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[Rezension] Deutsche Linke für Xi Jinping? Neuerscheinungen zu China

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIm Zuge der von der Trump-Regierung vom Zaun gebrochenen Welthandelskonfrontation USA-China gibt es bei einigen linken Autoren in Deutschland eine fast schon »klassische« Tendenz, sich auf die weltpolitisch »richtige« Seite zu stellen – und da dies auf keinen Fall die wie eh und je imperialistische und unter Trump immer unverfroren nationalegoistischer auftretende kapitalistische Hauptmacht USA sein kann, scheint sich die logische Notwendigkeit zu ergeben, geopolitisch und auch ideologisch für China Partei zu ergreifen. Zwei gerade erschienene Bücher von Jörg Kronauer und Werner Rügemer folgen mehr oder weniger dieser Logik. Sie erkennen Chinas Wandel zum Kapitalismus und unterscheiden sich somit von Strömungen in der deutschen Linken, die Chinas Entwicklung der letzten Jahrzehnte als ungebrochen sozialistisch einstufen. Das Muster ist wahrlich nicht neu, sondern aus der kommunistischen Weltbewegung, verstärkt seit dem zwischen Maoisten und Moskautreuen/»Realsozialisten« in den 50er Jahren aufgebrochenen Schisma, äußerst vertraut. (…) Zwar wird das Land weiterhin von einer sich kommunistisch nennenden Parteidiktatur beherrscht, die alle Staatsapparate und gesellschaftlichen »Massenorganisationen«, darunter die Gewerkschaften, fest im Griff hat, aber es hat sich eine Klassengesellschaft mit extremen Ungleichheiten herausgebildet, deren Profiteure, die neue Bourgeoisie, Teil des Parteiführungsapparats sind. (…) Jenseits der Logik des kleineren Übels, der Kronauer und Rügemer folgen und nach dem der gezähmte Sino-Kapitalismus im Vergleich mit dem entfesselten US-geführten Kapitalismus des Westens vorzuziehen sei, sollte deshalb die weitergehende Frage nach Kapitalismus, Patriarchat und Umweltzerstörung überwindenden Visionen einer emanzipativen Gesellschaft gestellt werden.“ Buchbesprechung von Bodo Zeuner und Ingeborg Wick erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 8-9/2019:

Deutsche Linke für Xi Jinping?

Neuerscheinungen zu China – Besprechung von Bodo Zeuner und Ingeborg Wick*

Im Zuge der von der Trump-Regierung vom Zaun gebrochenen Welthandelskonfrontation USA-China gibt es bei einigen linken ­Autoren in Deutschland eine fast schon »klassische« Tendenz, sich auf die weltpolitisch »richtige« Seite zu stellen – und da dies auf keinen Fall die wie eh und je imperialistische und unter Trump immer unverfroren nationalegoistischer auftretende kapitalistische Hauptmacht USA sein kann, scheint sich die logische Notwendigkeit zu ergeben, geopolitisch und auch ideologisch für China Partei zu ergreifen. Zwei gerade erschienene Bücher von Jörg Kronauer und Werner Rügemer folgen mehr oder weniger dieser Logik. Sie erkennen Chinas Wandel zum Kapitalismus und unterscheiden sich somit von Strömungen in der deutschen Linken, die Chinas Entwicklung der letzten Jahrzehnte als ungebrochen sozialistisch einstufen.

Das Muster ist wahrlich nicht neu, sondern aus der kommunistischen Weltbewegung, ­verstärkt seit dem zwischen Maoisten und Moskautreuen/»Realsozialisten« in den 50er Jahren aufgebrochenen Schisma, äußerst vertraut. Westliche Linke, und auch viele Kämpfer aus den antikolonialistischen Befreiungs­bewegungen, ordnen sich einer führenden KP-regierten Weltmacht zu, definieren ihren »Internationalismus« im Wesentlichen als »Solidarität« mit dieser und leiten daraus auch mehr oder weniger strikte Konsequenzen für die Analyse des eigenen Kapitalismus, der Klassen- und Sozialanalyse der eigenen Gesellschaft und ihrer Organisierungs- und Bündnispolitik ab. Abweichungen von diesem Muster formierten sich bei den – am Leninschen Partei-Modell festhaltenden – Trotzkisten mit ihrem eigenständigen Internationalismus sowie den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen samt den verschiedenen Dritte-Welt-Aktivitäten in den Metropolen, spätestens seit Frantz Fanon und den Studentenrevolten der späten 60er Jahre.

