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Updated: 18.12.2012 15:51
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Ganz gewöhnlicher Kapitalismus oder: Was ist an Chinas Marktwirtschaft »sozialistisch«?

Antworten auf Fragen der express-Redaktion von Thomas Sablowski*

I. Mit welchen Fragen bist Du nach China gereist? Wo lagen die Schwerpunkte Deines Interesses?

Mich haben unter anderem folgende Fragen interessiert:

  1. Inwieweit ist China ein kapitalistisches Land? Welches Potential gibt es für eine sozialistische Entwicklung heute noch in der Kommunistischen Partei und in der Gesellschaft insgesamt?
  2. Die Entwicklung der letzten Jahre war durch eine zunehmende Exportabhängigkeit gekennzeichnet. Wie sind die Aussichten für den Übergang von der exportorientierten Entwicklung zu einer stärker binnenmarktzentrierten Entwicklung? Ist so etwas wie eine nachholende fordistische Entwicklung möglich, die das ganze Land erfasst und sich nicht nur auf eine mehr oder minder breite Mittelklasse in den Städten beschränkt?
  3. Wie sind die Aussichten für die Entwicklung einer unabhängigen Arbeiterbewegung? Gibt es Ansätze für die Entstehung dauerhafter Organisationen? Gibt es Ansätze für die Vernetzung von Kämpfen über einzelne Betriebe bzw. einzelne Orte hinaus? Können sich die Gewerkschaften von Staatsapparaten hin zu »echten« Interessenvertretungen der Lohnabhängigen entwickeln?
  4. Welche Widersprüche bringt die gegenwärtige Entwicklung mit sich und an welchen Widersprüchen entzünden sich Kämpfe?
  5. Welche Oppositionskräfte gibt es? Gibt es Ansätze einer linken Opposition?

II. Welche Antworten hast Du durch die Reise, die Gespräche und Besichtigungen erhalten?

Mein Bild von China ist erheblich konkreter geworden, und ich habe im Einzelnen sehr viel gelernt. Generell stellt sich natürlich das Problem, inwieweit aus den Reiseeindrücken allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden können. In meiner Einschätzung, dass China heute ein kapitalistisches Land ist, bin ich mir jetzt aber noch sicherer als zuvor. Es handelt sich auch nicht um »Staatskapitalismus«, was immer das sein mag, sondern um ganz gewöhnlichen Kapitalismus. Die von der Kommunistischen Partei vorgenommene Selbstzuschreibung der »sozialistischen Marktwirtschaft« halte ich für ideologischen Humbug. Die Arbeitskraft ist in China weitestgehend Ware und wird zum Teil auf brutalste Weise ausgebeutet. Was an dieser Marktwirtschaft »sozialistisch« sein soll, bleibt schleierhaft. Was die Potentiale für eine sozialistische Entwicklung in der Kommunistischen Partei und in der Gesellschaft angeht, so bin ich jetzt noch skeptischer, als ich es vorher schon war. Mir scheint, dass sich die Konflikte innerhalb der Kommunistischen Partei im Wesentlichen zwischen einer »neoliberalen« und einer »sozialdemokratischen« Tendenz abspielen. Es gibt wohl noch eine kleine maoistische, traditionsorientierte Strömung, die aber marginal ist und deren Vertreter nach und nach wegsterben. Von einer modernen sozialistischen Linken innerhalb oder außerhalb der Partei konnte ich bisher nichts wahrnehmen.

Es gibt im Moment keine Anzeichen, dass die Tendenz zu einer zunehmenden Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft umgekehrt werden könnte. Die Kaufkraft der Mehrheit der Bevölkerung bleibt sehr beschränkt. Zwar hat die Regierung ja angeblich das Problem der wachsenden sozialen Polarisierung zwischen Stadt und Land erkannt und einige Gegenmaßnahmen ergriffen, doch bezweifle ich, dass diese Maßnahmen die allgemeinen Trends umkehren. Einkommensgewinne für die Arbeiter hängen davon ab, ob sich unabhängige Gewerkschaften entwickeln, ob die Arbeiter erfolgreich für höhere Löhne streiken können usw. Danach sieht es im Moment nicht aus. Trotzdem beruht das chinesische Wirtschaftswachstum sicher nicht alleine auf dem Export. Alleine das Konsumpotential der städtischen Mittelklasse ist bereits gewaltig. Hinzu kommt die staatliche Nachfrage, die sich vor allem auf den Aufbau der Infrastruktur richtet (Straßenbau etc.). Zusammengenommen verleiht das dem Akkumulationsregime doch einige Stabilität.

