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Der Generalstreik in Chile am 12. November mobilisierte zwei Millionen Menschen. Und jetzt?

"Unsere Leute rufen uns an, lasst uns ihnen Kraft geben" (Victor Jara) Als der immer noch amtierende Präsident am Tage des Generalstreiks vor die Kameras trat: Hatte er nichts zu sagen. Was für ihn die „Chronik eines angekündigten (politischen) Todes“ sein mag (aber wen interessiert das schon?) war für alle Beobachter vor allen Dingen der Fakt, dass er offensichtlich keine Mehrheit dafür bekommen hatte, erneut den Notstand auszurufen. Und sein Projekt einer neuen Verfassung, die unter Kontrolle alter Mächte ausgearbeitet werden soll, kann jetzt schon als gescheitert betrachtet werden – es sei denn, jene Kräfte in der Opposition, zu deren Zielen eine parlamentarische Mehrheit gehört, ebnen ihn in entsprechenden Verhandlungen doch noch den Weg. Die Hunderttausenden auf den Straßen kümmern sich (zu mindestens einstweilen) darum nicht – und auch nicht die Terrorbanden der Carabineros de Chile, die längst der Kontrolle des Präsidenten entglitten sind, falls er sie jemals hatte. Der Oberkommandeur jedenfalls sprach zu seinen Offizieren, er werde keinesfalls der Anweisung des Präsidenten folgen, jene, die sich Menschenrechtsverletzungen zuschulden haben kommen lassen, an die Justiz zu übergeben: „Da könnt ihr ganz sicher sein, das werde ich nicht tun“. Während „auf der anderen Seite“ der sehr mobilisierungsfähige Oberschülerverband seine Mitarbeit beim „Tisch der sozialen Einheit“ aufkündigt – wegen dessen unklarer Haltung zu Verhandlungen mit der Regierung, die der Verband rundweg ablehnt. Und die gewerkschaftliche Opposition fordert ebenfalls eine konsequentere Haltung: Sowohl – beispielsweise – die Lehrergewerkschaft in Antofagasta, als auch etwa die Flughafenbeschäftigten, die mehr wollten… Zur Situation in Chile nach dem eintägigen Generalstreik unsere Materialsammlung: „Nach dem Streik in Chile: Was nun?“ vom 15. November 2019:

„Nach dem Streik in Chile: Was nun?“

15. November 2019

a) Der Generalstreik, die angebliche Konzession und die Repressionsversuche

„Erneute Proteste und Generalstreik in Chile“ von Anna Landherr und Jakob Graf am 14. November 2019 bei amerika21.de externer Link berichtet unter anderem: „… Barbara Figueroa, Präsidentin des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, verkündete am Dienstag bei einer öffentlichen Ansprache, dass zum Streik aufgerufen wurde, weil die Regierung den Forderungen der großen Mehrheit der Chilenen nicht nachgekommen sei. Sozialer Frieden sei nur unter der Bedingung möglich, dass eine verfassungsgebende Versammlung eingerichtet werde. Zudem kündigte sie ein an Piñera gerichtetes Ultimatum an. Während die Regierung von geringer Beteiligung bei den Streiks spricht, protestieren nach Angaben der CUT während des Generalstreiks am Dienstag rund zwei Millionen Chilenen landesweit. Am Sonntagabend hatte Innenminister Gonzalo Blumel im Namen des Präsidenten erklärt, die Regierung sei prinzipiell bereit zu einer Verfassungsänderung. Diese solle von Kongressmitgliedern erarbeitet werden. Eine verfassungsgebende Versammlung schloss er aus. Die Bevölkerung werde bei diesem Prozess jedoch ein Mitspracherecht sowie die Möglichkeit haben, abschließend über das Ergebnis abzustimmen, so Blumel…“

