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[30. Oktober 2019] Neuer Protest-Generalstreik in Chile – die Umbildung der Regierung beeindruckt niemand. Die Aufhebung des Notstandes auch nicht, die uniformierten Banden Pineras machen blutig weiter

Millionendemonstration Santiago de Chile am 25.10.2019Über 70 gewerkschaftliche und soziale Organisationen, der Zusammenschluss Unidad Social, ruft für Mittwoch, 30. Oktober 2019 erneut zu einem eintägigen Protest-Generalstreik auf. In dem Aufruf „Unidad Social convoca Paro Nacional para este miércoles 30 y anuncia continuidad de las movilizaciones“ am 28. Oktober 2019 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link dokumentiert, wird vor allem darauf abgehoben, dass es niemand im ganzen Land zufrieden stelle, wenn Gesichter der Regierung ausgetauscht würden. Was sich grundlegend ändern müsse, seien die Inhalte der Politik, ihre Grundorientierung, die jener entgegengesetzt sein müsse, die bisher befolgt worden sei. Die vertretenen Organisationen unterstreichen in dem Aufruf ebenfalls, dass dieser Protesttag keineswegs das Ende der Mobilisierung bedeute, sondern im Gegenteil, ihre Fortsetzung, die auch mit weiteren bereits geplanten und beschlossenen Protestaktionen realisiert werden wird. Nachdem bereits auf der Straße die Behauptung von Regierung und Medien, die „Sache“ sei mit dem Rücktritt einiger Minister und der Aufhebung des Ausnahmezustandes beendet, widerlegt worden war, ist nun auch, mit diesem Streikaufruf, deutlich geworden, dass die großen sozialen Organisationen ebenfalls weiterhin mobilisieren werden, obwohl sie sich bisher, unter Bedingungen, durchaus als mit Pinera zum Dialog bereit gezeigt hatten, was mit der Fortsetzung der Massenproteste – und der Fortsetzung der Repression, auch ohne Ausnahmezustand – nun zunehmend gegenstandslos zu werden scheint… Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge über die Fortsetzung der Proteste trotz Bauernopfern und Polizeirepression, sowie zwei Beiträge zu weiteren gesellschaftlichen Schichten, die sich nunmehr in die Proteste einreihen – und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zur Protestwelle in Chile:

„Chiles Menschen wollen mehr“ von Bernd Pickert am 29. Oktober 2019 in der taz online externer Link unterstreicht unter anderem zum angeblichen Dialog der Rechtsregierung: „… Am Montag gingen erneut in mehreren Städten für diese Forderungen Zehntausende Menschen auf die Straße, unter anderem in Valparaiso, Concepción, Punta Arenas und vor allem erneut in Santiago. In der Hauptstadt kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Tränengas und Wasserwerferern verhinderte, dass die Demonstrierenden sich in Richtung des Präsidentenpalastes La Moneda bewegen. Auch zu Plünderungen kam es erneut, ein großes Kleidungsgeschäft ging in Flammen auf. Der neu ernannte Innenminister Gonzalo Blumel kommentierte auf Twitter: „Die Gewalt, die wir sehen, ist inakzeptabel und muss von allen eindeutig zurückgewiesen werden. Sie steht nicht für die legitimen Forderungen, die die Bürgerschaft vorgebracht hat. Der Weg ist der Dialog und die Zusammenarbeit. Eine Soziale Agenda für ein gerechteres Chile.“ Diese „Soziale Agenda“ ist jedoch nach dem Verständnis der Regierung lediglich das, was Präsident Piñera bereits in er vergangenen Woche angekündigt hatte, etwa einen höheren Mindestlohn, die Senkung von Abgeordnetendiäten und die stärkere Besteuerung höherer Einkommensgruppen. Auch in seiner kurzen Ansprache zur Kabinettsumbildung hatte der Präsident zwar davon gesprochen, die Regierung habe den Ruf der Menschen verstanden – aber neben der Verjüngung des Kabinetts verlor er kein Wort über weitergehende Veränderungen. Stattdessen verurteilte er wortreich Plünderungen und Zerstörungen am Rande der Demonstrationen. Den Demonstrierenden genügt das nicht. Nicht nur verlangen sie den Rücktritt des Präsidenten selbst, sie wollen auch eine grundlegende Änderung des orthodox-neoliberalen Modells, das Chile seit der Diktatur verfolgt…“

