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Nach dem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofes Brasiliens ist Ex-Präsident Lula (einstweilen?) frei. Ein Fortschritt – aber…

Straßenblockade der Landlosenbewegung MST in Parana am 6.4.2018Mit einer Stimme Mehrheit (6:5) hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens ein Grundsatzurteil gefällt: Nicht über Lula, sondern über die Gültigkeit der Verfassung von 1988. Erstaunlich genug, dass fünf „Minister“ (der Rang, den die obersten Richter innehaben) gegen die gültige Verfassung abstimmten, die eindeutig im § 57 besagt, dass jemand nur ins Gefängnis muss, nachdem er oder sie in allen Instanzen verurteilt, der Prozess abgeschlossen ist. Was dann eben zur Freilassung von rund 5.000 Gefängnis-Insassen führt, die erst in erster oder zweiter Instanz verurteilt sind und nicht in letzter Instanz, unter ihnen eben der Expräsident, der natürlich in der medialen „Aufbereitung“ im Zentrum stand (nicht aber in der Reaktion der Rechten Brasiliens: Während die Regierung zunächst sozusagen „schreiende Stille“ wahrte, mobilisieren ihre – zahlreichen – „Fußtruppen“ gegen das Urteil (und die Verfassung) – es sei ein Freibrief für Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder, wobei sie im Vorfeld per, auch bei ihnen üblichen, Fake News die Zahl der Betroffenen mal eben auf 140.000 hoch manipulierte…). Die Freilassung ist ganz ohne Zweifel auch Ergebnis der jahrelangen (580 Tage im Gefängnis) Solidaritätskampagne mit dem willkürlich fest gehaltenen Expräsidenten, der ja vor allem an der Kandidatur bei der 2018er Wahl gehindert werden sollte. Keineswegs übrigens vor allem von Bolsonaro, sondern weit mehr von den traditionellen RepräsentantInnen des Bürgertums, vor allem, daran sei hier erinnert, dem Unternehmerverband von Sao Paulo, mit starker Präsenz deutscher Unternehmen – dessen Organe, die Folha de Sao Paulo und TV Globo, auch sofort wieder ihre Hetzkampagne gegen Lula fortgesetzt haben. Diese Freilassung würde im Übrigen nicht bedeuten, dass er bei einer Wahl Kandidat sein könnte, was zunächst einmal vor allem heißt, dass der Kampf weiter geht – ein Kampf, den auch viele GewerkschafterInnen und Linke aktiv mit organisiert haben, die teilweise keineswegs für Lula stimmen würden, eben weil es um demokratische Prinzipien ging und geht und nicht vor allem um die Politik der PT, die diese offensichtlich ohne selbstkritische Anwandlungen fortsetzen möchte. Siehe in der Materialsammlung dazu je zwei aktuelle Beiträge zur Freilassung und den weiteren Absichten der PT, sowie ein Tondokument mit Lulas Rede im Gewerkschaftshaus nach seiner Freilassung und ebenfalls zwei Beiträge zur beginnenden öffentlichen Kampagne der rechten gegen die Verfassung (sowie der Kritik aller Gewerkschaftsföderationen Brasiliens daran):

