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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich vor dem Referendum über den EU-Verfassungsvertrag:

Das gewerkschaftliche, das linke und das rechte "Nein"

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Den originellsten Beitrag zum französischen Referendum vom 29. Mai 2005 lieferte die (immer wieder bemerkenswerte) linksradikale Theater- und Bänkelsänger-Truppe "Jolie Môme". Diese macht im Moment Furore mit ihrem "Lied vom schwarzen Schaf" (La chanson du mouton noir) [mp3-Datei]. Der Titel ist eine ironische Anspielung auf den letzten Fernsehauftritt von Präsident Jacques Chirac am 3. Mai 05, bei dem dieser davor warnte, dass Frankreich, wenn es einsam und allein als Neinsager gegenüber dem Verfassungsvertrag dastehe, "das schwarze Schaf" des Kontinents sei. Chirac fügte als Publikumsbeschimpfung hinzu, dass die Franzosen sich immer über das Negative an ihrer Situation beklagen, "während die Amerikaner sich zu ihren Erfolgen gratulieren".

Mit ihrem Song will "Jolie Môme" allerdings gar nicht, voller dämlichem Nationalstolz, Frankreich allein gegen den Rest der Welt stehen sehen. Vielmehr heißt es: "Das schwarze Schaf ist nicht lieb: Es hat die Schnauze voll davon, Amen zu sagen. (...) Es braucht mindestens eine ganze Herde von schwarzen Schafen, um aus dem Wolf ein gutes Kotelett zu machen. (...) Es wird die Emanzipation der Schafe das Werk der Schafe selbst sein". Missverständnisse seien ausgeschlossen: Der Wolf, das ist die Macht des Kapitals...

Die Bühne vor dem Beginn der VeranstaltungAm 29. Mai stimmt Frankreich über den EU-Verfassungsvertrag ab, auf den sich die 28 Staatschefs der EU sowie der Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien und Türkei am 18. Juni vergangenen Jahres in Rom geeinigt hatten. Seit einigen Wochen zeichnet sich ab, dass am Ende eine Mehrheit für die Ablehnung des Vertragswerk stimmen könnte. Die zu erwartenden Gegenstimmen kommen freilich aus unterschiedlichen politischen Richtungen und haben verschiedene Motive

Opponenten sind Idioten

Am Anfang stand die Arroganz der Macht. Würden sie in einer Abstimmung über den Verfassungsvertrag der Europäischen Union befragt, dann könnten sie überhaupt nur zustimmen ­ davon war Präsident Jacques Chirac überzeugt. Denn "Europa", so dachte und denkt man an der Staatsspitze und in der Regierung, ist gleichbedeutend mit unausweichlichen wirtschaftlichen Sachzwängen, mit einer notwendigen "Rolle in der Welt", aber auch mit "Frieden seit 1945". Dagegen zu sein bedeutet demnach die Absage an eine politische Existenz "zwischen den Großmächten", an die Vernunft schlechthin wie auch an den Frieden und andere hehre Ideale.

Infostand. Hauptthema: Die islamische Bedrohung und "Nein zum EU Beitritt der Türkei"Kurzum: Die Frage der Annahme oder Ablehnung des Verfassungsvertrags zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, erschien Chirac als geeignetes Mittel, um sich ein Plebiszit zu gönnen. Das Ergebnis des Referendums, das unausweichlich positiv ausfallen müsse, würde auch als persönliche Bestätigung des Präsidenten erscheinen, der den Gegenstand zur Abstimmung vorlegte. Und so entschied Chirac sich im Sommer vorigen Jahres gegen eine parlamentarische Ratifizierung des Verfassungsvertrags und zugunsten eines Referendums. Eine solche Abstimmung war freilich auch von einem Teil der Linken verlangt worden, wo man die Bestimmungen des Verfassungsvertrags bis in die Reihen der Sozialistischen Partei hinein kritisch bewertete. Umso besser, dachte sich Jacques Chirac: Die Sozialisten gespalten zu sehen ­ das bleiben sie bis heute - und gleichzeitig den bürgerlich-konservativen Block hinter dem Vertragswerk vereint zu wissen, erschien ihm als eine umso angenehmere Aussicht.

