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Die größte Landbesetzung der Geschichte Brasiliens: Mitten in der Stadt

Der Beginn der Demonstration der Massenbestzung in Sao Bernardo am 31.10.2017Seit dem 01. September 2017 haben in Sao Bernardo – das „B“ im Industriegürtel ABC rings um Sao Paulo – inzwischen rund 8.000 Familien Gelände besetzt und ihre Planen aufgeschlagen und damit die größte einzelne Landbesetzung der brasilianischen Geschichte organisiert, die Besetzung „Volk ohne Angst“ (Povo sem medo), organisiert von der MTST (Bewegung der obdachlosen Arbeiter). Am Dienstag, 31. Oktober 2017, organisierten sie von dort aus einen beinahe 25 Kilometer langen Marsch zum Gouverneurspalast von Sao Paulo. An dem sich zuerst 10.000, am Ende über 20.000 Menschen beteiligten – was dazu führte, dass selbst brasilianische Dreckschleuder-Medien „vorsichtig“ berichteten. Die Forderungen waren Anerkennung der Besetzung, also Enteignung des Landes (als Sicherheit gegen Polizeiüberfälle) und Aufnahme der Familien in ein Wohnbauprogramm am Ort – die Abschaffung aller solchen Programme ist  ja eines der Ziele der ungewählten Bundesregierung Temer. Die Regierung des Bundesstaates Sao Paulo zeigte sich angesichts dieser so noch nicht da gewesenen Massenmobilisierung „kompromißbereit“ und empfing eine Delegation der Besetzung zu Verhandlungen. Ein Solidaritätskonzert eines der beliebtesten Musikers des Landes, Caetano Veloso, am Vorabend der Demonstration auf dem besetzten Gelände wurde von einer (ebenfalls, allerdings unrühmlich, bekannten) Richterin verboten: Aus „Sicherheitsgründen“. Wessen Sicherheit bei dieser Entwicklung wovon bedroht ist, ist Gegenstand unserer kurzen kommentierten Materialsammlung „Volk ohne Angst: Massenbesetzung in Sao Bernardo“ vom 01. November 2017:

„Volk ohne Angst: Massenbesetzung in Sao Bernardo“

Es gab Augenblicke in der brasilianischen Geschichte, die größere Besetzungsbewegungen erlebt haben. Aber eben niemals in der Stadt – und nie eine einzelne in dieser Größenordnung. (Die hunderttausendfache Besetzungsbewegung der Bauernligen im brasilianischen Nordosten waren zumindest der letzte Grund für den Militärputsch 1964, nachdem die gewählte Regierung sich geweigert hatte, sie zusammenschießen zu lassen, die Landlosenbewegung MST hatte in den 90er Jahren mehrfach viele Besetzungen gleichzeitig organisiert, die MTST selbst hatte seit 1997 schon mehrfach Großbesetzungen organisiert). Und vor allen Dingen: In einer Situation, da die politische Rechte, inklusive der Rechtsradikalen der „Bewegung Freies Brasilien“ (MBL), samt ihrem kommenden Präsidentschaftskandidaten Bolsonaro (in der demokratischen Bewegung des Landes zutreffend Bolsonazi genannt), sich in der Oberhand wähnt. Und es zumindest insofern auch ist, als die Situation der offenen Gewerkschaftsspaltung nach dem historischen Generalstreik vom 28. April diesen Jahres sich auf die politische Stimmung ausgewirkt hat in einem Umschwung, vom Siegesgefühl zur „melancholischen Niederlage“ wie es ein bekannter linker Kommentator formulierte.

