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Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff: Der Wille der Menschen in Brasilien ist soviel wert wie jener der Menschen in Griechenland

Plakat gegen den brasilianischen Putschpräsidenten Temer bei der Demonstration vor dem Senat in Brasilia am 12. Mai 2016Egal, wie die heutige Abstimmung im brasilianischen Senat ausgehen mag, das ganze Verfahren hat die politische Landschaft Brasiliens verändert. Selbst bei einem (unwahrscheinlichen, aber möglichen) Scheitern der Amtsenthebung wären bei einer Neuwahl entweder ein Sieg der Rechten oder ein fortgesetztes Patt das wahrscheinlichste Ergebnis. 54 Millionen Stimmen, deutliche 2 Millionen mehr als Gegenkandidat Neves – was sind die wert, gegen die Stimme der organisierten Kriminalität im heutigen Kapitalismus? Eines Zusammenschlusses wie der FIESP (Unternehmerverband des Bundesstaates Sao Paulo, mit beachtlicher bundesdeutscher Mitgliedschaft), der die Hass-Kampagne finanziert hat, einer Propaganda-Dreckschleuder wie TV Globo, die selbst noch die mindesten Anforderungen an Journalismus zu Gunsten der Hetze fallen lässt, einer Bande zahlreicher gerichtlich überführter Krimineller, die sich trotzdem noch Abgeordnete und Senatoren nennen? Siehe dazu unsere aktuelle Materialsammlung „Auch in Brasilien: Wählerwillen gegen Unternehmer-Interessen – wer gewinnt wohl im Kapitalismus?“ vom 30. August 2016:

„Auch in Brasilien: Wählerwillen gegen Unternehmer-Interessen
– wer gewinnt wohl im Kapitalismus?“

Eines der Grundprobleme der Auseinandersetzung ist, dass die Arbeiterpartei PT seit langem dermaßen völlig auf den Parlamentarismus eingeschworen ist, dass sie selbst seine Missachtung mit trägt: Nicht nur, dass sie an sehr vielen Orten bei der anstehenden Kommunalwahl im Oktober mit eben jenen Banden koaliert, die sie heute in Brasilia aus der Regierung drängen – auch die Haltung von Dilma Rousseff bei dem live über zahlreiche Sender übertragenen Marathon im Senat ist Ergebnis dieser wenig perspektivenreichen Haltung. Wenn Wahlverlierer Neves als Senator der Präsidentin „Verbrechen“ vorwirft, dann antwortet sie ihm mit Fakten. Im Rahmen des Verfahrens eben – sehr gekonnt, aber begrenzt. Die Alternative wäre: Die Herausforderung anzunehmen. „Lass uns also über Verbrechen reden – über Deine Verbrechen, Neves, wie etwa als Gouverneur die Umweltbehörde angewiesen zu haben, den im November 2015 eingestürzten Staudamm von Mariana zu genehmigen“ …

Das Verfahren, seine Bedeutung  – und der Widerstand

„Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff verteidigt sich im Senat“ von Mario Schenk am 30. August 2016 bei amerika21.de externer Link ist ein aktueller Beitrag zum laufenden Verfahren, in dem über die einleitende Rede der Präsidentin und die darauf folgende Befragung berichtet wird: „Neben der Auseinandersetzung um die Tragweite für das demokratische System ging sie in der einstündigen Rede auf die inhaltlichen Komponenten ihrer Regierung ein. So stünden mit ihrer Absetzung die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften der vergangenen 13 Jahre auf dem Spiel, warnte Rousseff die „Jury aus Senatoren“. Verbessert habe sich die ökonomische Lage der Ärmsten und der Mittelschicht, der Zugang von Jugendlichen zu Hochschulen, die Erhöhung des Mindestlohns, der Zugang für alle zu medizinischer Versorgung, so Rousseff. Nun drohten die Privatisierung öffentlichen Eigentums und nationaler Rohstoffvorkommen wie der Milliarden US-Dollar schweren Erdölvorkommen Pre-Sal vor Brasiliens Küste“. Zur Befragung heißt es: „In dem anschließenden, 13-stündigen Schlagabtausch, in dem die Senatoren Rousseff in einem Plädoyer ihr Misstrauen oder ihre Unterstützung aussprachen, nahm die Sitzung den Charakter einer Parlamentsdebatte an, in der es um die bessere Regierungspolitik ging. Nur selten hatten die gegen Rousseff vorgebrachten Vorwürfe Bezug zum Amtsenthebungsverfahren