Nun kann das alte Muster seit den Zusammenbrüchen Ende der 80er Jahre nicht mehr funktionieren: Nicht nur gibt es für die »Realsozialisten« seit dem Ende der Sowjetunion und des Sowjetsystems keinen real existierenden Bezugspunkt mehr, der als Weltmacht Orientierung stiften könnte. Auch den Maoisten ist ihr Leitmodell abhanden gekommen, seit China unter Maos Nachfolger Deng für den Weltmarkt geöffnet und zu einer kapitalistisch funktionierenden Binnenwirtschaft umgestaltet wurde. Zwar wird das Land weiterhin von einer sich kommunistisch nennenden Parteidiktatur beherrscht, die alle Staatsapparate und gesellschaftlichen »Massenorganisationen«, darunter die Gewerkschaften, fest im Griff hat, aber es hat sich eine Klassengesellschaft mit extremen Ungleichheiten herausgebildet, deren Profiteure, die neue Bourgeoisie, Teil des Parteiführungsapparats sind. Obwohl dieser Apparat selber behauptet, die Einführung von Markt und Konkurrenz, Profit und Profitstreben als Motor und ein Wachstum des BIP bei wachsender Ungleichheit von Vermögen und Einkommen seien nur eine Durchgangsphase auf dem Wege zum Endziel einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, gibt es weder in China noch bei westlichen Unterstützern nennenswerte Evidenz und Überzeugungskraft für diese Alt-Ideologie.

Auch Kronauer und Rügemer sind keine maoistischen Nostalgiker oder Blindflieger. Sie ­sehen durchaus, dass ein Wandel zum sog. Sino-Kapitalismus stattgefunden hat. Ihre These lautet allerdings, dass dieser Wandel wegen der damit verbundenen Veränderung der weltpolitischen Kräfteverhältnisse (Kronauer) und auch wegen der Herausbildung eines neuen, humaneren Kapitalismus eine »menschheitliche Bedeutung« (Rügemer) hat. Beide Autoren sind linke Publizisten, die sich durch vielfache kritische Analysen gegen den Mainstream der »westlichen« Betrachtungsweise, der in den deutschen Medien mit seiner Gleichsetzung von Demokratie, Kapitalinteressen und Euro- bzw. US-Zentrismus besonders nervt, Verdienste erworben haben. Auch ihre China-Darstellungen enthalten wichtige Gegeninformationen sowohl gegen »den Westen« als alternativlos idealisierende als auch gegen geschichtsvergessene Berichte. Gleichwohl schießen sie in ihrer Bewunderung für den ­Rivalen des US-Hegemons bzw. das Modell China weit übers Ziel hinaus und verlassen damit auch bisherige Gemeinsamkeiten kapitalismuskritischer Analysen, etwa, dass jeder Kapitalismus, auch der neue chinesische, Klassengegensätze hervorbringt und vertieft, dass er eine Überwachungsgesellschaft schafft und dass Wachstum und Ökologie auf Dauer unvereinbar sind. Auch bleibt etwa die Ver­zahnung des chinesischen Kapitalismus mit der patriarchalen Geschlechterordnung ausgeblendet – ganz abgesehen vom Fehlen weitergehender emanzipatorischer Visionen jenseits der Grenzen des Sino-Kapitalismus.

Das soll im Folgenden anhand der beiden ­genannten Werke gezeigt werden.