„A ocupação Povo Sem Medo como espelho do país“ am 23. Oktober 2017 bei Esquerda Online externer Link ist ein Beitrag der, wie der Titel besagt, die Besetzung als Spiegel der Situation im ganzen Land betrachtet. Ein Spiegel, den die Industriezone rund um Sao Paulo ohnehin biete, mit inzwischen beinahe einer Viertel Million erwerbsloser Menschen und vielen Tausend, die beispielsweise extreme Probleme haben, ihre Miete zu bezahlen. Dass Mitte September bei einem geplanten Konzert aus den benachbarten Wohnanlagen auf die Besetzung geschossen wurde sei ebenfalls ein Spiegel – denn dort wohnen keine reichen Leute, sondern solche, die ebenfalls unter den Auswirkungen der kapitalistischen Krise leiden. Hier könne die nötige und tatsächlich stattfindende organisierte Solidarität mit der Besetzung eine wesentliche Rolle spielen – um die Hetze der Präfektur und ihrer Medien verstummen zu lassen.

„#GrandeMarcha“ war der Twitterkanal externer Link mit dem zur Demonstration in die nahe gelegene Landeshauptstadt mobilisiert wurde – und wo jetzt die aktuellen Berichte über die große Demonstration dokumentiert werden – inklusive zahlreicher Fotos und Videos, die nicht nur die Größe der Demonstration zeigen, sondern auch die positive Stimmung der Teilnehmenden.

„MTST faz Marcha de São Bernardo a São Paulo contra despejo de ocupação“ am 27. Oktober 2017 beim linken Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link war der Aufruf der Föderation, sich an der Demonstration der Besetzung zu beteiligen – hier als ein Beispiel für zahlreiche andere progressive Gruppierungen, die zur Unterstützung der Aktion aufriefen. Bei der Intersindical war diese Haltung schon deshalb erwartet worden, weil sie unter anderem in ihren Reihen mehrere lokale Gewerkschaften von StraßenhändlerInnen hat, die in ähnlichen Umgebungen und Bedingungen leben müssen.

„E a Grande Marcha dos Sem Teto chega ao palácio dos bandeirantes“ am 31. Oktober 2017 ebenfalls bei Intersindical externer Link ist das Video der Ankunft der Besetzungsdemonstration am Gouverneurspalast in Sao Paulo, das, aufgrund der am Ende nochmals angewachsenen Zahl der DemonstrantInnen allerdings beinahe eine Stunde dauert…

„Manifestação do MTST marcha até o Palácio dos Bandeirantes em defesa da moradia“ am 31. Oktober 2017 bei Esquerda Diario externer Link ist ein Bericht über den Beginn der Demonstration – vor dem Treffen mit der Unterstützungsdemonstration – die vom besetzten Jardim Planalto ausging, einem Park im Besitz einer Spekulantengruppe, die seit Jahren nicht einmal die Grundsteuern bezahlt habe, der unmittelbar neben der Scania-Fabrik liegt, in der 1978 einer der Ausgangspunkte der neuen Gewerkschaftsbewegung lag, die die Militärdiktatur stürzte.

„Uma Nova Canudos em São Bernardo do Campo“ am 31. Oktober 2017 bei der PCB externer Link (Brasilianische Kommunistische Partei) ist die kommentierte Dokumentation eines Beitrags über diese Besetzung, die sie in ihrer Bedeutung und ihrem Verlauf und ihrer Entwicklung mit der „Kommune von Canudos“ vergleicht, die vor rund 120 Jahren Fokus des Widerstandes gegen die „Republik der Generäle“ gewesen war. Von urbanem Landbau bis zu Entscheidungen in Vollversammlungen entwickelt diese Besetzung, geleitet von Männern und Frauen, Modelle alternativen Zusammenlebens.

„“Negociação se abriu, queremos saber como vai acabar“, diz Boulos após marcha do MTST“ am 31. Oktober 2017 bei Brasil de Fato externer Link ist ein Bericht vom späten Abend nach der Demonstration und nach 3 Stunden Verhandlung der Delegation der BesetzerInnen mit der Landesregierung. Darin wird der Sprecher des MTST, Guilherme Boulos, über die Ergebnisse der Gespräche der 9-köpfigen Besetzungsdelegation mit zwei Ministern der Landesregierung befragt, mit der Aussage zitiert, Verhandlungen hätten begonnen, jetzt müsse man sehen, welche weiteren Ergebnisse dabei erreicht würden. Bis jetzt sei zugesagt, die Familien der Besetzung offiziell als Wohnungssuchend bei der entsprechenden Behörde zu registrieren (was grundsätzlich einen Anspruch bedeutet – und auch eine Grundvoraussetzung für eine Enteignung des Geländes wäre – und auch eine Absicherung zumindest gegen sofortige Räumung), sowie die weitere Zusage „in jedem Fall“ konkrete Wohnangebote für alle zu organisieren, sowie einen offiziellen Besuch von Vertretern der Landesregierung vor Ort. (In dem Beitrag ist auch ein Video über die Demonstration enthalten).