Spanische Franco Anhänger an ihrem Verkaufsstand (an dem es vor allem Medallien und Schlüsselanhänger mit Franco-Portraits zu laufen gibtNicht einmal Argumente glaubten Chirac und seine Gefolgsleute zunächst nötig zu haben. Anlässlich eines Besuchs bei der jährlichen Landwirtschaftsmesse in Paris ­ einer der Lieblingsorte Chiracs, der seine Karriere dereinst in den 60er Jahren als Landwirtschaftsminister begann ­ fragte ein Mann im Februar den Präsidenten, was dieser denn dazu meine, falls er bei der Abstimmung mit Nein stimmen wolle. "Sie würden eine ordentliche Dummheit machen" lautete die einzige Antwort Chiracs. Opponenten sind Idioten: Die Replik des Staatschef machte alsbald Furore.

Doch dann kam alles anders. Ab März kippte die Mehrheit in den Umfragen, die bis dahin bei stabilen Zustimmungswerten um die 60 Prozent zum Verfassungsvertrag gelegen hatten. Dazu trug die von Linken und Gewerkschaftern aufgebrachte Debatte um die Dienstleistungs-Richtlinie des ehemaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein erheblich bei, woraufhin die umstrittene Richtlinie ­ von der ein erhebliches Sozialdumping befürchtet wurde ­ in Brüssel zunächst bis nach dem französischen Abstimmungstermin auf Eis gelegt wurde. Aber auch generell lässt sich sagen, dass die lauter werdenden Kritik aus dem gewerkschaftlichen Milieu an dem Vertragswerk erheblich zum Meinungsumschwung beitrug.

Die Rolle des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB)

FN Jugend mit orangenem T-Shirts (parteioffizielle Begründung: "Orange steht für das nationale Unabhängigkeitsstreben in der Ukraine" und Schildern, v.a. gegen den Beitritt der TürkeiZunächst hatte man seitens der Regierung geglaubt, zumindest auf das Stillhalten der Gewerkschaften hoffen zu dürfen. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), eine an die EU-Kommission angekoppelte Lobbyorganisation, hatte vorab den Entwurf des Verfassungsvertrags unterstützt. So hielt der neue Shooting Star der konservativen Rechten, der UMP-Parteichef und frühere Innenminister Nicolas Sarkozy, dem sozialistischen Gegner des Verfassungsvertrags Henri Emmanueli bei einer Fernsehdebatte im März entgegen: "Der EGB und 65 von 67 Gewerkschaften in Europa sind für die europäische Verfassung" (O-Ton). Gemeint war damit: Nur Sie und die französische CGT sind, aus unerfindlichen Gründen und Spinnerei, dagegen.

Nun stellt der EGB zwar nicht wirklich eine soziale Bewegung dar, sondern eher einen bürokratischen Wasserkopf mit etwa 40 Hauptamtlichen, der auf die Brüsseler Institutionen Einfluss zu nehmen versucht. Aber fast alle Gewerkschaften in Europa, die nicht von der Entwicklung abgehängt werden wollen, sind in ihm Mitglied oder streben eine Mitgliedschaft an. Die französische "postkommunistische" CGT ist, nach längeren Verhandlungen, 1999 aufgenommen worden. Deswegen wurde von ihr auch ein "konstruktives" Verhalten erwartet.

Europa im Zeichen des Teufels und des HalbmondesDoch dann rebellierten bedeutende Teile die Basis sowie der mittleren Funktionärsebene, die beim neuen sozialpartnerschaftlichen "Modernisierungs"-Kurs der Verbandsspitze unter Bernard Thibault nicht mitziehen will. Am 2. Februar 05 beschloss eine Verbandstagung der CGT mit einer Mehrheit von über 82 Prozent der Delegierten, zum "Nein" beim Referendum aufzurufen. Die "eigene" Führung unter Generalsekretär Thibault geißelte daraufhin wochenlang den Beschluss in allen bürgerlichen Medien als Vergewaltigung des Gewissens der "einfachen" Mitglieder, die nicht gefragt worden seien ­ als ob das bei anderen Entscheidungen eher der Fall wäre ­ und die von ihren Funktionären manipuliert würden. Dabei hatten viele der Delegierten bei der Abstimmung ein imperatives Mandat ihrer Branchen- oder Ortsverbände, und die Befürworter des Verfassungsvertrags kann man an der Basis der CGT mit der Lupe suchen.

