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Der Schauprozess gegen den brasilianischen Expräsidenten Lula – es soll keine Alternative geben: Verurteilung auch in zweiter Instanz aufrecht erhalten

Plakat gegen den brasilianischen Putschpräsidenten Temer bei der Demonstration vor dem Senat in Brasilia am 12. Mai 2016

Am Mittwoch, 24. Januar 2018, entschied das Berufungsgericht in Porto Alegre (ein Bundesgericht) mit allen drei Richter-Stimmen, dass die Verurteilung des brasilianischen Expräsidenten Lula in erster Instanz korrekt gewesen sei und wies den Einspruch Lulas und seiner Anwälte zurück. Das Strafmaß wurde sogar von neuneinhalb auf über 12 Jahre erhöht – eine direkte und offene Kampfansage auch an die vielen Zehntausend Menschen die in Porto Alegre selbst, aber auch in Sao Paulo gegen den Prozess demonstrierten – im Anschluss an die Bekanntgabe des Urteils gab es weitere Demonstrationen in Dutzenden von anderen Städten. Lula, der auch in jüngsten Wahlumfragen mit deutlichem Abstand führt, soll unter allen Umständen an einer Kandidatur gehindert werden – ein „sozialverträglich gestalteter“ Kapitalismus steht keinesfalls auf der Wunschliste der brasilianischen herrschenden Klassen. Kennzeichnend für die politischen Verhältnisse in Brasilien ist es aber auch, dass die massiven Polizeiaufgebote, die gegen die landesweite Solidaritätsdemonstration in Porto Alegre und anderswo aufmarschierten, dies entsprechend Gesetzen taten, die von der PT-Regierung erlassen worden waren. In der Meldung „Por 3 votos a 0, TRF-4 mantém condenação de Lula sem provas“ vom Abend des 24. Januar 2018 beim Gewerkschaftsbund CUT externer Link wird das Ergebnis der Verhandlung berichtet („Mit 3 zu 0 Stimmen hält das Bundesgericht der Region 4 die Verurteilung Lulas ohne Beweise aufrecht“) und darauf hingewiesen, dass weitere juristische Einspruchsmöglichkeiten bestünden, die auch wahrgenommen werden sollen. Lulas Partei bekräftigte die Aufrechterhaltung der Kandidatur. Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge über den Prozess und seine Bedeutung, sowie zwei Beispiele zu den  Debatten in Gewerkschaften und linken Organisationen um die Rolle der brasilianischen Sozialdemokratie:

  • „Endspiel in Porto Alegre“ von Andreas Behn am 23. Januar 2018 in neues deutschland externer Link, worin es zum Hintergrund des heutigen Prozesses unter anderem heißt: „Seit mehreren Jahren erschüttert ein Korruptionsskandal um Staatsunternehmen und Baukonzerne das politische System Brasiliens. Fast alle Parteien jeglicher Couleur stehen unter Verdacht. Zahlreiche Minister, Senatoren und Abgeordnete sind angeklagt. Zumeist geht es um die Vermittlung überteuerter Aufträge, für die die Konzerne Millionen an Schmiergeldern in Parteikassen und auf private Konten umleiteten. Präsident Michel Temer, der nach der höchst umstrittenen Amtsenthebung von Rousseff das höchste Staatsamt übernahm und dem größten Land Lateinamerikas eine neoliberale Rechtswende verpasste, konnte sich nur aufgrund seiner Immunität vor einem Prozess retten. Seine Parlamentsmehrheit beruht auf 200 Abgeordneten, die der Korruption oder Geldwäsche verdächtigt werden. Diese Allianz bewahrte Temer vergangenes Jahr mehrfach vor der Einleitung von Strafprozessen. Der Rechtsruck mit der Streichung sozialer Programme und der Privatisierung von Staatsunternehmen veranlasste Lula, sich erneut um die Präsidentschaft zu bewerben. Er ist der einzige PT-Politiker, der realistische Chancen auf einen Wahlsieg hat. Seine Partei war in 14 Regierungsjahren ebenfalls in korrupte Machenschaften verstrickt und ist längst im politischen Establishment angekommen. Allerdings spricht Lula immer noch die Sprache der armen Bevölkerungsmehrheit. Für sie gilt er als einer der Ihren – im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die zumeist traditionell reichen Familien entstammten“.
  • „Urteil über Brasilien“ von Peter Steiniger am 24. Januar 2018 in der jungen welt externer Link, worin hervor gehoben wird: „Vor einer Kammer des regionalen Bundesgerichts in Porto Alegre wird am Mittwoch über die Berufung des Politikers von der Arbeiterpartei PT entschieden, der Brasilien von 2003 bis 2010 regierte. Das Interesse der Öffentlichkeit ist gewaltig, die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm. Richter Sérgio Moro aus Curitiba, von dem Leitmedien zum Star hochstilisiert, hatte Luiz Inácio Lula da Silva am 12. Juli des vergangenen Jahres nach einer Anklage wegen Geldwäsche und Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Baukonzern OAS soll, so geht Moros Erzählung, bei Verträgen mit dem Ölkonzern Petrobras begünstigt worden sein, der frühere Staatschef als Prämie ein für ihn aufgemöbeltes dreiteiliges Appartement in Guarujá an der Küste des Bundesstaates São Paulo kassiert haben. Eine ordentliche Absteige hätte sich Lula wirklich verdient. Dank der von seinen Regierungen ins Leben gerufenen Sozialprogramme konnten Millionen sozial aufsteigen und dem Hunger entkommen. Bildungschancen erhielten auch jene, deren Eltern nicht zu den Privilegierten in einem der Länder mit der größten Ungleichheit zählen. International erwarb sich Brasilien mit einer aktiven, unabhängigen Diplomatie Respekt. Es war einmal. 2016 wurde Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff durch ein Komplott gestürzt, die korrupten Vertreter der reichen Eliten, das Herrenhaus, wie man hier sagt, übernahmen das Ruder. Mit dem Burgfrieden der Klassen, an den die PT-Lenker lange glauben wollten, ist es längst vorbei. Moros Urteil ist das viele Papier nicht wert, auf dem es steht. Kriminelle Handlungen werden Lula nicht nachgewiesen, das Triplex-Appartement hat den Besitzer nie gewechselt. Die Ermittlungen kennzeichnete eine Reihe schwerer Rechtsbrüche, die aus den oberen Etagen der Justiz zuverlässig gedeckt wurden, wo die politischen Strippen gezogen werden. Dass Lula ausgeschaltet werden soll, ist der logische Endpunkt des parlamentarischen Putsches“.
  • „Nota da Frente Povo Sem Medo: “Em defesa da democracia e do direito de Lula ser candidato”“ am 18. Januar 2018 bei Esquerda Online externer Link ist der Aufruf des Bündnisses zur Verteidigung des Expräsidenten und seines Rechtes auf Kandidatur. Die „Front Volk ohne Angst“ ist eines von zwei Bündnissen, die sich nach dem „legalen Putsch“ gegen die Regierung Rousseff gebildet haben – das linkere der beiden (das andere, die „Volksfront“ ist im wesentlichen ein Bündnis der PT und ihrer Vorfeldorganisationen) – wobei es wichtig ist zu beachten, dass in diesem linkeren Bündnis auch zahlreiche Organisationen vertreten sind, die keineswegs zur Wahl Lulas aufrufen (wie etwa der alternative Gewerkschaftsbund Intersindical) – wohl aber dessen Recht auf Kandidatur verteidigen.
  • „Lula e Dilma: insuficientes ou desastrosos?“ von Plínio Arruda Sampaio Jr. Am 17. Januar 2018 beim Correio da Cidadania externer Link ist ein Beitrag, der hier stellvertretend steht für jene linke Strömungen (minoritär, aber nicht marginal), die darauf beharren, dass die Politik der beiden PT-Regierungen sozusagen an sich selbst gescheitert sei, an ihrer Nähe zum, ihrer aktiven Beteiligung am neoliberalen Kapitalismus und ihrer Ferne zu Volksbewegungen und der Linken. In dem Beitrag wird auch darauf verwiesen, dass der Widerstand der PT gegen ihre früheren Partner (die es in örtlichen Koalitionen oft genug noch immer sind) sich völlig an die vorgegebenen Regeln halte.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=127033
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