„Brasilien: Tränengas gegen Rousseff-Anhänger“ am 30. August 2016 in neues deutschland externer Link ist eine Meldung über den massiven Polizeieinsatz gegen eine Demonstration gegen das Amtsenthebungsverfahren in Sao Paulo und auch in Brasilia – vor dem Senatsgebäude – an denen jeweils einige Tausend Menschen teilnahmen. Ansonsten betont die Berichterstattung zumeist, es gäbe wenig Proteste, was im krassen Gegensatz steht zu Meldungen, welch starke Schäden die zahlreichen Autobahnblockaden an vielen Orten hervor gerufen hätten…

„AO VIVO | Senado discute impeachment de Dilma Rousseff“ ab 29. August 2016 bei El Pais externer Link (portugiesische Ausgabe) ist eine laufend aktualisierte Chronologie der Senatsdebatte (die auch heute fortgeführt wird) in der die wesentlichen Aussagen der jeweiligen Senatoren zusammengefasst werden. Größte Aufmerksamkeit rief dabei der Beitrag des Senators Requiao (von der Minderheitsströmung in der PMDB, der Partei des sogenannten Interimspräsidenten Temer) hervor, der massiv und leidenschaftlich vertrat, es handele sich nicht um einen Putsch gegen die Präsidentin, sondern gegen das brasilianische Volk.

„Impeachment: leia a íntegra do discurso de Dilma no Senado“ am 29. August 2016 bei DC externer Link ist eine von vielen Dokumentationen der Verteidigungsrede von Dilma Rousseff vor dem brasilianischen Senat am selben Tage

„Dilma fez discurso ‚duro e emocionante‘, diz jornal espanhol; veja repercussão“ am 30. August 2016 bei Brasil de fato externer Link ist eine knappe Übersicht über die weltweite Medienreaktion auf die Rede Dilma Rousseffs

„Alarmstufe: Rot“ von Peter Steiniger am 30. August 2016 in der jungen welt externer Link ist ein Beitrag, in dem im wesentlichen über die Anstrengungen des (sehr regierungsnahen) größten Gewerkschaftsbundes CUT berichtet wird, gegen das Amtsenthebungsverfahren zu mobilisieren. Darin heißt es unter anderem und nicht ganz unproblematisch: „Als die rechte Revanche Form annahm, besannen sich Präsidentin und Arbeiterpartei wieder stärker auf ihre Basis, mobilisierten die Straße gegen den parlamentarischen Putsch. Aktivisten und Initiativen sind in landesweiten Bewegungen wie Povo sem Medo und Brasil Popular zusammengeschlossen. Zu deren festem Kern zählen die »Cutistas«, die Gewerkschafter des größten Dachverbandes CUT (Central Única dos Trabalhadores). In der Hauptstadt Brasília wurde, auch mit ihrer Unterstützung, in der vergangenen Woche ein großes Protestcamp errichtet. Zehntausende sammeln sich hier, um der legitimen Präsidentin den Rücken zu stärken, welche am Montag vor dem Kongress ihre Verteidigungsrede hielt

„Dilma, a saída constitucional“ von Sammer Siman am 15. August 2016 bei den Brigadas Populares externer Link ist ein ausführlicher Beitrag des Mitglieds des Bundesvorstandes des Gewerkschaftsbundes Intersindical, der das historische Bündnis von Casa Grande (ein Begriff aus dem Buch Gilberto Freyres „Herrenhaus und Sklavenhütte“ – „Casa Grande e Senzala“) und Casa Branca (Weißem Haus) nachzeichnet, sowie die damit verbunden Profitinteressen und politischen Manöver. „Es handelt sich nicht um Regierung A oder B – es handelt sich darum, dass dem brasilianischen Volk der Krieg erklärt wurde“ ist einer der Kernsätze seiner Ausführungen. Darin schlussfolgert er unter anderem, dass die Rechte drei Mächte mobilisiert hat: Die Kommerzmedien, die Justiz und das Parlament – und jeder kommende Widerstand müsse sich ebenso sehr gegen die politischen Pläne der Reaktion richten, wie gegen die Instanzen, mit denen sie durchgesetzt werden sollen.