Doch das tat der Entschlossenheit keinen Abbruch. Bei der europaweiten Gewerkschafterdemo gegen die Bolkestein-Richtlinie, Mitte März in Brüssel, reisten 15.000 bis 20.000 Demonstranten der CGT an, die zahllose Transparente gegen den Verfassungsvertrag trugen. Aber seitens der rechtssozialdemokratischen CFDT, die auf dem Papier fast ebenso viele Mitglieder zählt, waren nur 700 bis 1000 Demonstranten ­ oft hauptamtliche Funktionäre - angereist, die unter Pfiffen und Buhrufen mit Aufklebern zugunsten des Verfassungsvertrags marschierten. Den diesjährigen Demonstrationen zum 1. Mai blieb die CFDT, als zweitgrößter Gewerkschaftsbund in Frankreich, gleich ganz fern: Sie wolle keine "Veranstaltung für das Nein zur EU-Verfassung" unterstützen, lautete die offizielle Begründung. Damit hatte ihr pro-neoliberaler Funktionärskader die Stimmung in den Straßenumzügen wohl richtig eingeschätzt.    

Kippt die Tendenz?

Der Redner Le Pen (nachdem er, weil ihm die Temeratur deutlich zu schaffen machte, Jacke und Krawatte öffentlich abgelegt hat) - Der erste sitzende Teilnehmerlinks von Le Pen im Bild ist Nick Griffin, der Chef der britischen BNP (British National Party)Seit März lag das "Nein" in insgesamt dreißig aufeinander folgenden Umfragen zu den Abstimmungsabsichten in Führung, die Ablehnungswerte lagen wochenlang zwischen 52 und 58 Prozent der Befragten. Doch in den letzten zwei Wochen ist erneut ein gewisser Umschwung eingetreten: Seit Anfang Mai lässt sich das zu erwartende Ergebnis kaum noch mit Sicherheit voraussagen, in den Befragungen liegt mal die eine und mal die andere Position vorne.

Der leichte Aufschwung zugunsten der Befürworter hängt damit zusammen, dass die großen staatstragenden Parteien und vor allem die beiden konservativ-liberalen Formationen ­ die Regierungspartei UMP und die christdemokratische UDF ­ ihre Anhängerschaft zu mobilisieren beginnen. Auch die intensive Medienpropaganda spielt dabei eine Rolle. Selbst nach offiziellen Angaben der Fernseh-Aufsichtsbehörde CSA haben in den letzten Wochen die Unterstützer des Verfassungsvertrags drei Viertel der Sendezeit eingenommen. Und dabei zählt der "Hohe Fernsehrat" CSA die Auftritte von Präsident Chirac nicht einmal mit, da dieser nach den Spielregeln der Aufsichtsbehörden als "über den politischen Lagern stehend" gilt.

Die Anhänger des Vertragswerks stellen in ihrer Abstimmungskampagne vor allem darauf ab, dass der Vertragswerk eine Grundrechts-Charta enthalte und die Rechte des Europäischen Parlaments ausdehne. Dabei wird aber auch künftig das so genannte Europaparlament nicht das gesetzgeberische Initiativrecht besitzen: Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen können weiterhin nur vom Ministerrat und der EU-Kommission, als Vertreter der nationalen Regierungen und der Brüsseler Exekutive, vorgelegt werden. Von einer Demokratie auf Unionsebene kann damit weiterhin keine Rede sein. Die Grundrechts-Charta fällt in weiten Teilen hinter den UN-Menschenrechtspakt und andere internationale Bestimmungen zurück und beschränkt sich an vielen Stellen auf wohlklingende Allgemeinplätze. So hat die Unionsbürgerin künftig zwar ein "Recht auf Zugang zu Gesundheitseinrichtungen", was die Frage offen lässt, ob sie die Versorgung dann bezahlen kann oder nicht ­ aber eben kein materielles "Recht auf Gesundheit", das die Politik zu garantieren hätte. Ähnlich sieht es in anderen Bereichen aus.