„Zwei Millionen auf der Straße“ von Santiago Baez am 14. November 2019 in der jungen welt externer Link berichtet: „… Viele Demonstranten forderten auch den Rücktritt des Präsidenten und vorgezogene Neuwahlen. In den Bergbaugebieten errichteten die Arbeiter Straßenbarrikaden und verhinderten die Zufahrt zu den Minen. In Santiago versammelten sich erneut unzählige Menschen auf der Plaza Baquedano, die von den Demonstranten inzwischen in »Platz der Würde« umbenannt worden ist, weil sich dort seit Beginn der Proteste allabendlich Tausende Menschen versammeln. Luis Mesina, Sprecher der für eine Rückverstaatlichung der privatisierten Rentenversicherung kämpfenden Bewegung »No más AFP«, verlangte von der Regierung, der Bewegung klar entgegenzukommen und die Repression zu beenden. Sonst werde man zu einem unbefristeten Generalstreik aufrufen. Wie die linke Zeitschrift El Siglo in ihrer Onlineausgabe berichtete, wollte Piñera als Reaktion auf die Massenproteste erneut den Ausnahmezustand ausrufen und das Militär gegen die Demonstranten einsetzen. Das sei jedoch von den Streitkräften und Vertretern der Rechtsparteien abgelehnt worden...“

„Offener Brief von Cabildo Berlin“ am 13. November 2019 beim NPLA externer Link ist eine Bekundung an einen Betroffenen des Polizeiterrors in Chile, worin die AutorInnen unter anderem festhalten: „… wir schreiben Dir als „Cabildo Berlin“, als basisdemokratischer Zusammenschluss einer Gruppe von Chilen*innen und Mapuche, die dieses lange schmale Land Chile aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben und nun in Berlin leben. Von hier aus verfolgen und unterstützen wir all das, was in Chile passiert und was damit anfing, dass Jugendliche riefen: “¡Evadir, no pagar, otra forma de luchar!“ („Umgehen, nicht bezahlen! Eine andere Art zu kämpfen!“). Sie haben uns alle damit angesteckt! In unseren Herzen stimmen wir in diesen Vers ein. Und wir rufen ihn laut zum Takt der Pfiffe und der Töpfe, auf die wir schlagen, wenn wir uns in Berlin vor dem chilenischen Konsulat oder am Brandenburger Tor treffen. Seit dem 18. Oktober begleiten wir die Protestbewegung aus der Ferne. Mit unseren Aktionen verurteilen wir gegenüber den deutschen Behörden die von der Regierung Sebastián Piñera begangenen Menschenrechtsverletzungen. In ganz Chile und dem Wallmapu (Territorium der indigenen Mapuche) geht die Regierung mit Methoden des Terrors gegen die Bevölkerung vor. Der Mut der Mehrheit der Gesellschaft, die aus ihrer alltäglichen Routine ausbricht, auf die Straße geht und ein Leben in Würde fordert, soll ausgebremst werden. Im Laufe dieser Tage sehen wir fassungslos, wie die Zahlen der Verletzten, Ermordeten und Gefolterten steigen: Ein Ausdruck systematischer und repressiver Methoden seitens des chilenischen Staates gegen die mit ihren Stimmen und Kochtöpfen bewaffnete Zivilbevölkerung! Und dennoch haben sich die Menschen nicht einschüchtern lassen; Millionen schreien weiterhin Tag für Tag ihre Unzufriedenheit hinaus und fordern eine grundlegende Umgestaltung jenes Gesellschaftssystems, das auf Ausplünderung der Natur und unseres Lebens beruht. Als du am 9. November ins Krankenhaus gebracht wurdest, haben wir besorgt auf Nachrichten gewartet: Wir waren erschüttert, ,als wir dann erfuhren, dass du durch den ‘kriminellen Arm‘ Sebastián Piñeras beide Augen verloren hast. Wir können nicht tatenlos bleiben. Deshalb erinnern wir von hier aus an deinen Namen, Genosse Gustaco Gatica, und werden die Verbrechen, die in Chile begangen werden, auf dieser Seite des Planeten so lange verurteilen, bis die internationale Gemeinschaft und die deutschen Behörden sich gegen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit aussprechen…“