„Frei, aber nicht begnadigt“ von Ivo Marusczyk am 09. November 2019 bei tagesschau.de externer Link meldete es am Tage nach der Haftentlassung so: „… Nach 580 Tagen konnte der Ex-Präsident die Zelle verlassen – und seine ersten Worte galten den Menschen die ihn Tag für Tag vor dem Polizeigebäude unterstützt hatten. In einem Punkt hat Lula sein Ziel noch nicht erreicht: Er ist frei, aber er gilt nicht als unschuldig. Er profitiert von einer Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes, zusammen mit Tausenden anderen Angeklagten. Denn die Obersten Richter haben entschieden, dass Straftäter eine Haftstrafe erst antreten müssen, wenn die letzte Instanz ihr Urteil gefällt hat. Bis jetzt galt in Brasilien die Regeln, dass Haftstrafen schon vollstreckt werden, wenn die Berufung noch läuft. Deswegen musste die Justiz den Politiker auf freien Fuß setzen. Ob sein Urteil – acht Jahre Haft wegen Bestechlichkeit – bestätigt oder verworfen wird, darüber entscheiden die Obersten Richter erst in ein paar Monaten. Lula bleibt bei seiner Sicht, dass die Justiz ein Komplott geschmiedet habe, um ihn hinter Gitter zu bringen. (…) Selbst wenn das Oberste Gericht dieses Urteil bestätigt, muss Lula wahrscheinlich nicht zurück ins Gefängnis – er kann damit rechnen, den Rest der Strafe im Hausarrest abzusitzen. Doch genau das will Lula nicht – denn dann könnte er weiter nicht für öffentliche Ämter kandidieren. Der 74-Jährige will sich wieder in die Politik stürzen gegen Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro. Direkt vor der Haftanstalt sagte Lula ihm den Kampf an. Er wolle beweisen, dass dieses Land besser sein könne, wenn es eine richtige Regierung habe. „Und nicht jemanden, der über Twitter so viel lügt wie Bolsonaro. Er hat nicht mal den Mut, direkt mit seinem Volk über die Probleme und Lösungen für sein Volk zu reden.“ Schon vor einem Jahr wollte Lula noch einmal bei der Präsidentschaftswahl antreten – Umfragen sahen ihn als klaren Sieger…“ – wobei hinzuzufügen ist, dass eben die „Regel, die bisher galt“ Grund für die Verfassungsbeschwerde war, wegen des dortigen, eingangs erwähnten Paragraphen 57 (dass die Regeln zugunsten Lulas geändert worden seien ist übrigens eine der Behauptungen, die die Rechten in ihrer aktuellen Gegenpropagandawelle kontinuierlich verbreiten).

„Lula in Brasilien wieder in Freiheit und direkt kämpferisch gegenüber Bolsonaro“ von Jonathan Pfeifenberger am 10. November 2019 bei amerika21.de externer Link erinnert nochmals an die Umstände der Lava Jato Kampagne und jüngste „Entdeckungen“: „… Lula werden jetzt aber von Experten gute Chancen eingeräumt, dass das gegen ihn verhängte Urteil ganz gekippt wird. In den letzten Monaten war infolge von Veröffentlichungen der Plattform „The Intercept“ eine offensichtliche politische Motivation für das Urteil gegen ihn öffentlich geworden. Der 74-Jährige war in einem auch international äußerst umstrittenen Prozess im Zuge der „Lava Jato“-Ermittlungen wegen angeblicher Korruption verurteilt worden. Wie lange Lula nun tatsächlich in Freiheit bleiben kann, muss sich jedoch erst noch herausstellen. Sollte er aber in Freiheit bleiben, könnte er sich auch für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 aufstellen lassen. Er verspüre Lust darauf, sagte er bereits unmittelbar nach seiner Freilassung. Von verschiedenen linken Politikern aus Lateinamerika kamen positive und freudige Reaktionen…“

„Ouça o discurso completo do ex-presidente Lula em São Bernardo do Campo“ am 09. November 2019 bei Brasil de Fato externer Link Audio Datei ist die (Ton-) Aufzeichnung der Ansprache Lulas am Tage nach seiner Entlassung beim offiziellen „Empfang“ im Haus der Metallgewerkschaft von Sao Bernardo (Großraum Sao Paulo), worin er im Wesentlichen ankündigt, ab sofort durchs Land zu reisen, um eine Kampagne gegen die Bolsonaro-Regierung zu stärken, die „für Brasilien“ dringend nötig sei und dabei auch klar macht, dass er den von ihm und seiner Regierung verfolgten politischen Kurs fortzusetzen gedenkt, ohne größere Korrekturen. Im Mittelpunkt seiner Angriffe standen dabei das ganze Projekt „Lava jato“ mit dem die Reaktion die PT als politische Kraft zu mindestens marginalisieren wollte und eben Lula als möglichen Kandidaten verhindern, aber auch TV Globo als Haupt-Plattform dieser Kampagne, während er weiterhin „schonend“ blieb in bezug auf den Stichwortgeber (und Finanzier) der Lügenkampagne, den Unternehmerverband von Sao Paulo.

„Depois de artigo justificando o AI-5, Mourão questiona decisão do STF“ am 09. November 2019 bei Esquerda  Diario externer Link war die erste Meldung über eine Reaktion der Regierung auf die Freilassung Lulas  – im übrigen eine (vermutlich) von Bolsonaro nicht erwünschte: Vizepräsident General Mourao kritisierte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes. So werde der demokratische Rechtsstaat pervertiert, wird die Aussage des bekennenden Anhängers des Dekrets AI-5 (Verfassungsakt Nummer 5) zusammengefasst – und wer AI 5 verteidigt, hat eine klare Auffassung von Rechts-Staat. Das Gesetz mit dem die Militärdiktatur vor über 50 Jahren die offene tödliche Jagd auf alles irgendwie Oppositionelle eröffnete (und „legalisierte“). Diese Auslassungen des Generals können überhaupt nur verstanden werden als ein weiterer Baustein in der Kampagne gegen die bestehende brasilianische Verfassung, zu der AI 5 in der Tat eine echte, rechte, faschistische Alternative wäre.

