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Ein General, der die Verfassung bricht. Ein Kandidat, der zum Mord an Linken aufruft – und ein sozialdemokratischer Ersatz: Schicksalswahl für Brasilien

"Die Amngst hat die Seiten gewechselt" Volksbrigaden Plakat am 24.5.2017 in BrasiliaWahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“ – eine Aussage, deren globaler Wahrheitsgehalt mit den Jahren noch mehr angewachsen ist. Eine aktualisierte Variante wird heute im Brasilien des Unternehmer-Putsches von 2016 verwirklicht: Die Wahl ist nicht verboten, es darf sich eben nur nichts ändern. Also sorgt eine Riege reicher Richter dafür, dass die ungebremste neoliberale Gegenreform weiter gehen kann, indem ein aussichtsreicher sozialdemokratischer Kandidat nicht teilnehmen darf. Die Zeiten eines, auch noch so begrenzten, sozialen Ausgleichs sind auch im modernen brasilianischen Kapitalismus endgültig vorbei. Und während die PT an Stelle Lulas nun den früheren Paulistaner Bürgermeister Haddad – als seinen Platzhalter („Haddad ist Lula“) – ins Rennen schickt, hat das Bürgertum Probleme mit seinem eigentlichen Kandidaten Alckmin, den kaum jemand will. Denn jetzt führt in allen Umfragen der rechtsradikale Ex-Offizier Bolsonaro, bis zu Lulas rechts-richterlichem Ausschluss weit abgeschlagen. Der Fan des früheren brasilianischen Folterregimes der Militärs von 1964 bis 1985, verbreitet unter anderem, man müsse PT-Wähler ohnehin erschießen. Und hat für seine Hasstiraden ein (unfreiwilliges?) Zentralorgan, die Medien-Dreckschleuder Globo (vergleichbar dem Verhältnis von AfD und Blödzeitung). Und einen Fürsprecher: Den Oberkommandierenden der Armee, der seine (keineswegs nur) persönliche Meinung entgegen aller gesetzlicher Bestimmungen durch die Gegend trompetet, unter anderem eben, dass Lula nicht an den Wahlen teilnehmen dürfe. (Nicht alle) Gewerkschaften und soziale Bewegungen des Landes bereiten sich darauf vor, dass bei diesen Wahlen, die für den ganzen Kontinent von Bedeutung sind, ein Programm radikalen Sozialabbaus, enthemmter Privatisierungen und explosiver Vermehrung der Subunternehmen triumphieren soll, das auch mit blanker Gewalt durchgesetzt wird. Unsere aktuelle kommentierte kleine Materialsammlung „Schicksalswahl in Brasilien“ vom 14. September 2018 soll ein Beitrag dazu sein, die Bedeutung dieser Wahlen und die Optionen der sozialen Bewegungen verständlich zu machen:

„Schicksalswahl in Brasilien“

(14. September 2018)

„Turbulenter Wahlkampf in Brasilien, Militär bezieht Stellung gegen Linke“ von Eva von Steinburg am 12. September 2018 bei amerika21.de externer Link zur Offensive der Militärs: „Seit das Oberste Gericht die Kandidatur des inhaftierten da Silva untersagt hat, gilt der ultrarechte Ex-Militär Jair Bolsonaro als neuer Favorit. Lula lag in den Umfragen zuletzt trotz Gefangenschaft zwischen 30 und 40 Prozent, Bolsonaro schaffte maximal 24 Prozent. Nach der endgültigen Blockade der Kandidatur Lulas durch die Justiz hat die Koalition aus Arbeiterpartei (PT), Kommunisten (PCdoBrasil) und der Partei Pros nun Haddad zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ernannt. Auf Drängen des Wahlkampfteams Bolsonaros hat das Oberste Wahlgericht zudem ein Werbevideo der Arbeiterpartei verboten. In dem Spot rufen Menschen: „Ich bin Lula“ und tragen dabei eine Maske mit dem Gesicht des Ex-Präsidenten. Fernando Haddad sagt in dem Spot: „Nichts kann verhindern, dass Lula das Land führt, denn wir sind Millionen Lulas.“ Der 63-jährige Kandidat Bolsonaro, der sich nach einem Messerstich in den Bauch bereits auf dem Weg der Besserung befand, muss sich im Albert-Einstein-Krankenhaus in São Paulo einer zweiten Operation unterziehen. In der Öffentlichkeit will er keine Wahlkampfauftritte mehr absolvieren. Nach der Attacke auf den Ex-Militär hat sich der brasilianische Armee-Chef General Villa Boas in einem Zeitungsinterview politisch eindeutig gegen Lula da Silva positioniert: Es sei das „schlimmste Szenario“, wenn ein Präsident gewählt würde, gegen den eine gerichtliche Untersuchung laufe. Politische Kommentatoren in Brasilien entgegnen darauf, dass Bolsonaro, der die Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht, auch kein Kandidat sein dürfe, da gegen ihn ebenfalls wegen Korruption ermittelt wird. Die Arbeiterpartei reagierte konsterniert auf die Äußerungen des Armeechefs: „Es ist schwerwiegend, dass sich ein derart hochrangiger Militär direkt in den Wahlkampf einmischt. So etwas ist seit den dunkelsten Jahren der Diktatur nicht mehr geschehen“, heißt es in der ausführlichen Stellungnahme der PT…