Worum es – unter anderem – geht

„Geopolitik und der Putsch in Brasilien“ von Achim Wahl am 20. August 2016 bei amerika21.de externer Link ist ein Beitrag, der die internationale Dimension der brasilianischen Krise behandelt. Neben vielen Ausführungen, die diskussionswürdig sind, sind darin auch wesentliche Punkte der Auseinandersetzung um den (halbstaatlichen) Ölkonzern Petrobras und die gigantischen Pré Sal Vorkommen vor der Küste – ein Kernpunkt der Putschisten ist die Privatisierung dieser enormen Profitquelle – behandelt. Zu den Verfahren um die Privatisierung der unterseeischen Ölvorkommen heißt es: „Umso verwunderlicher war, dass sich an der Versteigerung schließlich nur ein Konsortium mit Petrobras (40 Prozent), Shell, Total und die chinesischen Unternehmen CNPC/CNOOC zu je zehn Prozent beteiligte. Alle anderen westlichen Unternehmen wie Exxon, Mobil, BP und Chevron beteiligten sich nicht. Selbst für Spezialisten war die Nichtbeteiligung der drei großen westlichen Unternehmen eine Überraschung. Die brasilianische nationale Agentur hatte bis zu 40 Bewerber erwartet, von denen lediglich elf ihre Teilnahmegebühr bezahlten. Entscheidend war, dass die Petrobras als einziger Operateur eingesetzt wurde, die Transnationalen aber selbst nicht die Ausführenden sein werden und sich nicht der Petrobras unterordnen wollten. Anders gesagt, wollen sie keine Einmischung des brasilianischen Staates akzeptieren. Die Zeitung O Globo, immer auf Seiten der Opposition, nannte so auch die wahren Gründe der Nichtteilnahme: „Die neuen Regelungen versagen den Transnationalen die Oberhoheit, die der Petrobras obliegt.“ Von dieser Seite wurde das Gesetz von 2010 als „Intervention und Verstaatlichung“ bezeichnet. Am Beispiel Libra wurden die geopolitische Dimension, das nationale Interesse und die Sicherung der nationalen Souveränität deutlich

„Serra recebe executivos da Shell para fechar entrega do pré-sal“  von Guilherme Soares am 28. August 2016 bei Esquerda Diario externer Link ist ein Bericht über ein Treffen des sogenannten Außenministers der Interimsregierung – der einst bei der Präsidentschaftswahl vernichtend geschlagene Herr Serra von der PSDB – mit dem Chef von Shell Brasilien und dem Vize von Shell Global. Die wenig feinen Herrschaften diskutierten die Durchsetzung der Vorlage PLS 131 (deren Autor Serra ist), von der Shell bereits öffentlich bekundet hatte, sie sei sozusagen die Voraussetzung für die Realisierung geplanter massiver Investitionen in Brasilien (freilich, wie überall: Und die vielen, vielen Arbeitsplätze, nicht wahr?). Was diese PLS 131 besagt: Dass künftig nicht mehr notwendigerweise alle Ölprojekte unter der Leitung der Petrobras stehen müssen…

„Do Pré-Sal não abro mão“ ist die Protest-Seite der Ölarbeitergewerkschaft des Bundesstaates São Paulo externer Link (die der oppositionellen Ölarbeiterföderation FNP angehört) mit der unter anderem eine Petition gegen eben diese im vorigen Artikel genannten Schritte betrieben werden soll – wie gegen alle Privatisierungsbestrebungen des Vorkommens überhaupt

„Agrarlobby in Brasilien ficht Arbeit der Reformbehörde an“ von Mario Schenk am 27. August 2016 bei amerika21.de externer Link ist ein Beitrag über eine weitere „Baustelle“ der Reaktion – und zwar eine wichtige, sind doch frühere Großgrundbesitzer und heutige Agrokapitalisten eine wesentliche Basis des rechten Angriffs. Dazu heißt es: „Eine Gruppe aus 200 Abgeordneten rechtskonservativer Parteien hat vergangenen Mittwoch beim Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia, das Gesuch eingereicht, die Kommission zur Untersuchung der Rolle von Incra und Funai bei der Landvergabe wiederzubeleben. Für die Einsetzung einer Untersuchungskommission muss ein Drittel der Abgeordneten stimmen. Ziel der Kommission soll es sein, angebliche „Unregelmäßigkeiten“ der beiden Behörden bei der Übertragung von Land an Indigene oder Landlose und Kleinbauern aufzudecken. Des Weiteren sollen Fälle von Gewalt auf dem Land und die „Verstrickung von Nichtregierungsorganisationen in das Geschäft der Agrarreform“ untersucht werden

„Plano de inclusão produtiva: assim Temer nomeia o fim dos programas sociais“ von Guilherme Soares am 28. August 2016 bei Esquerda Diario externer Link ist ein Beitrag über die Pläne der sogenannten Interimsregierung mit der Bolsa Família. Diese war in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen aus dem ärmsten Schichten des Landes eine echte Hilfe, mag sie auch gering gewesen sein. Was Temer jetzt ankündigt ist, man werde dies dahingehend verändern, dass die aktive Suche nach Arbeit belohnt werde. (Vielleicht hat ihm jemand einen Text zu „Fordern und fördern“ übersetzt?) Eine Abschaffung erscheint kaum möglich, also muss über die Argumentation, dass keine Faulheit gefördert werden dürfe, das Projekt bis zur Nichtigkeit ausgehöhlt werden. Produktions-Inklusion wird das dann genannt…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=103671
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