„Warum sind viele Chilen*innen gegen den Verfassungsgebenden Kongress?“ am 13. November 2019 beim NPLA externer Link über das machterhaltende Zugeständnis Pineras und die massive Opposition gegen die Fortsetzung des bisherigen Regimes: „… Chile erlebt eine „verfassungsgebende Bewegung“, nachdem die Bevölkerung eine direkte Beteiligung bei der Erstellung einer neuen Verfassung gefordert hat. Damit weist sie den Plan von Präsident Sebastián Piñera zurück, die Carta Magna im Kongress durch einen Prozess der Legislative zu verändern. Zwar zeigt sich Piñeras Regierung bereit, den Weg in Richtung einer neuen Verfassung durch einen Verfassungsgebenden Kongress und eine Volksbefragung zu dessen Bestätigung zu ebnen. Gesellschaftliche Organisationen fordern jedoch die unmittelbare Beteiligung der Bürger*innen im verfassungsgebenden Prozess. Der grundlegende Unterschied beider Vorgehensweisen liegt darin, dass die Bürger*innen nicht über einen Verfassungstext abstimmen möchten, der geschrieben wurde, ohne sie jemals mit einbezogen zu haben. Vielmehr möchten die Menschen selbst bestimmen und ausdrücken, welche Rechte die neue Verfassung beinhalten soll. So soll ihre Perspektive im Text ersichtlich sein, bevor darüber abgestimmt wird.Der Verfassungsgebende Kongress hingegen würde sich lediglich aus Abgeordneten der politischen Parteien zusammensetzen und entspräche den Machtverhältnissen vor dem Beginn der starken Proteste in Chile. Schon allein deshalb wird eine Verfassungsgebende Versammlung gefordert, die aus der Bevölkerung hervorgeht…“

„General director de Carabineros: “A nadie voy a dar de baja, aunque me obliguen, no lo voy a hacer”“ am 13. November 2019 bei Resumen Latinoamericano externer Link meldet die faktische Rebellion des Kommandanten der Carabineros gegen die Anweisung des Präsidenten – bei einer Rede vor der Schule für Unteroffiziere betonte er, er werde dafür sogen, dass niemand zur Rechenschaft gezogen werde…

b) Und wieder einmal: Parteinahme der Bundesregierung. Für Pinochets Erben

„Der Pakt der weißen Eliten“ am 15. November 2019 bei German Foreign Policy externer Link unter anderem zu einem Bundesaußenminister, der vielleicht der bisher treueste deutsche Freund aller Faschisten ist: „… Man teile mit Chile „grundlegende Werte“, heißt es im Auswärtigen Amt; Außenminister Heiko Maas sagt seinem chilenischen Amtskollegen zu, Deutschland stehe „auch in schwierigen Zeiten an der Seite Chiles“. In dem südamerikanischen Land toben seit Wochen Massenproteste, als deren eigentliche Ursache die dramatische Armut und die eklatante soziale Ungleichheit im Land gelten. Piñera, Milliardär und Angehöriger der alten Eliten, lässt die Proteste mit blutiger Gewalt durch Polizei sowie Militär niederschlagen. Die chilenischen Streitkräfte verfügen über zahlreiche Waffen aus deutscher Produktion. Piñera, mit dessen Partei Renovación Nacional die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung seit Jahren kooperiert, obwohl zu ihren Funktionären erklärte Pinochet-Anhänger zählen, stützt die alten, weißen Eliten auch in anderen Ländern Lateinamerikas – etwa in Venezuela. Berlin tut es ihm mit der Anerkennung des venezolanischen Putschisten Juán Guaidó und mit Lob für den Putsch in Bolivien gleich…“

„Mehr als 1000 Festnahmen in Chile“ am 13. November 2019 bei der Deutschen Welle externer Link hat die dazu passende „einstimmende“ Art der Berichterstattung (ohne die Quellenangabe Presseportal der chilenischen Regierung): „… Obwohl Chiles Präsident Sebastián Piñera einer Kernforderung der Demonstranten nachgeben will und eine neue Verfassung angekündigt hat, gibt es weiter massive Proteste. Diese haben eine verheerende Bilanz. (…) Gruppen von Demonstranten kämpften gegen die Polizei, die wiederum Wasserwerfer und Tränengas einsetzten. In der Hauptstadt wurde in einer Kirche Chaos angerichtet, bevor sie angezündet wurde. In der südlichen Stadt Concepcion musste ein Regierungsgebäude evakuiert werden, nachdem dort ein Feuer ausgebrochen war. (…) Dies hatte die konservative Regierung bereits am Sonntag in Aussicht gestellt. Eine verfassunggebende Versammlung solle das neue Grundgesetz ausarbeiten, das anschließend dem Volk in einem Referendum zur Entscheidung vorgelegt werde, kündigte Innenminister Gozalo Blumel an. Mit dem Schritt erfüllt die Regierung eine der Hauptforderungen der Demonstranten. Noch einen Tag zuvor hatte Piñera dies abgelehnt. Die Regierung kündigte außerdem einen Dialogprozess an, um die Prioritäten der Bevölkerung zu erfassen. Der Mindestlohn sowie die Renten sollten angehoben, die Preise für Medikamente und Dienstleistungen wie Strom gesenkt werden. In einer Fernsehansprache appellierte der konservative Staatschef Sebastián Piñera am Dienstag eindringlich an alle Chilenen und alle Parteien, sich gemeinsam für Gewaltverzicht, soziale Reformen und eine neue Verfassung einzusetzen. Nach Angaben der Zeitung „La Tercera“ kündigte der Präsident ein strenges Vorgehen gegen alle Chilenen an, die zu Gewalttaten aufriefen oder sich daran beteiligten. Zugleich werde man auch keinerlei Menschenrechtsverletzungen dulden. / Der Anstoß der Exzesse / Seit dreieinhalb Wochen gibt es in Chile eine riesige Protestwelle. Mindestens 20 Menschen kamen dabei ums Leben. Auslöser der Demonstrationen war zunächst eine Fahrpreiserhöhung. Inzwischen weiteten sich die Proteste aus in eine breite Bewegung für eine Renten- und Verfassungsreform sowie tiefgreifende Reformen des ultraliberalen Wirtschaftssystems…“