Versuche von Arbeitern und Bauern, ihre Interessen zu artikulieren, stoßen auf äußerste Schwierigkeiten. Es gibt zwar täglich irgendwo kleine Streiks und Arbeitskämpfe, doch bleiben die bisher vereinzelt und lokal. Jeder Ansatz zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften wurde bisher im Keim erstickt. In der Provinz Guangdong gibt es vielleicht ein Dutzend NGOs, die sich der Interessen der Arbeiter annehmen und die am Rande der Legalität arbeiten. Die Nähe zu Hongkong und die Unterstützung durch NGOs in Hongkong spielt hier eine wichtige Rolle. In anderen Provinzen sieht es mit Versuchen der Organisierung noch wesentlich düsterer aus als in der Provinz Guangdong.

III. Welche Fragen hast Du aus China wieder mitgenommen? Sind neue Fragen hinzu gekommen? Welche Widersprüche konntest/musstest Du wahrnehmen?

Alle meine Fragen können nicht ein für alle mal beantwortet werden, sondern bleiben aktuell, da es sich um einen offenen historischen Prozess handelt.

IV. Wie würdest Du die Situation der staatlichen chinesischen Gewerkschaft beurteilen, a) in Bezug auf die Wanderarbeiter, b) in Bezug auf die Rahmenbedingungen und die Form der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und c) in Bezug auf ihre Rolle im Verhältnis Partei, Gewerkschaft, Kapital?

Die staatliche chinesische Gewerkschaft ist ja vom Gewerkschaftsgesetz her auf eine Vermittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit festgelegt. In gewisser Weise erinnert mich das an das deutsche Betriebsverfassungsgesetz und die widersprüchliche Aufgabenbestimmung der Betriebsräte. Sicherlich lassen die widersprüchlichen Bestimmungen des chinesischen Gewerkschaftsgesetzes einigen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und Selbstverständnisse von Akteuren in den Gewerkschaften. Wir haben mit Gewerkschaftern gesprochen, die sich eher als Interessenvertreter der Lohnabhängigen verstanden, und wir haben mit anderen gesprochen, die eher ein staatstragendes Selbstverständnis hatten. Ich wage jedoch die These, dass die staatliche Gewerkschaft sich nicht von selbst zu einer »wirklichen« Gewerkschaft entwickeln wird. Der Spielraum der Gewerkschaft hängt davon ab, wieviel Spielraum ihr die Partei- und Staatsführung gibt. Und dies hängt wiederum davon ab, wie stark der Druck von unten ist. In dem Maße, in dem sich Arbeiterkämpfe und Organisationsversuche von unten entwickeln, wird die Partei- und Staatsführung sicherlich versuchen, die staatliche Gewerkschaft in Richtung einer »wirklichen« Gewerkschaft zu entwickeln, um den Druck von unten zu absorbieren. Ohne Druck von unten wird sich jedoch gar nichts verändern.

Eine Vermittlerrolle in Arbeitskonflikten kann die Gewerkschaft auch nur dort spielen, wo sie präsent ist, d.h. in den staatlichen Unternehmen sowie in ehemals staatlichen Unternehmen, in denen sie sich gehalten hat. In neuen privaten Unternehmen ist die Gewerkschaft in der Regel nicht präsent.

Die Lage der Wanderarbeiter bleibt geprägt durch das Hukou-System, das sie an dem Ort, an dem sie arbeiten, von vornherein zu Bürgern zweiter Klasse macht. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaft in den meisten Betrieben, in denen die Wanderarbeiter arbeiten, gar nicht präsent ist. Für mich ist nicht klar, inwieweit die Gewerkschaft überhaupt ein Interesse daran hat, Wanderarbeiter zu organisieren und ihre Interessen zu vertreten.

V. Was würdest Du als aktuelle Hauptaufgaben bzw. Probleme der Gewerkschaften bezeichnen?

Meine Gegenfrage ist: Welche Gewerkschaften? Das Hauptproblem in China besteht darin, dass es Gewerkschaften im Sinne unabhängiger Interessenvertretungen der Lohnabhängigen nicht gibt. Die Hauptaufgabe in China besteht darin, die Koalitionsfreiheit, das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen überhaupt erst durchzusetzen. Die offiziellen Gewerkschaften sind nach wie vor Staatsapparate und nur dem Namen nach Gewerkschaften.