„Nota unificada das Centrais Sindicais contra as declarações de Eduardo Bolsonaro“ bereits am 01. November 2019 beim Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link dokumentiert ist eine gemeinsame Erklärung von 8 Gewerkschaftsföderationen gegen den Führer der Parteien der Regierungskoalition Eduardo Bolsonaro (Sohn) im Bundesparlament, der einen neuen Notstandserlass im Stile des damaligen AI 5 angedroht hatte, wenn die Linke „militant“ würde – eine Erklärung, die sozusagen den öffentlichen Auftakt der rechten Kampagne gegen die Verfassung von 1988 bedeutete. Die Gewerkschaften unterstreichen in dieser Erklärung den faschistischen Charakter des AI 5 Dekrets der damaligen Militärdiktatur – und fordern die Ethik-Kommission des Parlaments auf, ein Verfahren gegen Bolsonaro Junior einzuleiten. Geäußert hatte Bolsonaro diese Drohung während des Beginns des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof – und als Antwort auf Enthüllungen, die die Nähe seiner Familie zu den mordenden Milizen von Rio de Janeiro öffentlich machten.

„»Legt euch nicht mit Lula an«“ am 11. November 2019 in neues deutschland online externer Link ist ein Interview von Niklas Franzen mit Eduardo Suplicy, in dem der langjährige PT-Senator unter anderem zur Frage ob die Zentrierung auf Lula nicht ein Fehler sein könnte unterstreicht: „… Das denke ich nicht. Denn von der Freilassung von Lula wird die gesamte Linke profitieren. Wir als Arbeiterpartei müssen uns jetzt auf die Kommunalwahlen vorbereiten, die im kommenden Jahr stattfinden werden. Und dabei wird ein freier Lula sicherlich von Vorteil sein. Wir rechnen mit großen Stimmzuwächsen für unsere Partei...“

„Lula mahnt Linke zur Einheit“ von Hannah Lorenz am 11. November 2019 in der jungen welt externer Link einleitend zu Lulas ersten Positionierungen nach seiner Freilassung: „… »Ich bin zurück«, betonte Lula am Sonnabend vor Tausenden Anhängern am Sitz der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo im Bundesstaat São Paulo. Es gebe heute mehr Armut, weniger Gesundheit, weniger Wohnraum und weniger Arbeitsplätze im Land, stellte er fest. Bolsonaro missachte die Rechte der Schwächsten in der Gesellschaft. Die Wirtschaftspolitik des Präsidenten und seines Wirtschaftsministers Paulo Guedes diene allein den Interessen des Auslandskapitals und der reichen Eliten. Geeint würden die linken Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften jedoch bei den Präsidentschaftswahlen 2022 gegen die extreme Rechte Erfolg haben…“

„O dia seguinte ao Lula Livre“ von Golbery Lessa am 08. November 2019 bei der PCB externer Link (Brasilianische Kommunistische Partei, die deutlich kleinere der beiden KP in Brasilien) ist eine Stellungnahme der Parteileitung, die die Freilassung begrüßt – war sie doch auch an der entsprechenden Kampagne beteiligt – aber eine Reihe kritischer Fragen aufwirft, vor allem nach dem künftigen Kurs der PT, wenn man einmal von der während seiner Haftzeit geradezu messianisch gewordener Rolle absehe. Denn auszugehen sei von der Tatsache, dass die PT nicht – zu mindestens nicht schnell – in der Lage sein werde, die führende politische Rolle in den industrialisierten Bundesstaaten (nicht nur) des Südwestens wieder zu erobern, die sie eindeutig verloren habe. Während sie sie im Nordosten noch innehabe, wobei sich unter beiden Bedingungen die Frage aufdränge, ob eine neoliberale Politik mit sozialer Abfederung – so ungefähr die traditionelle Kritik der PCB an der PT und Lulas Kurs – weiterhin oder nochmals eine aussichtsreiche Perspektive sei…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=157113
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