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Streikende Hafenarbeiter in Bio Bio haben eine Botschaft an den Präsidenten: „Pinera, hau ab! Keiner will den Dialog mit Dir“. Zehntausende Menschen in Chile auch, nicht nur beim Generalstreik ab 23. Oktober

Seit dem 19.10.2019 herrscht die Armee wieder auf den straßen Chiles - oder versucht es zu mindestens...Die Union Portuaria war die erste Gewerkschaft Chiles, die auf die Ausrufung des Notstandes durch die Pinera-Regierung reagierte: Mit einem voll befolgten Streikaufruf, wie es am selben Tag –Montag, 21. Oktober – auch die Betriebsgewerkschaft der Mine La Escondida tat. Bei der Demonstration der Hafenarbeiter in Bio Bio wurde dem Nachfolger Pinochets eine Botschaft übermittelt: Er soll verschwinden. Und während der rechte Vorbeter des Neoliberalismus in Chile seine Truppen schießen lässt, gehen die Menschen zu Zehntausenden trotzdem weiter auf die Straße. Die chilenischen Medien versuchen ihre verlogene Pflicht zu tun: Aber selbst die Hetzkampagne gegen „Plünderer“ geht nach hinten los. Weil auf den Fernsehbildern zu sehen ist, was da „geplündert“ wird – Gasflaschen. Wie in anderen südamerikanischen Ländern auch, ist in Chile Gas eine der teuren Sachen im menschlichen Alltag, weswegen nicht nur in Chile viele Reaktionen darauf waren: „Recht so“. Jetzt hat sich auch der Gewerkschaftsbund CUT bewegt und ab Mittwoch, 23. Oktober 2019 zum Generalstreik aufgerufen, zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Organisationen, von der Kampagne gegen das private Rentensystem bis zum Studierendenverband. Zur aktuellen Situation in Chile eine Materialsammlung mit Beiträgen zu (unterschiedlichen) gewerkschaftlichen Haltungen, zu Beispielen von Protest und Repression aus verschiedenen Gegenden des Landes, sowie Hintergrundbeiträgen zur sozialen Situation in Chile und ihrer Entwicklung:

„O Exemplo dos Estivadores Chilenos“ am 21. Oktober 2019 bei Logistica Portuaria externer Link berichtet vom Beginn des Streiks am Montag – in 17 verschiedenen Häfen des Landes, in denen überall auch Streikdemonstrationen stattfanden, bei denen weit über die Mitgliedschaft der Gewerkschaften hinaus mobilisiert wurde. In dem Beitrag sind auch verschiedene kurze Videos über diese Demonstrationen, darunter jene eingangs erwähnte in Bio Bio, die die titelgebende Botschaft an Pinera hatte.

„Sindicato N°1 Trabajadores Escondida: «A paralizar, mineras y mineros, a paralizar toda la minería de Chile junto a otros sectores productivos»“ am 21. Oktober 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link dokumentiert, ist der Streikaufruf der Betriebsgewerkschaft von La Escondida der Kupfermine in der Region Antofagasta – der zunächst ein Streikaufruf für einen Tag war, um Solidarität mit den längst landesweiten Protesten zu demonstrieren, aber von Beginn an verbunden mit der Forderung (an andere Gewerkschaften) daraus einen Streik im ganzen Bergbau zu entwickeln und darüber hinaus.

„Unidad Social convoca a Huelga General Nacional para el 23 y 24 de octubre“ am 22. Oktober 2019 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist der gemeinsame Aufruf zum zweitägigen Generalstreik ab Mittwoch, den der Gewerkschaftsbund CUT gemeinsam mit den Organisationen Coordinadora No Más AFP – Asociación Nacional Empleados Fiscales ANEF – CONFUSAM – FENPRUSS – Confederación Coordinadora de Sindicatos del Comercio y Servicios Financieros – FEDASAP – Confederación Bancaria- CONFEDEPRUS – Sindicato Interempresa Líder SIL – Colegio de Profesores – FENATS Nacional verbreitet hat, der von Verbänden und Initiativen wie CONES – CONFECH – Chile Mejor Sin TLC – Cumbre de los Pueblos – FECH – FENAPO – FEUARCIS unterstützt wird.