Zunächst zu Jörg Kronauer. Sein 2019 im Konkret Verlag erschienenes Werk »Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens« ist ein in klassischem, ziemlich altbacken-politologischen Sinne auf Außenpolitik konzentriertes Werk. Da werden US-amerikanische »International-Relations«-Theorien zugrunde gelegt, die sich mal locker über historische Entwicklungen und Klassenverhältnisse hinwegsetzen und ­Gesetzmäßigkeiten in Mechanismen auf- und absteigender Welt- und Großmächte entdecken, angefangen mit Sparta und Athen und dem allen Ernstes in die Gegenwart gezwängten »Thukydides-Theorem«. Der wissenschaftliche US-Regierungsberater Graham T. Allison hat seit den 2000er Jahren den Theoriemarkt mit Thesen zur Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen rapide aufsteigenden und ängstlich bedrohten Weltmächten erobert. Nach dem Muster des – von Thukydides beschriebenen – Peloponnesischen Kriegs (431- 404 v. Chr.) entdeckte er 15 Fälle der Weltmacht­konkurrenz, von denen elf in einen Krieg ­gemündet waren (Kronauer, S. 46). Solche ahistorischen Vergleiche mögen zwar ihren feuilletonistischen Reiz haben, aber wenn sie den Entscheidungsträgern als ernsthafte Theorie verkauft werden, dann sollte das linke Kritiker eher misstrauisch machen, wird doch der gesellschaftliche und ökonomische Hintergrund der außenpolitischen Aktionen von Regierungen eher aus dem Blick gerückt. (Anders als übrigens bei Thukydides, der nie übersah, dass Sparta und Athen auf Sklaverei beruhende Klassengesellschaften waren.)

Kronauer übernimmt zwar weitgehend die Perspektive der »Weltmächte«-Theoretiker, allerdings beschreibt er in seinem insgesamt informationsreichen Buch nicht nur die Interaktionen und Winkelzüge der diplomatischen und militärischen Apparate zwischen den »Rivalen« China und USA bzw. Europa, sondern auch deren ökonomische Hintergründe und Ziele, etwa Investitionen in Billiglohnländer, Außenhandelsüberschüsse und -defizite, die chinesische Belt & Road Initiative (BRI) und andere weltweite Infrastrukturprojekte, den Kampf um Märkte und Zölle sowie um globale Währungshoheit.

Auffallend ist aber, dass in seinem Buch der Begriff »Globalisierung« oder gar »global agierendes Weltkapital« eher eine Randexistenz führt. Es sind bei ihm nicht die großen Kapitale (und deren Eigner) die, egal ob in den klassischen kapitalistischen Zentren oder beim neuen Rivalen China, die Fäden in der Hand haben, sondern die – meist wie zu Bismarcks Zeiten nationalstaatlich agierenden – Regierungen. Dass die Welt-Rivalität im Rahmen eines Weltkapitalismus und damit auch eines globalisierten Klassenkampfes stattfindet, bleibt systematisch unterbelichtet.

Zwar liefert Kronauer fundierte Gegeninformationen zur westlichen Anti-China-Propaganda auf fast allen Gebieten – von der Kolonialismus-These in Afrika über die »neue Seidenstraße« mit ihren gigantischen Verkehrs- und Infrastrukturprojekten (wozu allerdings die 2018 erschienene Untersuchung von Uwe Hoering noch Genaueres aus einer unbefangeneren Position anbietet) bis zu den Vorwürfen zur Unterdrückung ethnisch religiöser Minderheiten in Tibet und Xinjiang. Dabei wird jeweils die Pekinger Perspektive ernst genommen und dem China-Bashing insbesondere US-amerikanischer Thinktanks unter dem Motto »Death by China« fundiert widersprochen. Insofern ist Kronauers Darstellung äußerst lesenswert.