Total beherschendes Thema: Nein zum EU-Beitritt der TürkeiWovon die Befürworter hingegen in der Öffentlichkeit kaum reden, ist das dritte Kapitel der EU-Verfassung, das aber das bei weitem umfangsreichste ist und rund 70 Prozent des Vertragswerks ausmacht. Dieses enthält eine große Anzahl konkreter Bestimmungen, die dazu dienen, eine konkrete Politik festzuschreiben, die man als marktradikalen Wirtschaftsliberalismus beschreiben kann. Das Wort "Wettbewerb", das 174 mal vorkommt, ist eines der mit Abstand am häufigsten im Text vorkommenden. Kritiker wie der frühere hohe EU-Beamte Yves Salesse, der heute dem linken 'Think Thank' namens Fondation Copernic (Kopernikus-Stiftung) angehört, monieren, eine Verfassung habe normalerweise nur den institutionellen Rahmen einer Politik abzustecken. Aber sie habe eben nicht dazu zu dienen, die Inhalte der Politik selbst vorzugeben, also etwa, ob es sich um eine sozialistische oder marktliberale Politik zu handeln habe. Dies erscheine um so gravierender, als die so genannte Verfassung zwar in Wirklichkeit nur ein zwischenstaatlicher Vertrag sei, der aber nur bei Einstimmigkeit der Mitgliedsländer wieder abgeändert werden kann - bei 25 oder mehr Staaten quasi ein Ding der Unmöglichkeit.

Damit fällt auch das Argument vieler Befürworter vor allem bei Sozialisten und Grünen in sich zusammen. Diese betonen in ihrem Abstimmungskampf häufig, der Verfassungsvertrag sei zwar in ihren Augen "nicht optimal", aber besser als keiner, und man könne ihn "als ersten Schritt betrachten, dessen Inhalt man später noch verbessern kann".   

Zwei unterschiedlich motivierte "Neins"

Die Kritik an dem Vertragswerk kommt aber in Wirklichkeit aus zwei unterschiedlichen Richtungen, denn es gibt ein "Nein von links" ebenso wie ein "Nein von rechts", dessen Vertreter sich auch in der Öffentlichkeit nicht vermischen und getrennte Kampagnen betreiben. Letzteres wird vor allem von dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen und dem katholischen Nationalkonservativen Graf Philippe de Villiers vertreten. Beiden "Neins" liegt eine jeweils spezifische Fragestellung zugrunde.

Total beherschendes Thema: Nein zum EU-Beitritt der Türkei - besonders beliebt: Die russische Puppe (Europa), aus der ein bärtiger Türke schlüpftDie Frage, die hinter dem linken Nein steht, ließe sich so formulieren: "Nach welcher gesellschaftlichen Logik soll das Zusammenleben von 400 Millionen oder mehr Menschen funktionieren?" Dabei wird eine Logik des Wettbewerbs und der Anpassung sozialer Standards "nach unten" strikt abgelehnt, dagegen wird "eine Angleichung sozialer und demokratischer Standards nach oben" gefordert. Eine solche Anpassung nach oben habe noch bei der Aufnahme Spaniens und Portugals in die damalige EG stattgefunden, heute dagegen werde von offizieller Seite eher eine Logik des neoliberalen Sozialdumpings favorisiert.