„Comunicado público de organizaciones sociales que explicita condiciones y voluntad de diálogo“ ebenfalls am 21. Oktober 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link ist eine Erklärung derselben Organisationen, in der im Unterschied zu den beiden eingangs verlinkten Streikaufrufen und des gemeinsamen Aufrufs, Bedingungen für einen Dialog genannte werden – deren erste die sofortige Aufhebung des Notstandes und die Rückkehr der Armee in die Kasernen sei.

„Right now, huge demonstration anti-government, in VinadelMar“ am 22. Oktober 2019 im Twitter-Kanal Ubique externer Link ist ein Videobericht von einer Großdemonstration nicht in der Hauptstadt, sondern in Vina del mar (bei Valparaiso) – und soll hier als Beispiel stehen für wirklich sehr viele solche Demonstrationsberichte in verschiedenen Regionen des Landes.

„Chile: Rebeldía no baja la guardia, se amplían saqueos y manifestaciones“ am 21. Oktober 2019 bei Clajadep-LaHaine externer Link war ein Versuch, einen Überblick über bereits beschlossene Demonstrationen am Dienstag zu geben, wobei deutlich gemacht wird, dass die meisten dieser Aktionen spontan stattfinden.

„Carabineros balea (balín) a periodista argentino“ am 23. Oktober 2019 im Twitter-Kanal von Piensa Prensa externer Link (der ohnehin als Informationsquelle sehr zu empfehlen ist) kann – leider – ebenfalls als Beispiel stehen: Für das brutale Vorgehen der Repressionskräfte – hier ein kurzes Video darüber, wie Sondereinheiten auf einen argentinischen Journalisten schießen…Im daran anschließenden Thread weisen verschiedene Quellen auf sehr große Ähnlichkeiten mit Bildern vom Putsch Pinochets (und der USA) 1973 hin…

„30 Jahre Machtmissbrauch“ von Sophia Boddenberg am 22. Oktober 2019 in der taz online externer Link fasst als Zwischenergebnis der Repression zusammen: „… Präsident Sebastián Piñera hat den Ausnahmezustand ausgerufen – zuletzt geschah dies 1987 unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Piñera erklärte, das Land befinde sich „im Krieg gegen einen gefährlichen Feind“. Er bezeichnet die Demonstranten als gewalttätige Randalierer und will mit dem Einsatz des Militärs für „Ordnung, Frieden und Demokratie“ sorgen. Wer aber wirklich die Demokratie gefährdet, ist die Regierung. Viele Chilen*innen fühlen sich an die Militärdiktatur erinnert. Das Nationale Institut für Menschenrechte hat seit Donnerstag 44 Verletzte durch polizeiliche oder militärische Gewalt registriert. Einer der Verletzten wurde von einem Polizisten aus einer Distanz von fünf Metern angeschossen. Elf Menschen sind bei den Protesten bislang ums Leben gekommen. Solange die Regierung weiter mit Gewalt und Repression gegen die Demonstrant*innen vorgeht, werden die Proteste nicht aufhören. Vielleicht wird aus dem Labor des Neoliberalismus das Labor seines Umsturzes“.