„Haddad soll die Stimmen holen“ von Andreas Behn am 12. September 2018 in der taz externer Link zum Ersatzkandidaten Haddad: „In Führung liegt jetzt der rechtsextreme ehemalige Fallschirmspringer Jair Bolsonaro. (…)  In jüngsten Umfragen steigerte er sich von 20 auf nun 26 Prozent vorausgesagten Stimmenanteil. Er gilt als Trump Brasiliens, will das Gewaltproblem mit der Bewaffnung aller Bürger lösen, wettert gegen Homosexuelle und Afrobrasilianer und ist bereits wegen diskriminierender Hetze gegen Frauen verurteilt worden. Gleichauf mit Haddad liegen drei weitere Kandidaten, denen Chancen auf den Einzug in die Stichwahl Ende Oktober eingeräumt werden. Der gemäßigt linke Ciro Gomes, die ehemalige Umweltministerin Marina Silva und der konservative Geraldo Alckmin, der als bevorzugter Kandidat des breiten rechten Lagers gilt, das 2016 die Amtsenthebung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff durchsetzte. (…) In São Paulo machte er sich vor allem als Umweltpolitiker und Stadterneuerer einen Namen. Vielen in den eigenen Reihen galt dies als eine Politik, die anders als sein Ziehvater Lula die sozialen Belange nicht ausreichend berücksichtigte. Die erfolgreichen So­zial­programme und die Umverteilungspolitik, die Millionen einen Weg aus der Armut wiesen, gelten als wichtigster Faustpfand der Arbeiterpartei…

„Haddad steht für Lula“ von Peter Steiniger am 12. September 2018 in der jungen welt externer Link zur frechen Attacke des Militärs: „Deckung erhält die Rechte aus dem Militär. Am vergangenen Sonntag veröffentlichte das Blatt O Estado de São Paulo ein Interview mit dem Chef des Heeres, General Eduardo Villas Bôas, in dem dieser auf eine mögliche Wahl Lulas bezogen vom »schlimmsten Szenario« sprach. Dies würde die Stabilität und Regierbarkeit des Landes gefährden, so die kaum verhüllte Drohung. Die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses, nach der Brasilien nach dem Zivilpakt Lulas Kandidatur nicht behindern dürfe, nannte Villas Bôas den »Versuch einer Einmischung in die nationale Souveränität«. Mit seinen Statements stellt der General die den Streitkräften nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 in der Verfassung zugewiesene Rolle in Frage.  Der im Volk verhasste Temer tritt gar nicht erst an. Ihre Nähe zu ihm ist auch der Chancentod für die großbürgerlichen Kandidaten Geraldo Alckmin von der PSDB und erst recht Henrique Meirelles von der Temer-Partei MDB. Dem am vergangenen Donnerstag während eines Wahlkampfauftrittes durch eine Messerattacke verletzten ultrarechten Bewerber, Jair Bolsonaro, dürfte das Medienecho den Einzug in eine Stichwahl sichern. Evangelikale Prediger feiern das Wunder seiner Rettung…

„Letter from Lula: “Now Haddad will be Lula for millions of Brazilians”“ am 12. September 2018 bei People’s Dispatch externer Link ist die englische Übersetzung des Offenen Briefs, in dem Lula seinen Verzicht auf die Kandidatur erklärt – ausdrücklich aber nicht einen Verzicht auf Widerstand gegen das Diktat der RichterInnen – und aufruft, Haddad als seinen Vertreter zu wählen. Dabei verweist er darauf, dass man wohl einen Menschen, nicht aber seine Ideen ins Gefängnis sperren könne – und die würden die Menschen erreichen, denn sie seien lauter, als die lauteste Propaganda der Globo und Konsorten.

„Agora é Haddad! CUT apoia o candidato de Lula à Presidência da República“ am 11. September 2018 bei der CUT externer Link ist die Erklärung und der Aufruf des größten Gewerkschaftsbundes Brasiliens zur Unterstützung der Wahlkampagne Haddads: Wer Lula wolle, müsse jetzt Haddad sagen, Haddad sei Lulas Kandidat, so der Tenor der Erklärung der PT-nahen Föderation.  Die Mitgliedschaft wird darin dazu aufgerufen, sich aktiv an der Wahlkampagne zu beteiligen.