Aber was in dieser, wie uns scheint, zu ­»bismarckianischen« Perspektive fehlt, ist die Transnationalität des globalen Kapitalismus und der global agierenden Kapitale, in die sich auch China eingeordnet hat und der es sowohl sein wirtschaftliches Wachstum (einschließlich der Besserstellung großer Teile der Bevölkerung) als auch die steigende Ungleichheit und die immer markanteren Ausprägungen einer Klassengesellschaft verdankt. Diese Ungleichheit wird bei Kronauer nur beiläufig erwähnt, und dass es westliche wie chinesische Kapitale und Kapitalisten sind, die aus dem riesigen Niedriglohnangebot der Volksrepublik exorbitante Extraprofite erzielen, bleibt ebenso am Rande von Kronauers Analyse wie alle Fragen, die sich auf die Möglichkeiten der Organisierung der Arbeiterklasse in China und die Möglichkeiten der transnationalen Solidarität der Ausgebeuteten beziehen. Dies ist umso ­bedauerlicher, als in den vergangenen Jahrzehnten zu Themenkomplexen wie diesen zahlreiche Studien auf der Basis chinesischer Umfragen und Analysen veröffentlicht worden sind (Asia Monitor Resource Center 1997, Pun/Li 2008, Wick 2009, SACOM 2011 u.a.) Dass in China die immer noch zahlenmäßig größte Arbeiterklasse der Welt ausgebeutet wird, ohne auch nur ansatzweise über eine eigenständige, von Staat und Kapital nicht gesteuerte gewerkschaftliche Interessenvertretung zu verfügen, bleibt bei Kronauer ungesagt. Wer dieses Problem gar nicht erst sieht, braucht dann auch nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass unter Xi Jinping die Unterdrückung und Einschüchterung aller eigenständigen Gruppen von Labour Activists ebenso wie die von Reformern in der gelben Staatsgewerkschaft ACFTU noch zugenommen hat.

Dieselbe Kritik gilt, in differenzierter Form, auch für die China-Analysen von Werner Rügemer. Anders als Kronauer bleibt Rügemer nicht bei der Außenpolitik stehen. (Beide zeichnen übrigens vorzüglich die Geschichte der kolonialen Auspressung und Demütigung des chinesischen Reichs durch den Westen von den Opiumkriegen bis zu Maos Sieg über die Kuomintang 1949 nach.) Er entwirft vielmehr das Bild eines neuen, im Vergleich zum US-amerikanischen oder westeuropäischen humaneren und menschheitsfreundlicheren Kapitalismus in China. Auch hier ist, gerade aus einer linken und internationalistischen Perspektive, deutlicher Widerspruch geboten, auch hier seien aber zunächst die Verdienste von Rügemers Analyse im Vergleich zum herrschenden China-Diskurs der deutschen Medien hervorgehoben. Zutreffend ist, dass die von Mao geführte und organisierte Revolution ab 1949 in der chinesischen Gesellschaft völlig neue Kräfte freisetzte und feudale Strukturen gründlich beseitigte.

Aber bei Rügemer erscheint der Übergang von Mao zu Deng und seiner Einführung kapitalistischer Regeln und Strukturen als fast organisch – in Wirklichkeit lag dazwischen die blutige soziopolitische Erschütterung der »Kulturrevolution« sowie die Herausbildung einer Staatsbürokratieklasse, die mit Hilfe der Parteidiktatur zu einer einheimischen Kapitalistenklasse mutierte.

Dass die Rechtlosigkeit der chinesischen ArbeiterInnen für Deng und seine Reformer ein Mittel der Anwerbung westlicher Inves­toren war, wird von Rügemer übergangen − stattdessen ist es für ihn ein Beispiel für »eine andere Entwicklungslogik«, dass die ArbeiterInnen dagegen streikten, »auch ohne und gegen Gewerkschaften« (S. 8). Die brauchte es anscheinend auch gar nicht, denn die KP- und Staats-Führung war weise und verantwortungsbewusst genug, 2008 ein Arbeitsvertragsgesetz auf den Weg zu bringen, dass die individuellen Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter stärkte (wenngleich diese in der Realität, wie auch zuvor schon existierende progressive Arbeitsgesetze, oft verletzt werden). Rügemer hat völlig recht, wenn er den Protest westlicher Investoren und Regierungen gegen dieses Gesetz als Beweis für die Heuchelei des Westens anprangert, der sich um Rechte von TibeterInnen und UigurInnen, aber nicht von WanderarbeiterInnen kümmert.

Allerdings wiederholt Rügemer hier nur, was in unseren Publikationen als Forum Arbeitswelten seit 15 Jahren kritisiert wurde, nämlich die komplette menschenrechtliche Unglaubwürdigkeit und Kapitalhörigkeit der westlichen Regierungen.