Ausnahmezustand aufgehoben, Proteste gehen weiter“ von chile despertó am 29. Oktober 2019 bei de.indymedia externer Link zum selben Thema – aber hier auch in Bezug auf die Oppositionsparteien und die „Gewaltdebatte“: „… Am Montag sind mehrere Demonstrationen in Santiago gestartet, mit dem Ziel Plaza de Moneda, um direkt vor dem Präsidentenpalast den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Dabei wurden sie von Polizeieinheiten aufgehalten und mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen. Aus diesen Auseinandersetzungen entwickelten sich massive Ausschreitungen. Es wurden viele Barrikaden errichtet, die U-Bahn-Station „Baquedano“ wurde angezündet, eine Apotheke geplündert, ein Lokal der Compin (Geschäftsstelle des Gesundheitsministerium) zerstört und die Polizei massiv angegangen. Rauchschwaden über Santiago waren kilometerweit zu sehen, im Laufe des Abends wurden dann auch noch weitere Läden geplündert. Gerade die Compin steht in dem Ruf, ihre „Kunden“ äußerst schlecht und von oben herab zu behandeln, Rezepte nicht anzuerkennen und Zahlungen zu verschleppen. Das sich die Wut auch gerade gegen diesen Teil des eigentlich nicht existierenden Sozialstaates richtet, verwundert angesichts der Forderungen der Proteste nach einem sozial gerechteren Chile nicht. Währenddessen hat sich heute eine neue Regierung gebildet, unter dem gleichen Präsidenten aber ein fröhliches Minister-wechsel-deinen-Posten Spiel. Und auch die neue Regierung leidet unter Realitätsverlust, wenn sie versucht, den Diskurs wieder zu ihren Gunsten zu verschieben:  Nachdem klar ist, dass sie an der historischen Demonstration vom letzten Freitag nicht vorbeikommt (Zahlen gehen inzwischen von ca. 2 Millionen Demonstrierenden in ganz Chile aus, dabei alleine in der Hauptstadt Santiago 1,2 Millionen) versucht sie weiterhin diese massive Demonstration für sich zu vereinnahmen und erklärt, dass die Demonstration gestern in Santiago nichts mit der Demonstration von letztem Freitag zu tun hätte. „Das sind nicht dieselben Leute vom historischen Marsch. Diese Leute wollen nur Chaos und Zerstörung“. Und auch die Opposition schwenkt ein auf den Zug der Distanzierung. Beatriz Sanchez, Anführerin der Frente Amplio, verurteilt die Gewalt: „Mit Plünderungen, mit Anzünden, ändert sich Chile nicht“.  Doch die Proteste sind nicht angeführt von der parlamentarischen Opposition, im Gegenteil richten sich die Proteste auch gerade gegen alle parlamentarischen Parteien, die in den letzten 30 Jahren es nicht geschafft haben, die soziale Krise in Chile zu entschärfen. Im Gegenteil ist die Spaltung der Gesellschaft eine eiternde Wunde, die von den den bisherigen Regierungen nur mit Mühe zugepflastert wurde, ohne sie wirklich ernst zu nehmen. Die sozialen Proteste jetzt sind der starke Ausdruck eben dieser Spaltung, die Gewalt ein scheinbar notwendiges Mittel um sich überhaupt Gehör zu verschaffen und die Plünderungen eine direkte Umverteilung von oben nach unten. Daher sind sie in der chilenischen Gesellschaft bis hinein in die Mittelschicht als aprobates Mittel des Kampfes gesehen. Egal, was Politiker und Mainstreampresse heucheln. Gerade Apotheken, die immer wieder im Zentrum von Plünderungen stehen, müssen sich vorwerfen lassen, die letzten Jahrzehnte auf Kosten von kranken Menschen immense Profite gemacht zu haben und so teilweise lebenswichtige Medikamente der nicht zahlungskräftigen Bevölkerung vorenthalten zu haben. Auch ist interessant, dass der Diskurs wieder versucht wird zu verschieben, dass die Gewalt von den Protestierenden ausgeht. War es doch der Staat, der mit seinem rücksichtslosen Vorgehen im Laufe der Proteste für Gewalt steht. Die am Sonntag Abend veröffentlichten Zahlen des Menschenrechtsinstituts sprechen eine deutliche Sprache…“

Chile: Mehrheit der Bevölkerung gegen Piñera, Aufruf zum Generalstreik“ von David Rojas-Kienzle am 29. Oktober 2019 bei amerika21.de externer Link zur Entwicklung der Stimmungslage und den Reaktionen darauf unter anderem: „… Die Politik von Sebastián Piñera, der von einer Koalition von rechten bis faschistoiden Parteien wie der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) gestützt wird, wird laut einer Umfrage des Instituts CADEM von 78 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Studie abgelehnt. Lediglich 14 Prozent stimmen seiner Politik zu. So niedrige Werte hatte vor Piñera noch kein Präsident. Die Umfrage wurde am 23. und 24. Oktober durchgeführt, mitten in der heftigsten politischen Auseinandersetzungen seit dem Ende der Militärdiktatur 1989…(…) Indes mobilisierten soziale Organisationen für den Wochenbeginn zu erneuten Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast La Mondeda. Und für den 30. Oktober haben über hundert Gewerkschaften und andere Organisationen zu einem Generalstreik aufgerufen. Dabei wird neben dem Rücktritt von Piñera auch eine verfassungsgebende Versammlung gefordert. Diese Forderung erheben soziale und politische Organisationen seit Jahren. Die derzeit geltende Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990). Der General legitimierte damit die neoliberale Umstrukturierung des Landes. Das Staatsvermögen wurde privatisiert und die staatlichen Leistungen extrem reduziert. Bis heute sind Wasser, Strom, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Piñeras Amtsvorgängerin Michelle Bachelet setzte das Projekt „Neue Verfassung“, das zu ihrem Regierungsprogramm gehörte, nicht um…“

„Comunicado mapuche sobre el movimiento social chileno“ am 29. Oktoer 2019 bei Clajadep-LaHaine externer Link dokumentiert ist Erklärung (und Aufruf zur Beteiligung) der Alianza Territorial Mapuche (ATM) zur aktuellen Entwicklung, in der die Indigenen-Koordination – deren Kampf gegen Diskriminierung bisher oftmals vom Rest der Gesellschaft isoliert wurde – ihre Unterstützung deutlich macht, auch unter Verweis darauf, dass ihnen der repressive Charakter des neoliberalen chilenischen Staates nur allzugut bekannt sei.

„Unionized workers at BHP’s Escondida mine in Chile to walk-off Tuesday“ von Dave Sherwood am 29. Oktober 2019 bei Reuters externer Link meldet, dass die Belegschaft der größten Kupfermine der Welt beschlossen habe, an diesem Tag einen Proteststreik zu organisieren, um ihre Unterstützung der Protestbewegung deutlich zu machen. Der Beschluss, so die Gewerkschaft Nummer 1 bei La Escondida, sei nahezu einstimmig gefasst worden…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156548
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