„CUT repudia atos de violência das forças de segurança contra candidatos no PR“ am 11. September 2018 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link ist eine Pressemitteilung der CUT im Bundesstaat Paraná, wo am Nationalfeiertag 7. September zwei KandidatInnen der PT für das Landesparlament von Polizei und Kommunalwache ohne weitere Begründung festgenommen wurden, beziehungsweise mit Gummigeschossen überfallen, als sie Wahlkampf machten. Dies steht hier einerseits als eines von sehr vielen möglichen Beispielen „kleinerer“ alltäglicher Gewalt gegen linke WahlkämpferInnen aller möglicher Parteien (von der PT nach links) – eine ständige anwachsende Welle. Andrerseits ist dies aber auch ein Indiz für die „besondere Lage“ in der Landeshauptstadt Paranás: Das Gefängnis, in dem Lula festgehalten wird, liegt in Curitiba…

„Vergonha: Por 3 votos a 2, STF livra Bolsonaro de denúncia por racismo“ am 12. September 2018 beim Gewerkschaftsbund CSP Conlutas externer Link ist eine Stellungnahme der linken Föderation zum Urteil des Obersten Gerichtshofes am Tag zuvor – der mit 3 zu 2 Stimmen gegen die Eröffnung eines Verfahrens gegen Bolsonaro entschieden hat. Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte dieses Verfahren beantragt als Ergebnis des Auftritts von Bolsonaro im April 2017, als er auf einer Veranstaltung unter anderem behauptet hatte, die heutigen Quilombolas (Afrobrasilianer mit Sonderrechten aus dem Befreiungskampf der Sklaven) würden nicht einmal mehr zur Sklavenarbeit taugen, so faul seien sie. Die rechten Richter wollten das ihrem Gesinnungskumpan nicht als Rassismus auslegen, für die Gewerkschaft ein Schandurteil – und insgesamt ein weiterer Hinweis auf die extrem reaktionäre Atmosphäre, die im aktuellen brasilianischen Wahlkampf entstanden ist, besser: Erzeugt wird.

„Não temos tempo a perder“ von Paulo Pasin am 11. September 2018 beim Correio da Cidadania externer Link ist ein Artikel des Mitglieds im Vorstand der Metrogewerkschaft von Sao Paulo, in dem scharfe Kritik am Vorgehen der PT geübt wird. Der Autor, selbst aktiv in der Kampagne für Lulas Recht auf Kandidatur, unterstreicht, dass dies ein Kampf um demokratische Rechte sei, den er mit führe, obwohl er kein Wähler Lulas sei, sondern Aktivist der linkeren PSOL. Die PT aber habe den gesamten Kampf um die demokratischen Prinzipien stets dem Glauben an die staatlichen Institutionen untergeordnet und geleugnet, dass die Reaktion eine reale Möglichkeit sehe – erstmals seit 1985 – mit Bolsonaro oder – oder auch: und – den Militärs wieder direkt die Regierung zu übernehmen, eine Möglichkeit, die nun größer sei, als je zuvor, weswegen die Linke keine Zeit zu verlieren habe.

„Mais de um milhão de mulheres aderem rapidamente a grupo contra Bolsonaro no Facebook“ am 12. September 2018 beim Gewerkschaftsbund CTB externer Link ist ein Beitrag, in dem Gewerkschafterinnen des CTB zu Wort kommen, die daran mitarbeiten, die Facebook-Gruppe „Frauen gegen Bolsonaro“ zu organisieren, die seit ihrer Gründung am 30. August 2018 schon mehr als 1 Million Mitglieder hat. Die frauenfeindlichen Tiraden Bolonaros haben dazu geführt, dass die Ablehnung ihm gegenüber unter den 52% Wählerinnen, die es in Brasilien gibt, massiv zugenommen hat. In der Mobilisierung dieses Potenzials spielen gerade Gewerkschafterinnen eine wesentliche Rolle, nicht zuletzt, weil sie immer wieder das Prekarisierungsprogramm Bolsonaros zum Thema machen, unter dessen Verwirklichung vor allem Arbeiterinnen zu leiden hätten.

„Grito dos excluídos 2018: Desigualdade gera violência: basta de privilégios!“ am 04. September 2018 beim Gewerkschaftsbund Intersindical externer Link war der letzte Aufruf zum „Schrei der Ausgeschlossenen“, (hier für Sao Paulo) einer Aktion, die seit Jahren immer am Unabhängigkeitstag 7. September von zahlreichen sozialen Bewegungen organisiert wird. Darin wird von dem linken Gewerkschaftsbund vor allem unterstrichen, dass das „allgemeine Programm des Sozialabbaus“  im aktuellen Wahlkampf von allen bürgerlichen Parteien betrieben werde, sowohl der Rechten, als auch der Liberalen. Dem gelte es, gerade jetzt Widerstand zu leisten – auch, indem deutlich gemacht werde, dass niemand gewählt werden solle, der solch ein Programm vertritt…

Siehe zuletzt am 3. September 2018 zur Wahl: Um jeden Preis Lulas Kandidatur verhindern – und unbegrenzt Subunternehmen erlauben: Zwei Urteile brasilianischer Gerichte, die das Land verändern. Zugunsten der Rechten und der Reichen

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=137420
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