Problematisch wird es bei Rügemer allerdings, wenn er das tatsächlich gesteigerte Augenmerk der chinesischen Regierung für das Bezahlen von Mindestlöhnen, Überstunden und Sozialversicherungsbeiträgen durch die Arbeitgeber im Vergleich zu westlichen Sozialstaaten als vorbildlich ansieht und für stärker »sanktioniert« erklärt (S. 11). Denn immerhin gehört zu den in entwickelten Kapitalismen erkämpften Sozialstaatssystemen auch eine zivilgesellschaftliche Sphäre, in der u.a. unternehmens- und staatsunabhängige Gewerkschaften um Ausweitung ihrer Organisationsrechte und Kampfchancen kämpfen, statt, wie in China, nur auf die weise und gütige Einsicht der großen Führer zu hoffen.

Rügemer behauptet, diese Führer hätten »die Souveränität des Staates (…) gesichert (…), weil er nicht, wie im Westen, direkt und in vielen indirekten und versteckten, auch verheimlichten Formen dem privaten Kapital assoziiert oder unterworfen wurde.« (Rügemer 2018, 285). Diese »Souveränität« hat der chinesische KP-Staat allerdings damit erkauft, dass er große Teile seiner Betriebe und seiner Dienstleistungen privatisierte, u.a. mit der Folge von Massenentlassungen der alten Arbeiterklasse, dass ein großer Teil der Staatsbürokraten zu Privatkapitalisten mutierte, unter Nutzung alter parteistaatlicher Netzwerke, dass sich schließlich 2008 die KP für KapitalistInnen und neue Millionäre öffnete. Unter Vermeidung der Unterwerfung des Staats unter Kapitalinteressen, die China vorteilhaft von Trumps USA oder den kapitaladministrativen Komplexen in Deutschland, Frankreich etc. unterscheidet, stellen wir uns etwas anderes vor. Im Übrigen bestätigen sozialstatistische Untersuchungen immer wieder, dass in China die Arm-Reich-Schere bei Vermögen und Einkommen im globalen Vergleich besonders weit auseinander geht.

Schlimm wird es, wenn Rügemer unter dem Titel »Kampf der systemischen Kapitalismus-Kriminalität« die Einführung eines totalen Überwachungsstaats durch das »Sozialkreditsystem« verteidigt. Die Außerkraftsetzung jedes Schutzes der Privatsphäre durch eine Totalüberwachung und die Klassifizierung aller BürgerInnen durch ein Punktesystem für ihr alltägliches Sozialverhalten wird damit begründet, dass dies auch der Korruption von Managern und Parteifunktionären entgegenwirken soll. Selbst wenn dem so wäre, und unter Beachtung der Tatsache, dass auch im »liberalen« Westen ein »Überwachungskapitalismus« von Google & Co. wuchert (Shoshana Zuboff 2018), gibt es keine Rechtfertigung für die atemberaubende Abschnürung aller Bürgerfreiheiten durch ein totalitäres System, das z.B. den Zugang zu Eisenbahnfahrten oder Krediten an »gutes« und parteitreues Sozialverhalten bindet.

Eine unabhängige Gerichtsbarkeit, gerade auch zu Arbeitskonflikten, fehlt in China nach wie vor vollständig. Rechtsstaatlichkeit, Entfaltungsmöglichkeiten für Zivilgesellschaft und Selbstorganisation, für Mitbestimmung und Mitwirkung der Arbeitenden von unten, in Betrieben, Gewerkschaften und Partei/Staat, – all das wird unter Xi Jinping mehr denn je ­unterdrückt.

Mehr noch: Seitdem auf Beschluss des Parteitags der KP 2018 Xi Jinpings Denken Verfassungsrang genießt und seine Herrschaft keiner zeitlichen Begrenzung unterliegt, sind die Zeichen eines offenen Personenkults unübersehbar geworden.