Dagegen lautet die Fragestellung der rechten Verfassungsgegner: "Wer darf zu Europa dazu gehören, und wer muss draußen bleiben?" Eine absolut zentrale Stellung nimmt dabei die Frage eines künftigen EU-Beitritts der Türkei ein. Dessen Ablehnung macht einen großen Teil der rechten Nein-Kampagne aus, während auf der Linken etwa die KP, die trotzkistisch-undogmatische LCR und der linke Flügel der Grünen explizit eine Aufnahme der Türkei befürworten, falls diese demokratische Mindeststandards erfülle und den Genozid der Armenier endlich anerkenne. Beim Aufmarsch von 3 000 Le Pen-Anhängern am 1. Mai dieses Jahres war eines der beliebtesten Motive etwa das der russischen Puppe ­ mit Aufschrift "Verfassung" und den EU-Sternen -, aus der ein bärtiger Türke zum Vorschein kommt, begleitet von der Aufschrift "Islam raus aus Europa". Le Pen warnte in seiner Ansprache vor einem "überdehnten, der Sowjetunion ähnlichen, kosmopolitischen, von seinen christlichen Wurzeln abgeschnittenen und vom Islam überschwemmten Europa". In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der bürgerliche Rechtskatholik Graf de Villiers, der zu 80 Prozent eine Kampagne gegen die Aufnahme der Türkei betreibt.

Die rechten Gegner der EU-Verfassung können das Rennen auf jeden Fall nicht entscheiden. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten gab es in Frankreich ein stabiles Wählerpotenzial von gut 15 Prozent, das sich Le Pen und de Villiers teilten ­ wenn der eine erstarkte, ging der Anteil des anderen zurück und umgekehrt. Dieses Potenzial existiert, kann die Abstimmung aber nicht entscheiden. Entschieden wird die Niederlage oder Annahme des Vertrages mit den linken und gewerkschaftlichen Stimmen. Doch die konservative Regierung und mehr noch die Sozialdemokratie versuchen derzeit, Le Pen als Schreckgespenst zu instrumentalisieren, um vor allem das Publikum mit höherem Bildungsniveau zur Zustimmung zu bewegen: Ein Sieg des Nein am 29. Mai stelle einen Erfolg des "Populismus" und damit Jean-Marie Le Pens dar, behaupten sie landauf landab.

Für den offiziellen Fernsehwahlkampf, in den 14 Tagen vor der Abstimmung, hat die Regierung vier Parteien als offzielle Vertreter des "Nein" ausgewählt. Drei von ihnen sind national-autoritäre bis rechtsextreme Parteien, allein die KP soll von links her für die Ablehnung werben. Letztere will allerdings die Hälfte ihrer Sendezeit mit anderen progressiven Vertragsgegnern teilen. Ob das Kalkül der Regierung aufgeht, wird sich erweisen müssen.

Und eine Korrektur:

Zerknirscht muss der Autor noch eine kleine Korrektur zum letzten Artikel über dieses Thema (http://www.labournet.de/internationales/fr/euroabstimm.html) nachtragen: Den Namen "Fuerza Nazionale" kann es schon allein deswegen nicht geben, weil es eine "Fuerza" zwar im Spanischen gibt, aber nicht im Italienischen... während umgekehrt das Wort "nazionale" nur im Italienischen so geschrieben wird, im Spanischen aber "nacional".

Die italienische rechtsextreme Partei, die mit einigen Repräsentanten beim  1. Mai-Aufmarsch der Le Pen-Anhängern in Paris anwesend war, heißt denn auch gar nicht so - sondern "Forza Nuova" (Neue Kraft). Sie organisiert den extremisten Flügel der italienischen (Alt-)Neofaschisten, der nicht mit in das Regierungsbündnis unter Silvio Berlusconi eintreten mochte, sondern in der Rechtsopposition verblieben ist.

AKTUELL IN BRÜSSEL: Die Debatte um die Arbeitszeits-Richtlinie der EU

Vor dem französischen Referendum ziert man sich ein bisschen

Es ist kein Geheimnis (für diejenigen, die es wissen wollen) dass mehrere Entwürfe für wirtschaftsliberale und antisoziale EU-Richtlinien derzeit in den Schubladen schlummern ­ und darauf warten, nach dem französischen und dem niederländischen Referendum ab Juni hervorgeholt zu werden. Die französische KP-nahe Tageszeitung "L`Humanité" vom gestrigen Donnerstag zitiert ihrer sechs. Es geht um die Privatisierung bzw. Wettbewerbs-Öffnung des Personentransports (nach der bereits begonnenen beim Gütertransport); um jene der Häfen; um das Patentrecht bei Computerprogrammen, wo den kostenlosen Programmen à la Linux der Garaus bereitet werden könnte... Und natürlich wartet die nur vorläufig zurückgenommene Dienstleistungs-Richtlinie des Herrn Frits Bolkestein darauf, nach den bevorstehenden Abstimmungen wieder auf den Tisch gelegt zu werden.