„PARA O PREFEITO DA BURGUESIA, SERES HUMANOS QUE NÃO TÊM ONDE MORAR E NEM O QUE COMER DEVEM SER TRATADOS COMO ANIMAIS“ am 31. Oktober 2017 beim Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link ist ein aus Anlass der Demonstration veröffentlichter Beitrag über den Umgang des Bürgermeisters des benachbarten Sao Paulo mit Obdachlosen . Der Mann, der gerne Präsident werden möchte, hatte im Juli höchst persönlich eine Aktion organisieren lassen, mit der jeden Morgen Menschen, die auf der Straße schlafen müssen, per Wasserwerfer verjagt werden. Dies einerseits als Hinweis auf die allgemeine Lage, in der die Besetzung stattfindet (und es sollte sich niemand täuschen: Auch in Brasilien gibt es genug SpießerInnen aller sozialen Klassen, die sich von Armut belästigt fühlen). Allerdings gibt es andrerseits eben auch – im Gegensatz zu Berlin, Köln, München etc. – auch Gewerkschaften, die gegen diese Hasspolitik Front machen. (Falls jemand zur BRD anderes weiß, würden wir dies gerne vermelden – zu uns ist nichts davon durchgedrungen).

„Movimentos de luta por moradia de MG se reúnem com governador e discutem reivindicações“ am 02. Oktober 2017 beim Gewerkschaftsbund CSP Conlutas externer Link ist ein kurzer Bericht über ein Gespräch des Gouverneurs des benachbarten Bundesstaates Minas Gerais mit VertreterInnen von nicht weniger als 9 Besetzungen im Bundesstaat, in dem diese ihre Forderungen vortrugen – als eines von mehreren möglichen Beispiel sowohl dafür, dass es inzwischen landesweit eine regelrechte Besetzungsbewegung gibt , wie auch dafür, dass nur dort, wo gekämpft wird, auch Zusagen errungen werden.

„‘É a primeira vez que sou impedido de cantar no período democrático’, diz Caetano“ am 30. Oktober 2017 bei der Rede Brasil Atual externer Link ist ein Interview mit Caetano Veloso unmittelbar nach dem Verbot seines Auftritts bei der Besetzung. Es sei das erste Mal seit der Militärdiktatur, dass ihm ein Auftritt verboten werde (damals war das oft geschehen) so der Musiker und Komponist. Aus Sicherheitsgründen eine solche Show verbieten setze doch zumindest voraus, dass es irgendeine Art von Inspektion gegeben habe, was aber nicht der Fall sei. Gemeinsam mit anderen KünstlerInnen, unter anderen „Brasiliens beliebteste Schauspielerin“ Sonia Braga rief er zum Abschluss zur Teilnahme an der Demonstration am folgenden Tag auf. (Am selben Tag wurde eine Verfügung der Justiz in Rio de Janeiro öffentlich, der zufolge drei Aktivisten des MBL ihre Facebook-Hasstiraden gegen Veloso löschen müssen).

„Juíza que proibiu show de Caetano em ocupação do MTST é suspeita de trabalhar para o PCC“ am 31. Oktober 2017 bei Esquerda Diario externer Link ist ein Beitrag über die Richterin, die das Verbot der Caetano-Show verfügt hatte, worin berichtet wird, dass das Verfahren gegen die gute Frau von 2007 nichtöffentlich geführt wurde: Wegen Mitschnitte eines Telefonats mit einem zentralen Geldwäscher der PCC-Mafia, die in den Medien dokumentiert worden waren. Scheißegal, ob legale oder illegale Geldwäscher…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=123441
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