Die Frage, die Rügemer (und indirekt auch Kronauer) aufwirft und die auch von anderen Analytikern des »Sino-Kapitalismus« wie Tobias ten Brink (2013) immer wieder erörtert wird, bedarf allerdings weiterhin und mehr als bisher ernsthafter Beobachtung und Untersuchung: Handelt es sich beim derzeitigen chinesischen Modell tatsächlich um eine neue »variety of capitalism«, wie sie schon für unterschiedliche Modelle im etablierten Westen behauptet wurde? Enthält der Sinokapitalismus tatsächlich mehr Potential für eine staatliche Steuerung, Planung, Krisenregulierung und Gefahrenabwehr als der ungehemmte Marktradikalismus von Blackrock und Goldman-Sachs, von Trump, Macron und Olaf Scholz?

Wenn die Empirie zeigt, dass die Responsivität der Parteidiktatur von Xi Jinping gegenüber sozialen Interessen der Bevölkerungsmehrheit derzeit größer ist als beispielsweise die der Trump-Regierung und der sie stützenden »Eliten« – welche Hoffnungen lassen sich begründen, dass dies so bleibt und dass Zivilgesellschaft und Selbstständigkeit der Interessenartikulation, derzeit von der Xi Jinping Parteidiktatur massiv unterdrückt, doch wieder eine Chance haben? Oder sollen wir – mit Rügemer – einfach nur auf den »guten Kaiser« hoffen, der klug genug ist, sozialen Protesten vorzubeugen?

Arbeiter – nicht nur innerhalb Chinas – haben nichts zu gewinnen aus der Rivalität zwischen China und den USA, so der Hongkonger Publizist und Aktivist Au Yoong Lu kürzlich in einem Interview zu den Protesten in Hong­kong (Au 2019):  Xi‘s nationalistische Politik laufe auf die Absicherung der Interessen des chinesischen Kapitals und der Bürokratenklasse hinaus. Die Arbeiterklasse, die Umwelt, die Lebensbedingungen der chinesischen Bevölkerung würden dabei geopfert.

Jenseits der Logik des kleineren Übels, der Kronauer und Rügemer folgen und nach dem der gezähmte Sino-Kapitalismus im Vergleich mit dem entfesselten US-geführten Kapitalismus des Westens vorzuziehen sei, sollte deshalb die weitergehende Frage nach Kapitalismus, Patriarchat und Umweltzerstörung überwindenden Visionen einer emanzipativen Gesellschaft gestellt werden.

Literatur:

  • Asia Monitor Resource Center (1997): Arbeitsbedingungen in der chinesischen Bekleidungsindustrie, in: Wick, Ingeborg, Kleiderproduktion mit Haken und Ösen. Arbeitsbedingungen in der chinesischen und philippinischen Bekleidungsindustrie am Beispiel von Zulieferbetrieben deutscher Unternehmen, hg. von SÜDWIND Institut für Ökonomie und Ökumene (texte 6), Siegburg
  • Chan, Jenny et al. (2008): Silenced to deliver: Mobile phone manufacturing in China and the Philippines, http://www.makeitfair.org externer Link
  • Hoering, Uwe (2018): Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell, VSA Hamburg
  • Kronauer, Jörg (2019): Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens, konkret Hamburg
  • Pun, Ngai/Li, Wanwei (2008): Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen, Assoziation A, Hamburg
  • Rügemer, Werner (2018): Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. Papyrossa-Verlag Köln
  • SACOM (2011): Foxconn and Apple Fail to Fulfill Promisses: Predicaments of Workers after the Suicides, http://sacom.hk.archives/837 externer Link, 6.5.2011
  • Brink, Tobias (2013): Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Campus, Frankfurt/New York
  • Wick, Ingeborg (2009): Arbeits- und Frauenrechte im Discountgeschäft. Aldi-Aktionswaren aus China, hg. von SÜDWIND-Institut für Ökonomie und Ökumene, Siegburg
  • Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt a.M./New York

* Ingeborg Wick war langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin des SÜDWIND Instituts in Siegburg. Bodo Zeuner, Prof. em. lehrte Politikwissenschaft an der FU Berlin. Beide sind aktiv im Forum Arbeitswelten.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=154835
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