Dagegen debattierte das Europäische "Parlament" in Brüssel (in Anführungszeichen deswegen, weil es keinerlei eigenes Gesetzgebungs-Initiativrecht besitzt, was ein Parlament normalerweise ausmacht) am Mittwoch, 11. Mai über die Arbeitszeit-Richtlinie.

Es handelt sich um eine Überarbeitung der seit 1993 auf EU-Ebene geltenden Bestimmungen. Diese sehen bisher vor, dass die Arbeitszeit (sofern keine günstigeren nationalen Bestimmungen bestehen) nicht die durchschnittliche Dauer von 48 Stunden überschreiten darf. Dabei soll die Durchschnittsdauer über einen Zeitraum von 4 Monaten als Bewertungsgrundlage genommen werden. Gleichzeitig sieht das bisher geltende EU-Recht einen "opt-out" genannten Mechanismus vor: Demnach können abhängig Beschäftigte in ihrem Einzelarbeitsvertrag individuell auf die Einhaltung der Arbeitszeit-Obergrenze "verzichten". Das ist in mehreren EU-Ländern (darunter Deutschland, Frankreich und Spanien) derzeit im öffentlichen Krankenhauswesen vielfach der Fall.

Insbesondere Großbritannien wendet diesen "Opt out"-Mechanismus exzessiv an. In vielen Sektoren haben die Lohnabhängigen natürlich nicht die Wahl, sofern sie einen Arbeitsplatz "erhalten" bzw. nicht verlieren wollen, und so arbeiten manche britischen Lohnabhängigen bis zu 70 Stunden pro Woche. Dies ist auf der Insel heute vor allem an den beiden entgegen gesetzten Enden des Lohnabhängigen-Spektrums der Fall: Einerseits bei den Brokern der Londoner City und den hoch bezahlten Angestellten von Marketing- und Werbeagenturen, andererseits bei Arbeitern auf dem Bau, Hotelangestellten und Saisonarbeitern in der Landwirtschaft. Insgesamt sind in Großbritannien 4 Millionen Menschen vom "Opt-out" betroffen.

Das Votum vom Mittwoch

Die Neuregelung, über die das Europa"parlament" am Mittwoch dieser Woche abzustimmen hatte, wirkt in zweierlei Richtungen. Einerseits wird die Referenzperiode, für welche die durchschnittliche Wochenarbeitszeit berechnet werden soll, von derzeit 4 Monaten auf künftig 12 Monate ausgedehnt. Damit muss die Obergrenze von 48 Stunden nur noch "auf¹s Jahr" erreicht werden, was den Arbeitgebern bereits eine weitgehende Flexibilität im Umgang mit "ihren" Arbeitskräften ermöglicht.

Andererseits soll, so lautete der von dem spanischen Sozialisten Alejandro Cercas vorgeschlagene "Kompromiss", der Opt out-Mechanismus bis zum 1. Januar 2010 verschwinden. Bis dahin wird eine neue Obergrenze festgelegt, die bei 65 Stunden Wochenarbeitszeit fixiert ist (für jene Beschäftigten, die von den "individuellen Ausnahmen" nach dem Opt out-Prinzip betroffen sind). Und schließlich enthält das "Kompromisspaket" auch die Einigung über die Bezahlung bon so genanntem Bereitschaftsdienst; das betrifft beispielsweise Ärzte, Krankenschwestern und manche Nachtwächter, die während dieser Periode zwar im Prinzip nicht aktiv arbeiten, aber jederzeit herbeigerufen oder wachgeklingelt werden können. Dieser Bereitschaftsdienst soll zwar künftig im Prinzip als Arbeitszeit gelten und auch bezahlt werden, aber nach einem Umrechnungsmodus, bei dem jedem EU-Land freigestellt ist, ob es einen zwölfstündigen Bereitschaftsdienst "als 10 Stunden, 5 Stunden oder auch 2 Stunden Arbeitszeit", so die französische sozialistische EU-Parlamentarierin Françoise Castex.

