt sind die Renten von Frauen derzeit um 42 Prozent niedriger als die von männlichen Lohnabhängigen. (“Krankenschwester sucht reichen Ehemann für Rente”, war da auf einem, in der Demo mitgführten Schild zu lesen...) Solche Bemühungen um eine Erweiterung des Blicks auf gesamtgesellschaftliche Probleme können nur begrüßt werden.

 

Die eigentliche Crux der “Reform”

Die Erhöhung der Beitragsdauer ist dabei eher theoretischer Natur. Denn bereits heute haben beim derzeitigen Renten-Eintrittsalter nur 45 Prozent der Männer und 42 Prozent der Frauen einen Job. (Die Quelle ist jeglicher Sympathie mit gewerkschaftlichen Positionen absolut unverdächtig: Die Zahl ist dem reaktionären Wirtschaftsmagazin Valeurs actuelles, das vom Rüstungskonzern Dassault gesponsort ist, vom 2. Mai 03 entnommen.) Die anderen sind arbeitslos oder wurden in die Frührente geschickt, denn zahlreiche Unternehmen trennen sich systematisch von den Beschäftigten über 50, die als “zu teuer” und nicht hinreichend produktiv gelten. Die wirkliche Crux liegt daher woanders, nämlich bei der Höhe des Rentenanspruchs. Dieser sinkt natürlich mit fehlenden Beitragsjahren. Und selbst beim Erreichen der vollen Beitragsdauer will die Regierung das Rentenniveau senken. So sprach Minister Fillon anlässlich seines Fernsehauftritts von einem Richtwert, der bei zwei Dritteln des letzten Gehalts liegen solle. Heute beträgt die Rente noch durchschnittlich 78 Prozent davon.

Das eigentliche gesellschaftliche Projekt der Neokonservativen besteht darin, die Lohabhängigen - neben dem Einzahlen in die öffentlichen Rentenkassen - zu privater Absicherung zu zwingen. Dabei ist an betriebliche Spar- oder auch börsennotierte Rentenfonds gedacht. Die sozialen “Risiken” sollen in möglichst hohem Maße auf das, lohnabhängige, Individuum abgewälzt werde, und dieses soll dazu animiert werden, sich in der Gesellschaft wie ein Aktionär zu verhalten. Falls die rechte Regierung die jetzige Kraftprobe mit den Gewerkschaften und Beschäftigten besteht, dann ist bereits an die nächste Etappe gedacht: Die Teilprivatisierung der Krankenversicherung. Konservative Parlamentarier fordern sie bereits lautstark ein.

 

Nähere Aussichten

Wird die Rechtsregierung die derzeitige Kraftprobe mit Gewerkschaften und Beschäftigten bestehen, oder könnte ihr tatsächlich das “Schicksal der Juppé-Mannschaft” in den Jahren 1995 und 96 drohen? Das entscheidet sich in den kommenden 14 Tagen, denn am 28. Mai 2003 soll das Kabinett Raffarin den Gesetzentwurf zur “Reform” annehmen. Bis dahin werden die Gewerkschaften nicht untätig bleiben: In einigen Sektoren wurde dazu aufgerufen, nach der dienstäglichen Demo auch in den kommenden Tagen weiterzustreiken. Dazu rufen bei den Eisenbahnern die linke Basisgewerkschaft SUD und die populistische FO (nicht aber die größere CGT) auf, bei den Pariser Bus- und Metrofahrern hingegen ist es die mächtige CGT. Der Transportstreik im öffentlichen Nahverkehr des Pariser Großraums war am Mittwoch früh erfolgreich: Am Dienstag wurden 170 Kilometer Stau rund um die Hauptstadt gemeldet am Mittwoch vormittag waren es 330 Kilometer.

Vor allem in den Schulen wird seit Mittwoch auf breiter Front weitergestreikt - dort geht es nicht allein gegen die Renten”reform”, sondern auch um drastische Sparmaßnahmen im Bildungssektor. Die Lehrer könnten derzeit jene Rolle spielen, die 1995 den Eisenbahnern - die derzeit von der “Reform” (noch) nicht direkt betroffen sind, da sie über eine spezifische Rentenkasse verfügen, über die die Regierung erst 2004 beraten will - zukam: Jene eines, gut organisierten und entschlossenen, “Zugpferds” der sozialen Mobilisierung. Im Großraum Paris sind mehrere Dutzend Schulen bereits seit dem 27. März im Streik. Neben den sektoralen Streikbewegungen rufen die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst für kommenden Montag (19. Mai) zu einem neuen Ausstand auf. Und die CGT will am 25. Mai eine nationale Einheitsdemo mit hunderttausenden Teilnehmern in Paris organisieren, um den Druck kurz vor der Kabinettssitzung zu erhöhen. Dagegen wird die sozialdemokratische CFDT aller Voraussicht nach den Umfaller spielen. Bereits in den letzten Wochen hatte sie sich händeringend gegen einen Generalstreik gewehrt, und betont, es gehe ihr lediglich um “Verbesserungen” am Regierungsentwurf. Aber auch 1995 hatte die CFDT-Führung die damalige Regierung Juppé unterstützt, während ihre Basis mitstreikte. Dieses Mal hat der linke Flügel die CFDT schon größerenteils verlassen. Die soziale Mobilisierung aber geht an der CFDT vorbei.

Am heutigen Mittwoch abend (14. Mai) ab 18 Uhr wird Arbeits- und Sozialminister François Fillon die verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen empfangen. Danach wird man vielleicht schon bald klarer sehen.

Bernhard Schmid, Paris

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