c) Der fortgesetzte Widerstand – und die Debatte um das „wie weiter“?

„Chile autónomo: Estudiantes secundarios de la ACES se retiran de Unidad Social. «Chile no se vende»“ am 09. November 2019 beim Correo de los Trabajadores externer Link ist die Meldung über den Rückzug des Oberschülerverbandes ACES aus der „Unidad Social“ (deren entscheidende Kraft der Gewerkschaftsbund CUT ist), weil der Verband – dessen Mobilisierung gegen die Fahrpreiserhöhungen Auftakt der aktuellen Bewegung waren – die Haltung kritisiert, die Möglichkeit eines Übereinkommens mit der Regierung nicht eindeutig auszuschließen.

„Valparaíso – LLAMADO DEL GRUPO 1º DE MAYO: AHORA CON TODO, FUERA PIÑERA“ am 13. November 2019 bei Werken Rojo externer Link dokumentiert, war – vor dem Streik am 12. November – einer der zahlreichen Aufrufe regionaler selbstorganisierter Basis-Kollektive – hier aus Valparaiso, den Kampf bis zum Sieg über die Regierung fortzusetzen, auch im Namen der Ermordeten.

„¡Ningún acuerdo con el gobierno represor! Huelga General Indefinida YA hasta que se vaya Piñera“ am 13. November 2019 bei La Izquierda Diario externer Link steht hier als Beispiel für die zahlreichen Aufrufe linker Gruppierungen, den Generalstreik nicht auf einen Tag zu begrenzen (wofür es ja auch innerhalb der Gewerkschaften nicht wenige Stimmen gegeben hatte, siehe den Verweis auf unseren früheren Beitrag unten).

„Un ejemplo a seguir: Encuentro de sectores en lucha en Antofagasta y Encuentro abierto #FueraPiñera“ von Fabian Puelma am 11. November 2019 bei La Izquierda diario externer Link dokumentiert, ist ein Bericht über zwei Treffen von Basis-AktivistInnen in Antofagasta und Santiago, in denen es um die Möglichkeiten ging, den Kampf selbstorganisiert fortzusetzen, wenn die gewerkschaftlichen Mehrheiten das „nicht mehr wünschen“. Besonders in Antofagasta waren unter den über 500 teilnehmenden Personen auch viele Gewerkschaftsoppositionelle aus den Bildungsgewerkschaften und der Hafenarbeiter.

„Autonomía gana terreno en Chile. Partidos quedan marginados“ am 13. November 2019 bei Clajadep-LaHaine externer Link ist die Dokumentation eines akademischen Beitrags zur aktuellen Bewegung, der insgesamt die Tendenz zur Selbstorganisation berichtet (und positiv bewertet), was sich sowohl an der Mobilisierung über soziale Netzwerke zeige, als auch an der faktisch vollkommenen Abwesenheit von Parteiemblemen bei den Demonstration und sonstigen Aktionen.

„Chileans attacked and burned the military barracks Tejas Verdes“ am 14. November 2019 im Twitter-Kanal von redfish externer Link ist ein Video über den Sturm auf eine Kaserne, die bereits zu Zeiten der Diktatur eine Folterzentrale war. Gebrannt hat es dann auch – und auch das ist auf seine Art ein Beitrag zur Debatte um „wie weiter?“…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=157332
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