Dieses "Kompromisspaket" erhielt am Mittwoch eine Mehrheit von 378 Stimmen gegen 262. Es ist offenkundig, dass das Zustandekommen eines solchen Mehrheitsblocks zumindest zum Teil dem Herannahen des französischen Referendums zu verdanken ist: Aus Frankreich stimmten ihm nicht nur Sozialisten und Grüne zu, sondern auch die christdemokratische UDF, die konservative Regierungspartei UMP und der rechtsextreme Front National. So schien vorübergehend fast eitel Einigkeit zu herrschen ­ mal sehen, wie es nach dem Referendum darum stehen wird... Dagegen stimmte die Mehrheit der Europäischen Vereinigten Linken, in deren Fraktion auch die französische KP sitzt, gegen den "Kompromiss", weil dieser noch zu viel anti-soziale Bestimmungen enthalte. (Der Fraktionsvorsitzende, der französische Parteikommunist Francis Wurtz, enthielt sich dagegen der Stimme.)

Auch die 19 britischen Labour-Abgeordneten im Europa"parlament" stimmten für den "Kompromiss". Dagegen hat die Regierung unter Premierminister Tony Blair angekündigt, europaweit eine Kampagne gegen ihn führen zu wollen, um ihn zu torpedieren und um die "Opt out"-Regelung beibehalten zu können. Unter den Ländern, die auf EU-Ebene mit der britischen Position übereinstimmen, nennt die Pariser Abendzeitung "Le Monde" in dieser Reihenfolge: "Deutschland (!!), Polen, aber auch die Slowakei, Lettland und Malta".

Welche Konsequenzen?

Welche Folgen wird das Votum vom Mittwoch haben? Der Beschluss ist auf jeden Fall nicht bindend. Die Änderungen, die das Europa"parlament" an der Vorlage der Kommission (also der Brüsseler Exekutive, des Technokratenorgans, das die EU anführt) vorgenommen hat, können vom Ministerrat wieder gekippt werden. Nun steht die Ausweitung der Referenzperiode von 4 auf 12 Monate im Entwurf der Kommission, dagegen ist die Streichung des "Opt out"-Mechanismus vom EP vorgenommen worden. Der amtierende EU-Kommissar für Arbeit und Beschäftigung, der Tscheche Wladimir Spidla, hat bereits angekündigt, dass die Brüsseler Kommission ihrerseits diese Initiative des Parlaments ­ die Streichung des "Opt out" ­ nicht akzpetieren wird.

Nur, wenn der Ministerrat (als Vertretung der nationalen Regierungen) die Änderung durch das Europa"parlament" einstimmig unterstützt, gilt diese als angenommen. Widrigenfalls wird die Änderung gestrichen, kann aber in einer zweiten Lesung nochmals vom Europäischen "Parlament" angenommen werden, woraufhin sie vor einen Vermittlungsausschuss kommt. Im zweiten Anlauf trifft der Änderungsantrag des EP allerdings auf eine höhere Hürde: Die absolute Mehrheit der abstimmenden Mitglieder muss mit "Ja" votieren (während in der ersten Lesung die "Ja"-Stimmen nur die Zahl der "Nein"-Stimmen überwiegen muss, ungeachtet der Enthaltungen und eventuellen ungültigen Stimmen).

Befürworter der EU-Verfassung unter den französischen Sozialdemokraten behaupten derzeit, sie vertrauten darauf, dass eine solche Mehrheit auch im zweiten Anlauf erreicht werde. Tatsächlich stimmten 378 Mitglieder des EP in erster Lesung dem "Kompromiss" zu, und 367 müssten es im zweiten Anlauf sein. Nur: Das zweite Mal wird nach dem Referendum abgestimmt werden. Ob die Mehrheitsverhältnisse dann noch so aussehen wie vorgestern... Abwarten und Wetten abschließen?

Bernard Schmid, Paris, 12. Mai 2005

Eine Kurzfassung erschien in "Jungle World" am 11. Mai 2005.


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