VI. Wie schätzt Du die Situation in den ländlichen Regionen bzw. Provinzen bzw. die Perspektiven für deren Entwicklung ein? Wie würdest Du die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Konzepte zur ländlichen Entwicklung beurteilen?

Wir haben einige Dörfer gesehen, aber es bleibt unklar, inwieweit die Situation dort für die Lage auf dem Lande insgesamt typisch ist. In den Dörfern, die wir gesehen haben, waren Fortschritte unverkennbar. Mir scheint, dass die wenigsten Haushalte auf dem Lande heute noch ausschließlich von der Landwirtschaft leben. Vielmehr werden Einkommen aus verschiedenen Quellen gepoolt. Die Haushalte auf dem Lande sind in der Regel halbproletarische Haushalte. Der Aufbau der Straßeninfrastruktur treibt den Proletarisierungsprozess rasch voran. Mit dem Hukou-System wird nach wie vor versucht, die Landflucht einzudämmen. Unklar bleibt für mich, inwieweit eine Industrialisierung auf dem Lande die Landflucht begrenzen und zu einer ausgeglicheneren Regionalentwicklung führen kann. Ich habe keine Vorstellung vom Potential der township and village enterprises (TVI), von denen oft die Rede ist. Eine richtige Auseinandersetzung um unterschiedliche Konzepte zur ländlichen Entwicklung konnte ich nicht wahrnehmen.

VII. Welche Bedeutung hat die Geschlechterfrage vor dem Hintergrund der behaupteten Gleichberechtigung in Bezug auf die Wanderarbeiterproblematik bzw. der ländlichen Entwicklung? Welches Konfliktpotential würdest Du hier sehen?

Ich denke, dass die Arbeit in der Stadt – trotz aller Ausbeutung und Unterdrückung – auch die Erfahrung möglicher Freiheit einschließt. Die WanderarbeiterInnen lernen andere Lebensverhältnisse kennen, erfahren, dass es Alternativen zu der Lebensweise auf dem Lande gibt. Viele werden nicht mehr aufs Land zu-rückkehren wollen, sondern in den Städten bleiben. Dies gilt sicher insbesondere für Frauen, die mit der Wanderarbeit auch ein Stück weit aus patriarchalischen Verhältnissen freigesetzt werden. China Daily meldete am 9. Oktober 2007, dass es in Guangzhou 300000 weibliche Singles über 30 Jahren gibt, aber nur 200000 männliche Singles. In dem Artikel wurde gemutmaßt, dass die Frauen zu beschäftigt und zu wählerisch geworden seien. Dies könnte ein Hinweis auf die aufbrechenden Widersprüche sein.

VIII. Welche Auswirkungen werden Deines Erachtens Entwicklungen in China auf die (Weiter-) Entwicklung des Kapitalismus haben?

Die »sozialistische Marktwirtschaft« in China erweist sich als Rettung für den globalen Kapitalismus – auf Jahrzehnte hinaus. Die Überakkumulation in den kapitalistischen Zentren würde sich noch viel gravierender darstellen, gäbe es China nicht. Der Kapitalexport nach China führt zu einer Steigerung der durchschnittlichen Profitrate, weil dort zumindest teilweise die gleichen Arbeitsprozesse wie in den Zentren, aber mit wesentlich höherem Ausbeutungsgrad stattfinden können. Überdies ist China auch als Absatzmarkt höchst bedeutsam. Alleine die heute existierende chinesische Mittelklasse mit mehreren hundert Millionen Menschen stellt einen Markt dar, der vom Potential her mit dem der USA oder der EU vergleichbar ist. Die Formierung einer Arbeiterbewegung in China und die Durchsetzung höherer Löhne könnte die Funktion Chinas als Absatzmarkt sogar noch verstärken. Andererseits verschärft sich das Problem der weltweit existierenden Überkapazitäten gerade durch den gewaltigen Investitionsboom in China weiter. Chinas Exportabhängigkeit ist in den letzten Jahren weiter angestiegen, d.h. die chinesische Industrie ist zunehmend auf die Absatzmärkte in den USA und den anderen Zentren angewiesen. Insofern werden die existierenden Widersprüche durch die chinesische Entwicklung auf höherer Stufenleiter reproduziert. Wenn die chinesischen Finanzmärkte weiter liberalisiert werden, können wir mit wachsenden Instabilitäten rechnen.

19. Oktober 2007

* Thomas Sablowski ist Sozialwissenschaftler und lebt in Frankfurt a.M.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/07

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