„Nichts zu verlieren“ von Katja Maurer am 22. Oktober 2019 im medico-Blog externer Link geht aus von einem Vergleich Chiles mit Haiti, um dann zu unterstreichen: „… Neben den Protesten fanden Plünderungen in einem Ausmaß statt, für das man die Protestierenden in Haiti für immer aus der globalen politischen Zivilisation ausgeschlossen hätte. Wie mir Freunde aus Chile erzählten, die ich gestern anrief, gehören Plünderungen in Chile quasi zur Protestform. Der chilenische Staatspräsident Piñera, ein äußerst rechter Unternehmer und Profiteur des Systems, rief am Wochenende das Militär, verkündete den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre ab 19 Uhr. Zugleich hielt er nachts um halb eins eine seifige Rede, rief zum Dialog auf und äußerte Verständnis für die jungen Leute. Da hat er sich etwas beim haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse abgeguckt, der vor drei Wochen auf ähnlich Weise und zu ähnlicher Uhrzeit versucht hatte, den Protest zu ersticken und mit dieser Bigotterie nur mehr Öl ins Feuer goss. In Haiti gehen die Proteste weiter und wurden politischer. (…) Proteste, die in Santiago begannen, haben sich auf das ganze Land ausgebreitet und es beteiligen sich unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Anliegen. Bauern errichten Straßensperren aus Tierkadavern, die verdursteten, weil das Wasser für die Avocado-Plantagen der Oligarchie benötigt wird. Die Flüsse waren bis zu den Protesten ohne Wasser. Wie ein Wunder fließt es nun. Die Oligarchie wurde genötigt, etwas vom Wasser abzugeben. Künftige Renter_innen tragen Spruchbänder, auf denen steht „Ich habe keine Angst vorm Tod, ich habe Angst vor der Verrentung“. Und die Plünderungen werden gerechtfertigt mit einer Neuwortschöpfung empresasaqueo – Unternehmensplünderung. Frei nach Brecht: Was ist ein Bankraub gegen den Besitz einer Bank. Es geht um viel mehr als um Metropreise. Es geht wie in Haiti um einen neuen Sozialvertrag: bezahlbare Wohnungen, Gesundheit für alle, kostenlose Bildung. Die Bevölkerungen des vermeintlich reichsten und des Ärmsten Landes Lateinamerikas haben ähnliche Forderungen. (…) Der Aufstand kommt für die politische Elite (egal ob rechts oder Mitte-links) überraschend, wie man sich in Frankreich die Gelbwesten nicht hätte vorstellen können. Er wird möglicherweise nicht so schnell vergehen, weil sich Präsident Piñera viel zu autoritär gebärdet, und weil sich die wie keine zweite von der Ideologie des Neoliberalismus durchdrungene chilenische Elite keine am Gemeinwohl orientierten Lösungen vorstellen kann. Das würde bedeuten, dass sie etwas abgeben müsste von ihrem ungeheuren Reichtum, der sich das ganze Land untertan gemacht hat. Abgeben aber wären nötig, sonst wird es noch viel mehr Aufruhr geben, weil die Menschen nichts mehr zu verlieren haben...“

„Chile: Aufstand der Prekären“ von Ricardo Tristano am 21. Oktober 2019 im Untergrund-Blättle externer Link zum sozialen Hintergrund der Proteste unter anderem: „… Verschiedene Studien gehen davon aus, dass im Grossraum Santiago zwischen 33 % bis 41 % der urbanen Bevölkerung in den sogenannten Poblaciones leben. Dennoch sollte man sich hier keine Slums im klassischen Stil vorstellen, vielmehr handelt es sich um südamerikanische Barrios mit einigermassen funktionierender, jedoch komplett privatisierter Infrastruktur. Obwohl viele Pobladores unter der achtjährigen Amtszeit der linksgerichteten Michelle Bachelet den Weg in den unteren Mittelstand geschafft haben, ist die strukturelle Armut für einen Grossteil der Bevölkerung an der Peripherie der Grossstadt immer noch knallharte Realität. Um die Gründe für diese tief verwurzelte Prekarität zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte des Landes. (…)  Nach Berechnungen der Fundacion Sol muss eine Person, die für den Mindestlohn arbeitet, 21 % seines Gehaltes für die U-Bahn ausgeben. Die Eskalation der erneuten Proteste gegen die Erhöhung der Ticketpreise ist somit keine wirkliche Überraschung – und es geht definitiv nicht nur um die Metropreise. „Ich protestiere wegen der ganzen Ungerechtigkeit, wegen der Gewalt und weil unsere Stimme nie gehört wird“ erklärte eine Demonstrantin gegenüber dem chilenischen Online-Magazin politika.cl.  Zuerst waren es vereinzelte U-Bahn-Stationen, die angegriffen und in Brand gesteckt wurden. Mit dem völlig unverhältnismässigen Einsatz von Schusswaffen von Seiten der chilenischen Militärpolizei sorgten die Sicherheitskräfte schon zu Beginn der Proteste für eine Eskalation der Gewalt. Mehrere Jugendliche wurden mit Schussverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert. Die Reaktion der Strasse kam postwendend – der Aufstand breitete sich rasend schnell aus. Wie schon oft zuvor strömten die Leute aus den Randbezirken zu tausenden in die Innenstadt, um ihrem Unmut über ein System, dass die Mittellosen kategorisch ausgrenzt, Luft zu verschaffen. Bemerkenswert ist, dass die Ausschreitungen nicht wie sonst üblich, nur an wenigen Hotspots, sondern asynchron und an unzähligen Orten stattfanden...“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156211
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